Ein Plädoyer für den Erhalt des Mitgefühls im Gesundheitswesen

Compassion

Reflexionen / Réflexions
Ausgabe
2023/02
DOI:
https://doi.org/10.4414/phc-d.2023.10509
Prim Hosp Care Allg Inn Med. 2023;23(02):32-34

Affiliations
Universitäres Zentrum für Palliative Care, Inselspital, Universitätsspital Bern

Publiziert am 08.02.2023

Ein Plädoyer für den Erhalt des Mitgefühls im Gesundheitswesen

Was, wenn wir viel Zeit hätten, unseren Patientinnen und Patienten sowie ihren Angehörigen zuzuhören? Gäbe es dann automatisch mehr compassion, mehr Mitgefühl? Oder braucht es eine neue (und gleichzeitig sehr alte) Ausrichtung in unserem zunehmend biotechnologisch und betriebswirtschaftlich gesteuerten Gesundheitswesen für mehr aktives Mitgefühl? Klar ist: Künstliche Intelligenz und Digitalisierung werden wesentliche Aufgaben in Diagnostik und Therapie in der Zukunft übernehmen. Die menschliche Nähe und der herzliche Beistand sind jedoch jahrhundertealte Essenzen der Medizin, die der Gerätepark nicht liefern kann. Aus Sicht der Patientinnen, Patienten und Angehörigen hat das Mitgefühl oder die mitfühlende Behandlung (compassionate care) einen sehr hohen Stellenwert. In enger thematischer Verbindung stehen patient- oder person-centered care [1].
Dieser Artikel möchte das Konzept der compassion aus dem Blickwinkel der Kommunikation im Gesundheitswesen beleuchten und Anregungen für die Umsetzung in der klinischen Praxis geben.

Mitgefühl als Kompass?

Compassion – oder auf Deutsch «aktives Mitgefühl» – ist in menschlichen Beziehungen seit Jahrhunderten gleichermassen erwünscht, wenn auch oftmals unerreicht. Unabhängig von Philosophie oder Religion wird das Mitgefühl für andere Menschen als eine der wichtigsten Grundlagen für ein respektvolles und rücksichtsvolles Miteinander angesehen. Denker von Seneca und Rousseau bis zum Dalai Lama propagieren das Mitgefühl als Kompass für das Zusammenleben.
Auch im Gesundheitswesen ist compassion ein bekanntes Konzept und wurde insbesondere im Bereich der Pflege in den letzten Jahrzehnten immer wieder als Grundkompetenz für den eigenen Beruf definiert [12]. Es gibt verschiedene Definitionen für compassion in health care. Jene von Perez-Bret et al. [2] basiert auf einer systematischen Literatur-Review und beschreibt compassion als «the sensitivity shown in order to understand another person’s suffering, combined with a willingness to help and to promote the wellbeing of that person, in order to find a solution to their situation». Sinclair et al. [3] unterstreichen in ihrer Definition ebenfalls die Handlungskomponente als wesentliches Merkmal des «aktiven Mitgefühls», welches über die Empathie hinausgeht. Beim aktiven Mitgefühl geht es folglich um eine Handlung, die aus dem Versuch erfolgt, das Leiden der anderen Person zu verstehen oder sich einzufühlen. Nicht dasitzen und mit-leiden, sondern gemeinsam Handlungsoptionen erarbeiten, ist die Leitidee.

Orientierung im praktischen Alltag

Für einen Einsatz des aktiven Mitgefühls als Kernkompetenz in der Kommunikation im Gesundheitswesen braucht es drei gleichwertige Aspekte der compassion, die miteinander in enger Beziehung stehen. Die Grundpfeiler des nachfolgend vorgestellten Triangle of Compassion in Health Care Communication sind:

Die grundlegenden Überlegungen für dieses Dreieck sind folgende:

Was sagt die Literatur?

Compassion with me

Es gibt keinen Zweifel, dass Fachpersonen gesünder bleiben, weniger Burnouts erleiden, weniger Tendenzen zum Zynismus oder Narzissmus vorweisen, wenn sie ein gutes Mass an Selbstfürsorge und eine Art liebevolle Selbstrelativierung praktizieren. Sich eigene Unzulänglichkeiten zu entschuldigen und vor allem zu erklären, Reflexion der eigenen Belastungsgrenzen und Verständnis dafür zu entwickeln, und auch einmal «Nein» sagen zu können – sowohl in Bezug auf die eigene Dauerverfügbarkeit wie auch zum eigenen Perfektionsanspruch – ist im eigentlichen Sinn professionell. Die positiven Folgen für die Interaktion mit Patientinnen und Patienten (sowie deren Angehörigen) sind messbar und überzeugend [5]. Beispielsweise konnten die Effekte von mindfulness und Meditation auf die Aufmerksamkeit und emotionale Regulation auch neurophysiologisch klar nachgewiesen werden [6]. Das Ausmass an Selbstfürsorge korreliert mit der Zufriedenheit bezüglich der eigenen beruflichen Arbeit [7].

Compassion with you

Aufmerksamkeit und Neugier öffnen die Wege zum besseren Verständnis der Welt des Gegenübers. Wer ist dieser Mensch? Und nicht nur in (medizinischer) Abstraktion «Welche medizinische Diagnose hat diese Person? Wo kommt die Person lebensgeschichtlich her, was hat sie erlebt, welche Stärken und welche Schwächen sieht sie, wie stabil ist das Selbstbild? Die andere Person mit ihrer Geschichte steht im Zentrum der Exploration, es geht um patient-centered care. Dabei ist die Gestaltung der Beziehung und deren Qualität ein zentraler Aspekt [5]. Das Resultat der compassion with you sollte sein, dass sich diese Person verstanden fühlt und dass in der Beziehung eine Atmosphäre des zumindest beginnenden Vertrauens herrscht. Beide Ziele sollten auch erreichbar sein, wenn die Welt des Erlebens, die Meinungen und das Verhalten des Gegenübers weit weg vom eigenen Empfinden zu sein scheinen. Es geht um den Entwurf einer gemeinsamen Wirklichkeit [8] oder auch einer Art «Passung», wie sie in der Psychotherapie als Phänomen beschrieben ist [9]: Eine tragfähige Arbeitsbeziehung kann etabliert werden. Idealerweise fühlt sich das Gegenüber gehört und verstanden [10].

Compassion and do

Die Idee, durch einen gemeinsam erstellten und auf Augenhöhe besprochenen Plan im Umgang mit der nächsten Etappe insbesondere einer chronischen oder fortschreitenden Erkrankung letztendlich viel Zeit und Ressourcen zu sparen, ist nicht neu [11]. Das Konstrukt der compassionate care besteht im Bereich der Pflege seit vielen Jahren. In einer systematischen Literatur-Review von 2019 werden verschiedene Faktoren benannt, die für diese Art von Pflege förderlich oder hinderlich sind[1].
Je besser ein Behandlungsplan an die individuelle Wirklichkeit respektive an die Lebensrealität angepasst ist, desto geringer ist das Risiko, dass bei einer erneuten Krise der Plan nicht funktioniert. Die individuelle Planung als essenzieller Bestandteil des Triangle of Compassion wird jedoch häufig vernachlässigt, insbesondere in einer Gesundheitsindustrie mit standardisierten Algorithmen. Crawford et al. [11] folgern, dass Führungspersonen und das Management in Gesundheitsinstitutionen das Mitgefühl nicht nur gegenüber Patientinnen und Patienten, sondern auch gegenüber den Mitarbeitenden propagieren sollen. Dadurch schliesst sich das Dreieck: Wir kommen wieder zur Erkenntnis, dass nur Mitarbeitende, die die eigenen Energien pflegen, genügend Energie haben, um Mitgefühl einzusetzen und zu nutzen.
Tabelle 1: Gesprächshilfen gemäss dem Triangle of Compassion für die Praxis.
Compassion with meWie steht es in diesem Moment um mein Energie- bzw. Stresslevel?
Habe ich den Kopf ausreichend frei, um der wartenden Person aufmerksam zuzuhören? Wieviel Zeit habe ich dazu?
Was kann ich von mir erwarten für das kommende Gespräch, was nicht?
Wer erwartet mich? Was weiss ich von der Person und ihrer Situation im Voraus?
Habe ich eine solche Situation, die mir nun begegnen wird, selbst schon einmal erlebt, oder wie stelle ich mir eine solche Situation vor, wenn sie mich selbst betreffen würde?
Wie fühle ich mich am Ende der Konsultation?
Compassion with youIch teile Ihnen zu Beginn mit, wieviel Zeit ich für das Gespräch zur Verfügung habe, um Ihr heutiges Anliegen / Ihre aktuelle Situation zu besprechen. Wir werden sehen, was wir besprechen können und wie wir weitergehen wollen.
Was möchten Sie mit mir aktuell besprechen? Was ist das Ziel für Sie beziehungsweise mit welchen Erwartungen kommen Sie heute zu mir?
Was sollte ich von Ihnen und Ihrem Leben wissen, damit ich Sie gut beziehungsweise gemäss Ihren Wünschen beraten und behandeln kann?
Was möchten Sie von mir wissen, damit Sie sich ein Bild Ihrer Situation machen können? Wie kann ich Sie mit meinem Fachwissen am besten unterstützen?
Was sollte ich als Fachperson aus Ihrer Sicht und Erfahrung nicht tun im Kontakt mit Ihnen, worauf sind Sie «allergisch»?
Haben Sie den Eindruck, dass ich Sie und Ihre Situation verstanden habe?
Haben Sie Ideen, was Ihnen in der jetzigen Situation helfen würde? Was haben Sie vielleicht schon versucht mit einigermassen gutem Erfolg?
Wie fühlen Sie sich nun am Ende der Konsultation? Wie war dieses Gespräch für Sie?
Compassion and doBin ich / sind wir gemeinsam ausreichend, um einen Plan zusammenzustellen, der Ihre Situation verbessert? Oder braucht es gemäss Ihnen oder mir noch andere Meinungen bzw. weitere Expertise?
Was bräuchte es aus Ihrer Sicht, um die jetzige Situation zu verbessern? Was gibt Ihnen in der jetzigen Situation Energie/ Kraft?
Welches ist der konkrete nächste Schritt im weiteren Vorgehen? Ist eine weitere Konsultation sinnvoll?
Gibt es noch offene Punkte, die wir bei einem nächsten Mal besprechen sollten? Bräuchte es hierfür eine Vorbereitung, z.B. Vorgespräche mit Angehörigen oder mit anderen Fachpersonen?
Wissen Sie nun, was Sie bei einer kommenden Komplikation / bei dem besprochenen Problem zu Hause selbst machen können?

Aktives Mitgefühl als solide Basis für das (medizinische) Handeln

Compassion, oder auf Deutsch «Mitgefühl», ist mehr als eine Emotion: Es ist das tragende Konstrukt für gegenseitigen Respekt und konkretes Tun, für gegenseitiges Verständnis im Leben als Gemeinschaft – nicht nur im Gesundheitswesen. Selbst ein compassionate life zu leben und in Achtsamkeit die eigenen Batterien immer wieder aufzuladen, ist die Voraussetzung, um anderen zuhören und letztendlich auch Unterstützung anbieten zu können. Beides wird in der heutigen Medizin, aber wohl auch darüber hinaus, allzu oft vernachlässigt: die compassion with me und die compassion with you. Daraus lassen sich Handlungen ableiten, die weitgehend passgenau die Bedürfnisse des anderen treffen und die Selbstbezogenheit in die zweite Reihe stellen.
Natürlich ist dies eine ideale Welt, die hier dargestellt ist. Ein solches «Dreieck des Mitgefühls» braucht Zeit, Reflexionsbereitschaft und kontinuierliche Übung. Grundlage ist stets eine Prise Neugier, die oder den anderen zumindest ein wenig verstehen zu wollen. In jeder Präambel für ein medizinisches Curriculum werden das Mitgefühl und die unbedingte Aufmerksamkeit für die Patientenzentriertheit erwähnt, die somit als Grundlage für das (medizinische) Handeln dienen. In der täglichen Anwendung fällt die compassion dann oftmals dem Zeitdruck und der Ökonomisierung zum Opfer. Eine kleine Revolution könnte jedoch Grossartiges bewirken: mehr compassion und weniger Leiden.
Wir danken insbesondere Seraina Lerch, Andrea Lörwald und Daniel Bauer für ihre anregenden Rückmeldungen zum Compassion-Triangle.
Sibylle Felber, MSc
Wissenschaftliche Mitarbeiterin
Inselspital, Universitätsspital Bern
Universitäres Zentrum für Palliative Care
Freiburgstrasse 46, Haus 4, C201
CH-3010 Bern
1 Tehranineshat B, Rakhshan M, Torabizadeh C, Fararouei M. Compassionate care in healthcare systems: a systematic review. J Natl Med Assoc. 2019 Oct;111(5):546–54.
2 Perez-Bret E, Altisent R, Rocafort J. Definition of compassion in healthcare: a systematic literature review. Int J Palliat Nurs. 2016 Dec;22(12):599–606.
3 Sinclair et al JPSM Sinclair S, McClement S, Raffin-Bouchal S, Hack TF, Hagen NA, McConnell S, et al. Compassion in health care: an empirical model. J Pain Symptom Manage. 2016 Feb;51(2):193–203.
4 Rosenberg MB. Nonviolent communication: A language of compassion. Encinitas (CA): Puddledancer press; 2002.
5 Sinclair S, Kondejewski J, Raffin-Bouchal S, King-Shier KM, Singh P. Can self-compassion promote healthcare provider well-being and compassionate care to others? Results of a systematic review. Appl Psychol Health Well-Being. 2017 Jul;9(2):168–206.
6 Tang YY, Hölzel BK, Posner MI. The neuroscience of mindfulness meditation. Nat Rev Neurosci. 2015 Apr;16(4):213–25.
7 Post SG. Compassionate care enhancement: benefits and outcomes. Int J Pers Cent Med. 2011;1(4):808–13.
8 von Uexküll, T. Körper-Sein, Körper-Haben – Der Hintergrund des Dualismus in der Medizin. Psychother Psychosom Med Psychol. 2001 Mar–Apr;51(3–4):128–33.
9 Mehnert, F, Petrowski, K, Joraschky, P. Therapeut-Patient-Bindungsstruktur-Passung im Kontext von Psychotherapie und Therapieerfolg. Psychother Psychosom Med Psychol. 2007 Feb;57(02), A054.
10 Ingersoll LT, Saeed F, Ladwig S, Norton SA, Anderson W, Alexander SC, et al. Feeling heard and understood in the hospital environment: benchmarking communication quality among patients with advanced cancer before and after palliative care consultation. J Pain Symptom Manage. 2018 Aug;56(2):239–44.
11 Crawford P, Brown B, Kvangarsnes M, Gilbert P. The design of compassionate care. J Clin Nurs. 2014 Dec;23(23-24):3589–99.
12 Halifax, J. G.R.A.C.E. for nurses: Cultivating compassion in nurse/patient interactions. Journal of Nursing Education and Practice. 2013 May;4(1).