Risiken für die Patientensicherheit inszenieren, gemeinsam danach suchen, das Situationsbewusstsein trainieren

Der Room of Horrors für Haus- und Kinderarztpraxen

Arbeitsalltag
Ausgabe
2023/02
DOI:
https://doi.org/10.4414/phc-d.2023.10507
Prim Hosp Care Allg Inn Med. 2023;23(02):27-29

Affiliations
a Stiftung Patientensicherheit Schweiz, Zürich, Schweiz; b Institute of Social and Preventive Medicine (ISPM), Universität Bern, Bern, Schweiz

Publiziert am 08.02.2023

Beim Training in einem Room of Horrors können Ärztinnen, Ärzte und MPA in ihrer Praxis Fehler und Risiken für eine sichere Patientenversorgung aufdecken und so die Aufmerksamkeit für Patientensicherheitsrisiken trainieren. Die ersten Arztpraxen haben das interaktive Training ­absolviert und berichten positiv darüber.

Risiken für die Patientensicherheit machen auch vor Praxistüren nicht halt. Patientinnen und Patienten begegnen ihnen in allen Bereichen des Versorgungssystems. Viele dieser Risiken sind gut bekannt und bleiben in der Hektik des Alltags dennoch häufig unbemerkt (z.B. Vertauschen von Medikamenten, nicht aktualisierte Dokumente, fehlende Überwachung von Patienten nach einer Massnahme). Sie werden deshalb nicht immer rechtzeitig abgewandt und können in der Folge zu mitunter schwerwiegenden Konsequenzen für die betroffenen Patientinnen und Patienten führen [1, 2]. Dem kann ein geschärftes Bewusstsein für die in einer Situation gegenwärtigen Risiken entgegenwirken. Ein Beispiel: Eine Ärztin mit hohem Situationsbewusstsein [3] würde noch rechtzeitig erkennen, wenn für eine Impfung nur die Spritze mit der Trägerlösung bereit liegt und die Ampulle mit dem Wirkstoff nicht aus der Verpackung geholt wurde. Sie nimmt die Objekte in der Situation wahr (vorbereitete Spritze, Ampulle), kennt ihre Bedeutung (Trägerlösung, Wirkstoff) und hat die fehlerhafte Entwicklung antizipiert (Injektion ohne Wirkstoff).
Der sogenannte Room of Horrors bietet auf einfache und spielerische Art und Weise die Möglichkeit, das Bewusstsein für Risiken zu schärfen, gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen Wissen über mögliche Fehler zu erarbeiten und so für die Patientensicherheit zu sensibilisieren.

Und so funktionierts

Der Room of Horrors ist eine Simulations- und Trainingsmethode, die mit geringen Mitteln in der realen Arbeitsumgebung zum Einsatz kommt. In einem vorbereiteten Raum oder Bereich in einer Praxis, einem Spital oder Pflegeheim werden Fehler und Risiken für eine sichere Patientenversorgung installiert. Hierzu dienen einerseits fiktive Patientenfälle. Andererseits werden Gefahren anhand von Materialien und Gegebenheiten im Raum inszeniert. Die Fachpersonen haben dann die Aufgabe, innerhalb einer vorgegebenen Zeit die im Raum versteckten Gefahren zu identifizieren. Im Anschluss findet ein Debriefing statt, bei dem die versteckten Fehler aufgelöst werden und Zeit für eine vertiefte Diskussion besteht.
Der Room of Horrors ist eine international etablierte Trainingsmethode, die vorwiegend im stationären Bereich und häufig im Kontext der Ausbildung genutzt wird [4, 5]. In der Schweiz wurde die Methode bereits erfolgreich in Spitälern angewandt [6, 7]. Neu hat Patientensicherheit Schweiz das Konzept auf Arztpraxen übertragen und in einer Pilotanwendung evaluiert.

Stimmen zum Room of Horrors

«Der Room of Horrors hat unser Team neu für die Patientensicherheit sensibilisiert. Seit wir bei uns in der Praxis gemeinsam nach Fehlern und Risiken gesucht haben, steigen die CIRS-Meldungen wieder an.»
Hausarzt in einer Gruppenpraxis, Teilnehmer
«Es war für mich eine tolle Erfahrung, die frischen Wind in die Praxis gebracht hat. Die Motivation der Kolleginnen und Kollegen blieb während der gesamten Zeit der Fehlersuche und des Debriefings hoch.»
MPA in einer Grundversorgerpraxis, Mitglied im Vorbereitungsteam
«Das Konzept macht Spass, schärft die Fehlerkultur und fördert das Bewusstsein für praxisalltägliche Fallstricke. Ausserdem ergeben sich durch die Arbeit in interprofessionellen Kleingruppen spannende Diskussionspunkte.»
Arzt in einer Gruppenpraxis, Organisator

Materialien zur Durchführung

Für die Umsetzung eines praxisambulanten Room of Horrors wurden sechs Patientenfälle für Haus- und Kinderarztpraxen entwickelt und dazugehörige Materialen erarbeitet (z.B. Beschreibung Fallgeschichte, dazu passende Krankenakte, Medikationsliste, Arztbrief etc.), mit Hilfe derer vorbereitete Fehler und Gefahren inszeniert werden können. Diese wurden entlang der WHO-Klassifikation kategorisiert und repräsentieren vielfältige Fehlerbereiche [7]: Organisation (z.B. fehlende Zeitfenster für Notfalltermine), Dokumentation (z.B. Medikationsliste nicht aktuell), Medikation (z.B. Berechnungsfehler Dosierung), Klinische Prozesse (z.B. Verwechslung Impfpräparat), Nosokomialinfektion (z.B. Verbandwechsel ohne sterile Handschuhe), Patientenunfall (z.B. Sturz), Ausrüstung (z.B. Notfallausrüstung unvollständig). Die Fehler beziehen sich auf unterschiedliche Phasen der Patientenbetreuung und sind entsprechend unterschiedlichen Praxisräumen zugeordnet (Empfang, Sprechzimmer, Apotheke, Labor).
Die erstellten Patientenfälle, die dazugehörigen Materialien sowie ein Leitfaden für die Durchführung des Debriefings sind in einem Manual zusammengefügt, das dazu anleitet, einen Room of Horrors in der eigenen Praxis vorzubereiten und mit dem Praxisteam durchzuführen (Abb. 1).
Abbildung 1: Das kostenfreie Manual zum Room of Horrors in Arztpraxen ermöglicht allen Interessierten eine selbständige Durchführung in der eigenen Praxis und stellt alle dafür erforderlichen Informationen zur Verfügung: www.patientensicherheit.ch/room-of-horrors

Ergebnisse der Evaluation

Im Zeitraum zwischen Mai und September 2021 haben 56 Fachpersonen den Room of Horrors «Arztpraxis» absolviert und beurteilt (15 Ärztinnen/Ärzte, 28 MPA/MPK, sechs Personen anderer Berufsgruppen; davon elf Personen in Ausbildung). Die Pilotierung wurde in zwei Hausarzt- und drei Kinderarztpraxen sowie einem interdisziplinären Ausbildungszentrum durchgeführt. Die Pilotbetriebe haben den Room of Horrors mit Hilfe der bereitgestellten Materialien selbständig eingerichtet und mit ihren Mitarbeitenden durchgeführt. Sie konnten frei wählen, welche Patientenfälle sie nutzen möchten. Mit Ausnahme einer Person besuchten alle Teilnehmenden den Room of Horrors in interprofessionell zusammengesetzten Gruppen. Die Datenerhebung erfolgte auf zwei Wegen: Zum einen notierten alle Teilnehmenden die Fehler und Gefahren, die sie beim Besuch des Room of Horrors entdeckt hatten und beantworteten im Anschluss an das Debriefing einen Evaluationsbogen. Zum anderen gaben die Projektleitenden in den teilnehmenden Betrieben mit Hilfe eines Fragebogens Rückmeldung.

Identifizierte Fehler und Risiken

Die sechs Patientenfälle (Szenarien) erhielten zwischen 5 und 12 Fehler und Risiken, von denen die Teilnehmenden zwischen 30% und 46% pro Szenario identifizierten. Nicht alle Fehler wurden dabei gleich häufig entdeckt. Ein Beispiel: In 65% der Fälle wurde bemerkt, dass der Befund einer Patientin mit ähnlichem Namen fälschlicherweise in der Krankenakte der Szenario-Patientin abgelegt wurde, aber nur eine Person hat erkannt, dass bei diesem Befund ein auffälliger Laborwert vorliegt, der einer Handlung bedarf. Auch wurde nur von einer Person die unklare Sprachkompetenz eines Szenario-Patienten als Risiko benannt. Beispiele für Fehler, die von der überwiegenden Zahl der Teilnehmenden identifiziert wurden, sind ein nicht aktualisierter Medikationsplan, die falsche Dosierung bei einer durchgeführten Desensibilisierung oder das abgelaufene Verfallsdatum eines Medikaments. Ein klarer Zusammenhang zwischen der Art der Fehler und Gefahren mit der Häufigkeit des Entdeckens liess sich nicht beobachten.

Beurteilung der Teilnehmenden

Die Teilnehmenden haben den Room of Horrors durchweg sehr positiv erlebt. Alle Antworten lagen im positiven Bereich der Antwortskala. So wurden die versteckten Fehler und Gefahren von allen Teilnehmenden als äusserst oder eher relevant beurteilt, und alle gaben an, dass sie vom Austausch mit den anderen Teilnehmenden profitiert haben. Auch beschrieben alle das Training als äusserst oder eher lehrreich. Auch die übergeordnete Beurteilung durch die Frage, ob die Teilnehmenden den Room of Horrors ihren Kolleginnen und Kollegen weiterempfehlen würden, fiel sehr positiv aus: 91% würden ihn weiterempfehlen, 9% eher.
Auffallend ist die Beurteilung des Schwierigkeitsgrades der Fehlersuche. Sechzig Prozent der Teilnehmenden beurteilten die Fehlersuche als eher einfach. Dies, obwohl durchschnittlich weniger als die Hälfte der inszenierten Fehler und Risiken tatsächlich identifiziert wurde. Diese Divergenz zwischen aufgedeckten Fehlern und wahrgenommener Schwierigkeit konnte bereits bei früheren Studien im Spitalkontext beobachtet werden [7]. Die Wahrnehmung, die Aufgabe sei leicht, könnte sich durch den spielerischen Charakter des Trainings erklären. Auch könnte sie darin begründet liegen, dass die Teilnehmenden durch die gezielte und intensive Suche zusätzlich «echte» Gefahren in ihrer Praxis erkannt haben, die gar nicht zur Inszenierung gehörten. Dadurch haben sie insgesamt eine grössere Anzahl Risiken beobachtet, als in die Auswertung eingegangen ist.

Beurteilung der Verantwortlichen vor Ort

Nicht nur das Feedback der teilnehmenden Ärztinnen, Ärzte und MPA fiel positiv aus. Auch die Verantwortlichen, die den Room of Horrors in den Praxen vorbereitet und durchgeführt haben, waren sehr positiv in ihren Rückmeldungen. Alle fanden es leicht, die Teilnehmenden zu motivieren. Die Neugierde der Kolleginnen und Kollegen war gross. Das Manual und die Materialien zum Room of Horrors wurden als hilfreich beurteilt, einschliesslich des Leitfadens für das Debriefing. Die Umsetzung der Patientenszenarien wurde als gut machbar beschrieben. Durchweg positiv beurteilten die Projektleitenden die Durchführung in berufsgemischten Gruppen. Dieses Resultat steht in Einklang mit den Antworten der Teilnehmenden, die vom Austausch untereinander profitierten. Zwei Praxen dachten kurz nach der Durchführung bereits über eine Wiederholung nach, da die Resonanz der Mitarbeitenden so positiv war und Letztere darum gebeten hatten.

Fazit

Mit der Übertragung des Room of Horrors auf die ambulante Praxis hat das Projekt Neuland betreten, und dies mit Erfolg. Ärztinnen und Ärzte und MPA bewerten das Simulationstraining als sehr positiv und empfehlenswert und bestätigen damit die Erfahrungen aus dem stationären Kontext. Es steht nun ein praxistaugliches und erprobtes Instrument zur Verfügung, um das Bewusstsein für Patientensicherheitsrisiken bei ambulant tätigen Fachpersonen zu schärfen. Diese einfache und spielerische Form des Simulationstrainings ermöglicht gemeinsames Lernen im Praxisteam zu einem wichtigen und durchaus ernsten Thema, jedoch ohne den Zeigefinger zu erheben.
Unser Dank gilt allen Ärztinnen, Ärzten und MPA, die zur Erarbeitung der Materialien beigetragen haben. Ebenso möchten wir uns bei allen Teilnehmenden an der Pilotierung für ihr Engagement und ihren Pioniergeist herzlich bedanken.
Dr. Lea Brühwiler
Wissenschaftliche Mitarbeiterin
Stiftung Patientensicherheit Schweiz
Asylstrasse 77
CH-8032 Zürich
1 Gehring K, Schwappach D. Die Patientensicherheit in der Grundversorgung - eine Erhebung in Schweizer Hausarztpraxen. Ther Umsch. 2012 Jun;69(6):353–7.
2 Geraedts M, Krause S, Schneider M, Ortwein A, Leinert J, de Cruppé W. Patient safety in ambulatory care from the patient’s perspective: a retrospective, representative telephone survey. BMJ Open. 2020 Feb;10(2):e034617.
3 Schulz CM, Endsley MR, Kochs EF, Gelb AW, Wagner KJ. Situation awareness in anesthesia: concept and research. Anesthesiology. 2013 Mar;118(3):729–42.
4 Farnan JM, Gaffney S, Poston JT, Slawinski K, Cappaert M, Kamin B, et al. Patient safety room of horrors: a novel method to assess medical students and entering residents’ ability to identify hazards of hospitalisation. BMJ Qual Saf. 2016 Mar;25(3):153–8.
5 Gregory A, Hogg G, Ker J. Innovative teaching in situational awareness. Clin Teach. 2015 Oct;12(5):331–5.
6 Käppeli A. Patientensicherheit – Lustvoll lernen im «Raum des Horrors». Competence. 2018;1–2.
7 Zimmermann C, Fridrich A, Schwappach DL. Training Situational Awareness for Patient Safety in a Room of Horrors: An Evaluation of a Low-Fidelity Simulation Method. J Patient Saf. 2021 Dec;17(8):e1026–33.
8 World Health Organization & WHO Patient Safety. Conceptual framework for the international classification for patient safety version 1.1. Final technical report January 2009. World Health Organization; 2010.