«Die Gendermedizin birgt enormes Potenzial für Innovation»

Themenschwerpunkt
Ausgabe
2022/07
DOI:
https://doi.org/10.4414/phc-d.2022.10539
Prim Hosp Care Allg Inn Med. 2022;22(07):220-221

Publiziert am 06.07.2022

Die Fachspezialistin Cathérine Gebhard spricht im Interview darüber, wie der CAS für geschlechterspezifische Medizin zustande gekommen ist und wie die Pandemiejahre vor Augen geführt haben, wie viel Unwissen um die Geschlechterunterschiede noch besteht.

Interview mit Prof. Dr. med. Dr. sc. nat. Cathérine Gebhard, Mitbegründerin des CAS in Sex- and Gender-Specific Medicine und Vorsitzende der Programmleitung von 2019–2022

Zur Person:

Prof. Dr. med. Dr. sc. nat. Cathérine Gebhard, war von 2016–2022 Oberärztin an der Klinik für Nuklearmedizin am Universitätsspital Zürich, wo sie im Rahmen ihrer SNF-Professur zu altersbedingten Veränderungen des weiblichen Herzens forschte. Seit Juni 2022 ist Cathérine Gebhard Leitende Ärztin an der Klinik für Kardiologie des Inselspital Bern. Die Fachärztin für Kardiologie und Allgemeine Innere Medizin studierte Humanmedizin an der Universität Tübingen (Deutschland) und der University of Western Ontario (Kanada).
Frau Gebhard, weshalb braucht es eine CAS-Weiter­bildung in Sex- and Gender-Specific Medicine und wie kam das Angebot zustande?
Die Gendermedizin gibt es schon lange, aber sie führt ein Nischendasein und erhält leider keinen Einzug in die Klinik. Es gibt jedes Jahr neue Daten und Publikationen, die die Unterschiede zwischen Männern und Frauen in der Medizin aufzeigen und die Problematik, wenn man diese nicht berücksichtigt. Das Problem ist, dass es im Alltag einfach nicht umgesetzt wird. An den Universitäten wird bereits an den Curricula gearbeitet, aber wir erreichen nicht diejenigen im Gesundheitswesen, die das Studium bereits abgeschlossen haben. Und da haben wir uns Gedanken gemacht, was wir tun könnten, um eine Weiter- oder Fortbildung in der Schweiz zu gestalten. So entstand die Idee zwischen den Universitäten Bern und Zürich: Wir wollten eine Struktur schaffen, die möglichst viele erreicht, nicht nur Ärzt:innen, sondern alle, die im Gesundheitswesen arbeiten – inklusive der Forschenden. Dafür ist dieser CAS-Kurs ein gutes Medium.
Zu welchem Zeitpunkt war das?
Das war noch vor der Pandemie. Prof. Dr. Daniel Candinas der Uni Bern und Prof. Dr. Beatrice Beck Schimmer der Uni Zürich haben sich zusammengeschlossen und wir haben das Programm innerhalt eines Jahres erstellt. Leider kam die Pandemie dann dazwischen; der CAS wäre für 2020 geplant gewesen, wir mussten ihn dann auf das Folgejahr verschieben. Im Jahr 2021 mussten wir zudem von einem Präsenzkurs auf ein Online-Format umstellen, , um eine Vernetzung innerhalb der Schweiz und international zu schaffen. Momentan wird der CAS auch noch überwiegend online mit einzelnen Präsenzveranstaltungen durchgeführt.
Wie verlief der erste Durchgang des Kurses? 
Das erste Jahr ist erfolgreich verlaufen, trotz Pandemie und diversen technischen Hürden. Wir hatten ein diverses Publikum aus vielen Bereichen wie der Physiotherapie, Zahnmedizin, Kardiologie und Psychiatrie – so wie wir uns das gewünscht hatten. Es war eine bunte Gruppe, was sehr schön war und wodurch wir gemerkt haben, wie wichtig das Thema Gendermedizin in allen Bereichen ist. Wir erhoffen uns, dass die ersten Absolvent:innen dann auch dafür sorgen, dass das Thema weiter in Umlauf kommt. Im Februar 2022 feierten wir den Abschluss der ersten Kohorte und jetzt sind wir bereits beim zweiten Durchgang.
Was wird im CAS inhaltlich behandelt?
Wir möchten ein möglichst breites Fachpublikum ansprechen. Deshalb haben wir den Kurs so designed, dass man nicht den ganzen CAS belegen muss, was sehr zeitaufwendig ist. Es sind je zwei Tage pro Modul, was gerade für Ärzt:innen, besonders für die Niedergelassenen, die ihre Praxis schliessen müssen, schwierig sein kann. Deshalb haben wir festgelegt, dass es zum einen Pflichtmodule und zum anderen freiwillige Module gibt, so dass man sich das Programm selbst zusammenstellen kann. Es besteht die Möglichkeit, nur ein Modul zu besuchen z.B. das Primary-Care-Modul, das für Hausärzt:innen gedacht ist, in dem Themen besprochen werden, die für die Primärversorgung wichtig sind und Public-Health-Themen mitabdeckt. Wir bieten zudem Module für die ­Bereiche Kardiologie, muskuloskelettale Erkrankungen sowie Rheumatologie und Forschung. In letzterem wird zum Beispiel die Problematik von unzureichender Repräsentation von Frauen bei klinischen Studien behandelt. Ergänzt wird das Curriculum durch Neurologie, Psychiatrie, Onkologie, Endokrinologie und Metabolismus.
Wenn man einen Überblick über die Gendermedizin erhalten möchte, welches Modul sollte man besuchen?
Wir haben viele Teilnehmende, die ausschliesslich das Modul «Einführung in die geschlechtsspezifische Medizin» besuchen. Darin wird generell in die Gendermedizin eingeführt mit den Definitionen oder dem Unterschied zwischen Sex und Gender – Biologie versus Soziokulturelles. Ausserdem werden Transgender und Genderdysphorie behandelt, Themen, die auch ganz gross in den Medien diskutiert werden. Also Gender in der gesamten Bandbreite, sowie Men’s Health- und Women’s Health-Themen.
Also ein breites Spektrum. Inwieweit konnten Sie hierfür auf einheimische Spezialist:innen und Fachexpert:innen setzen?
Wir versuchen, alles abzudecken. Es war teilweise aber nicht einfach, Dozierende in der Schweiz zu finden, damit wir auch hier das Thema verankern können. Wir mussten teils auf internationale Dozierende zurückgreifen, wir hoffen aber, dass es mit jedem CAS und jedem Jahrgang mehr Expert:innen in der Schweiz gibt, die dann übernehmen können. Wir haben diesen Effekt bereits jetzt gemerkt; die Hirslanden Academy hat eine Fortbildungsverabstaltung zur Gendermedizin organisiert, bei der sehr viele Absolvent:innen des CAS präsentiert haben. Es war sehr schön zu sehen, dass es gleich fruchtet und so ist es auch gedacht, dass man in seiner Umgebung, in seinem Fachbereich, die Kolleg:innen informiert und vor Ort versucht, das Gelernte umzusetzen. Das wäre das übergeordnete Ziel des CAS.
Für wen ist Ihre Weiterbildung besonders geeignet?
Wir wollen vor allem auch diejenigen ansprechen, die mit den Themen am meisten konfrontiert sind – die Hausärzt:innen. In den Spezialfächern an den Kliniken erhält man ein vorsortiertes Patientengut und natürlich ist das Thema in der Kardiologie wichtig, aber gerade Prävention ist ein grosses Thema in der Gendermedizin. Wenn es um Frauengesundheit geht, sehen Frauen entweder ihre Gynäkologin bzw. ihren Gynäkologen oder ihre Hausärztin bzw. ihren Hausarzt. Für uns wäre es deshalb wichtig, gerade diese Kolleg:innen zu erreichen. Genau damit tun wir uns leider schwer, denn wie gesagt, ist es zeitlich eine ­enorme Belastung und die Praxis muss geschlossen werden. Aber die Personen, die es am meisten betrifft, und wo ich mir am meisten wünschen würde, dass sie teilnehmen, sind in der Tat die niedergelassenen Kolleg:innen.
Welche Ziele verknüpfen Sie mit dem Gendermedizin-Lehrgang?
Mein Wunsch ist es, dass das erworbene Wissen so gut und praktisch ist, dass man es im Alltag gleich anwenden kann. Natürlich fehlen noch Daten und es gibt in den meisten Fachgesellschaften noch keine geschlechtsspezifischen Leitlinien, aber dass zumindest die Sensibilisierung steigt und Wissen etwa zu Medikamentenüberdosierungen bei Frauen weit verbreitet wird. Uns fehlen Daten, da viele Frauen bei vielen klinischen Studien unterrepräsentiert sind . Psychiatrische Probleme bei Männern oder auch das Wissen um Kommunikationsprobleme, um geschlechtsspezifische Kommunikation "Was sagen Männer und Frauen nicht?" und umgekehrt. Und wo haben wir Schwierigkeiten, die richtige Diagnose zu stellen. All diese Dinge, dafür sensibilisiert zu sein und das, was man weiss, im Alltag umzusetzen, das liegt mir sehr am Herzen,. Es ist derzeit oft noch nicht möglich zu sagen, ob Therapien spezifisch für Frauen oder Männer sind. Wichtig ist aber, daran zu denken, dass sich das Geschlecht auch auf die Verteilung und den Abbau von Medikamenten auswirken kann, und, dass das Risiko von Nebenwirkungen aufgrund einer Überdosierung bei einer 80-jährigen Frau, die 40 kg wiegt, eben grösser ist als bei einem jüngeren Mann mit 80 kg.
Was sollten Allgemeininternist:innen in Bezug auf Gendermedizin unbedingt wissen? 
Sie sollten gerade im Alltag geschlechtsspezifischen Problemen gegenüber sensibilisiert sein. Zum Beispiel, dass Prävention oft zu kurz kommt bei Frauen oder Rehabilitationen öfters von Frauen abgelehnt werden als von Männern. Man sollte die Gründe dafür zumindest explorieren, genauso wie für gewisse Krankheiten, die bei beiden Geschlechtern eher ignoriert werden, da sie als typisch für das andere Geschlecht wahrgenommen werden.
Können Sie Beispiele dazu nennen?
Etwa Depressionen bei Männern: Es sind die Hausärzt:innen, die als erstes in Kontakt mit den Pa­tienten kommen und sie auch am besten kennen, da sie sie oft über viele Jahre betreuen. Depressionen bei Männern werden gerne übersehen, genauso wie die Osteoporose. Sie gilt als eine typische Frauenerkrankung, die aber auch Männer bekommen. Wenn sie fallen, stürzen sie schlimmer als Frauen, brechen sich mehr und die Sterblichkeit ist höher. Umgekehrt sind die Herz-Kreislauf-Erkrankungen bei Frauen ein grosses Thema. Beim Herzinfarkt ist es wichtig, das Risiko möglichst frühzeitig zu erkennen und auch Risikofaktoren zu berücksichtigen, die frauenspezifisch sind oder bei Frauen besonders schwer wiegen. Diese sind zum Beispiel Schwangerschaftskomplikationen, eine frühe Menopause, Stress, Depressionen, Bluthochdruck und Diabetes. Im Grunde alles zu Prävention und Früherkennung bei grösseren Erkrankungen.
Wie sehen Sie die Zukunft der Gendermedizin?
Wir haben einen grossen Sprung gemacht insbesondere in den letzten zwei Jahren. Vermutlich auch, weil die Pandemie eben diese Geschlechterunterschiede hervorgehoben hat und weil Männer eindeutig im Nachteil waren bei der Akuterkrankung. Zudem gibt es schon mehrere Daten, die zeigen, dass Frauen häufiger von Long Covid betroffen sind. Das hat die Sensibilisierung für Geschlechterunterschiede in der Medizin sehr erhöht. Das war auch Thema bei der Frauensession letztes Jahr in Bern zum 50-Jahre-Frauenwahlrecht-Jubiläum. Wenn das so weitergeht und das Thema so in den Medien bleibt, wie es derzeit ist, dann sehe ich eine gute Chance, dass wir hier auf ein gutes Niveau kommen, damit wir Gender Medicine in der universitären Lehre und auch endlich in Kliniken und Praxen verankern können – nach mehreren Jahrzehnten Untätigkeit und Nischendasein.
Wie lautet Ihre persönliche Message zum Thema ­Gendermedizin, die Sie unserer Leserschaft mitgeben möchten?
Die Pandemiejahre haben uns wirklich vor Augen geführt, wie viel Unwissen noch besteht in Bezug auf ­Geschlechterunterschiede. Hätten wir uns schon früher damit beschäftigt, was es bei Infektionen und beim Immunsystem für Unterschiede zwischen Männern und Frauen gibt, so hätten wir erkannt, welche enormen Möglichkeiten existieren, um z.B. Abwehrmechanismen, die bei Frauen besser funktionieren, für die Männer nutzbar zu machen und umgekehrt. Für mich birgt die Gendermedizin enormes Potenzial! Nicht nur, aber auch gerade, was Innovation in der Medizin angeht und das haben wir bisher einfach nicht genutzt.
Zum anderen brauchen wir die Hausärzt:innen, um hier voranzukommen. Denn ohne sie, die ja den ­grössten Kontakt zu Patient:innen haben, können die Universitäten noch so viel lehren, man erreicht sie einfach nicht. Natürlich entsteht Akzeptanz für ein neues Fach nur durch die entsprechende Kenntnis darüber. Ich hoffe, dass wir bei den Leser:innen die Neugierde geweckt haben, mehr über die Gendermedizin zu erfahren.

CAS in geschlechterspezifischer Medizin

Der CAS-Studiengang in geschlechtsspezifischer Medizin ist eine berufsbegleitende universitäre Weiterbildung. Sie richtet sich an Personen mit einem Masterabschluss in Medizin oder einem verwandten Bereich, die ihre Kenntnisse der geschlechtsspezifischen Unterschiede in der Medizin vertiefen wollen, um ihre Arbeit entsprechend der neusten Evidenz zu gestalten.
Dauer: 1 Jahr (optional: 2 Jahre)
Zielgruppe: Ärzteschaft, Pflegefachpersonen sowie Fachpersonen aus verwandten Bereichen und der Pharmaindustrie; ein Abschluss auf Masterebene ist Grundvoraussetzung.
Kosten: 9400 Franken, einzelne Module kosten 960 Franken.
Registrierung unter: www.gender-medicine.ch

Bildnachweis:

zVg / Cathérine Gebhard