Interview mit Dr. phil. Nicole Bachmann, Wissenschaftliche Mitarbeiterin, Institut Soziale Arbeit und Gesundheit, Hochschule für Soziale Arbeit FHNW
Warum Soziale Arbeit und Gesundheitsversorgung stärker zusammenarbeiten müssen
Warum ist es wichtig, über die soziale Lage und die Gesundheitsversorgung von chronisch Kranken zu forschen und zu diskutieren?
Das Thema Soziale Lage und Gesundheit oder Chancengleichheit in der Gesundheit begleitet mich seit bald 30 Jahren in der Forschung und der kantonalen Verwaltung. Die Problematik hat im Verlauf dieser Jahre nicht an Brisanz verloren – ganz im Gegenteil, die gesundheitliche Schere zwischen Arm und Reich geht in der Schweiz weiter auf, was auch COVID-19 deutlich gezeigt hat. Die Bewältigung einer chronischen Krankheit hängt unter anderem von der Balance zwischen Belastungen und Ressourcen ab, die einer Person zur Verfügung stehen.
Was bedeutet dies speziell für Spitalbehandlungen?
Ein wichtiges Ergebnis der SIHOS-Studie ist, dass sozial benachteiligte Spitalpatientinnen und -patienten in der Schweiz häufiger von Multimorbidität betroffen sind als gut situierte Spitalpatientinnen und -patienten. Aufgrund der prekären Lebensumstände belasten sie die Folgen der Erkrankungen zudem ungleich stärker. Bei vielen Menschen mit Migrationshintergrund betrifft dies zum Beispiel die Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes und, als Konsequenz, der Aufenthaltsbewilligung. Gleichzeitig berichten Menschen in prekärer sozialer Lage öfter von der Angst vor Diskriminierung und äussern geringere Erwartungen an die Spitalversorgung. Dies kann dazu führen, dass ihre Lebenssituation nicht adäquat berücksichtigt wird oder dass die Betroffenen selbst sich zu wenig für ihre Bedürfnisse einsetzen. Diese Diskrepanz kann zu einer schlechteren Behandlungsqualität, einem schlechteren Krankheitsverlauf und mehr ungeplanten Rehospitalisationen führen.
Können Sie ein Beispiel geben?
Nehmen wir eine ältere Frau mit geringer Schulbildung, die einer körperlich und psychisch belastenden Arbeit nachgeht und an chronischem Stress leidet, der unter anderem durch ihre prekäre finanzielle Lage verursacht wird. Wenn diese Frau an starken chronischen Rückenschmerzen leidet, die typischerweise mit einer depressiven Verstimmung einhergehen, benötigt sie nicht nur medizinische, sondern auch soziale Begleitung. Durch dieses Zusammenspiel sind erst die Voraussetzungen gegeben, dass sie selbst den nötigen Beitrag leisten kann, um Schmerzen und Depression zu bewältigen oder damit auf möglichst gute Art leben und arbeiten zu können. Die für eine solche Patientin notwendige nahe Zusammenarbeit zwischen Gesundheits- und Sozialsystem ist in der Schweiz bis heute kaum etabliert, was auch mit der Finanzierungslogik zu tun hat.
Was würden Sie verändern, wenn Sie freie Hand hätten?
Wichtig scheint mir, dass im Spital Rahmenbedingungen geschaffen werden, damit Fachpersonen adäquat auf die Bedürfnisse sozial benachteiligter Personen eingehen können. Dazu gehört auch, dass die Finanzierung der Sozialdienste an den Spitälern gesichert ist, inklusive kulturellen Dolmetschens. Um dem von Betroffenen genannten Wunsch nach ambulanter kontinuierlicher Begleitung nachzukommen, bedarf es ausserdem einer guten Zusammenarbeit zwischen medizinischer Grundversorgung und Sozialer Arbeit. Erfolgreich umgesetzt wird dies beispielhaft in Hausarztpraxen, die Sozialarbeitende angestellt haben, wodurch auch soziale Folgeprobleme der chronischen Erkrankungen unmittelbar angegangen werden können. Die Möglichkeit für besonders vulnerable Personen, nach einem Spitalaustritt vorübergehend zu Hause Unterstützung zu bekommen, sollte schliesslich nicht mehr davon abhängig sein, wo man wohnt oder ob man sich eine Zusatzversicherung leisten kann.