Bedarfsanalyse und Rollenentwicklung

Advanced Practice Nurse (APN) in der Grundversorgung

Originalarbeit
Ausgabe
2023/03
DOI:
https://doi.org/10.4414/phc-d.2023.10511
Prim Hosp Care Allg Inn Med. 2023;23(03):94-96

Affiliations
a Departement Pflege und Fachsupport, Pflegeentwicklung, Kantonsspital Graubünden, Chur, Schweiz; b MediZentrum Burgergut Steffisburg AG, Steffisburg, Schweiz; c MediZentrum Täuffelen AG, Täuffelen, Schweiz; d MediZentrum Schüpfen AG, Schüpfen, Schweiz

Publiziert am 08.03.2023

Bedarfsanalyse und Rollenentwicklung

Die Gesundheitsversorgung ist mit einer steigenden Anzahl Patientinnen und Patienten (PAT) herausgefordert, die aufgrund diverser Einschränkungen das Zentrum für interprofessionelle Grundversorgung nicht mehr besuchen können und auf eine Betreuung zu Hause oder im Alters- und Pflegeheim (APH) angewiesen sind.
Diesem wachsenden Bedürfnis stellt sich ein Zentrum für interprofessionelle Grundversorgung (ZiG) und entwickelt anhand der ersten 5 Schritte des PEPPA-Rahmenmodells (Participatory, Evidence-informed, Patient-centered Process for Advanced practice) eine APN-Rolle (Advanced Practice Nurse) zur Gesundheitsversorgung und Betreuung zu Hause oder im APH. Das ZiG hat einen Stamm von ungefähr 13 000 PAT, davon wurden 396 PAT (402 Konsultationen und 316 Stunden verrechenbare Zeit) identifiziert, die von dieser neuen Rolle betreut werden können. Umgerechnet sind das 3% des Kundenstammes, was den Bedarf einer 60%-Stelle ergibt.

Einführung

Die Anzahl PAT, die aufgrund diverser Einschränkungen das ZiG nicht mehr besuchen können und auf eine Betreuung zu Hause oder im APH angewiesen sind, steigt kontinuierlich. Oft sind es nicht übertragbare respektive chronische Krankheiten (z.B. kardiovaskuläre und respiratorische Erkrankungen, Krebs, Diabetes), die bei fehlender Kontinuität und Koordination in der Behandlung für alle Beteiligten sehr zeitaufwändig werden können oder zu vermeidbaren Hospitalisationen führen. Das erfordert wiederkehrende, in der Zeit sehr limitierte Konsultationen vor Ort im ZiG. Um dem Bedürfnis der Patientinnen, Patienten und Angehörigen zu entsprechen, wohnortsnah und ohne lange und beschwerliche Transportwege behandelt zu werden, und den ersichtlichen medizinischen Bedarf zu decken, zog das ZiG in Erwägung, das Team mit einer Pflegefachkraft (APN) zu erweitern. Pflegefachkräfte APN [1] arbeiten in pflegerischen Aktivitäten selbständig und führen bei Bedarf ärztliche Aktivitäten in Delegation oder Supervision aus [2]. In einer Publikation eines ZiG im 2019 ist beispielhaft beschrieben, wie eine Tandembetreuung von HA und APN aussehen kann [3]. Die Pflegefachkraft APN ist fallführend in stabilen Langzeitsituationen; die Hausärztin oder der Hausarzt wird bei neuen, akuten Problemen zugezogen, bleibt aber über den ganzen Verlauf fallverantwortlich. Beim Start der Tandem-Betreuung wird gemeinsam festgelegt, welches Therapieziel erreicht werden soll. Je nach Ausbildungstand und Erfahrung der Pflegefachkraft APN und dem bereits gebildeten Vertrauen zwischen HA und APN entscheidet sie mehr oder weniger selbstständig. Die Kommunikation zwischen HA und APN ist ebenfalls individuell ausgestaltet und richtet sich nach dem Bedürfnis der/des fallverantwortlichen HA. Durch die erweiterte Ausbildung der APN auch im Bereich der Körperuntersuchung und Laborinterpretation können sie bei Veränderung des Allgemeinzustandes Befunde erheben, mit denen die Hausärztin oder der Hausarzt die Therapie anpassen kann, ohne die Patientin oder den Patienten selbst gesehen zu haben.
Das Ziel dieser Arbeit ist, die Entwicklung einer APN-Rolle in einem ZiG anhand der ersten 5 Schritte des Rahmenmodells [4] zu beschreiben.

Methodik

Die Entwicklung der Rolle findet schrittweise und systematisch statt. Die Schritte des PEPPA-Modells sind in Kasten 1 aufgelistet.

Kasten 1: Entwicklung der APN-Rolle anhand des PEPPA-Modells.

Schritt 1: Definition der Zielpopulation.
In diesem Schritt wurde die aktuelle Versorgung bzw. der IST-Zustand der Betreuung dieser Patientenpopulation skizziert und beschrieben.
Schritt 2: Identifikation aller beteiligten Interessensgruppen zur Überprüfung der Versorgungslücken und Vervollständigung der aktuellen Prozesse mit ihren Versorgungslücken.
Die Gespräche mit den Schlüsselpersonen wurden mit Notizen festgehalten und inhaltsanalytisch nach Kuckartz zusammengefasst [5].
Zur Einschätzung des Volumens der Zielpopulation wurden die möglichen Fälle zwischen Oktober 2020 und Februar 2021 identifiziert.
Schritt 3: Analyse der Stärken und Schwächen des aktuellen Versorgungsmodells, um die nötigen Verbesserungen der Betreuung dieser Patientenpopulation zu identifizieren.
Gespräche wurden mit Ärztinnen und Ärzten, medizinischen Praxisassistierenden und der Geschäftsführerin geführt. Zusätzlich fanden Gespräche mit der Pflegedienstleitung des APH, mit dem Heimleiter und den Pflegeteams statt.
Schritt 4: Prioritäten zu den identifizierten Versorgungslücken setzen.
Anhand der Bedürfnisse und Probleme aus Schritt 1–2 sowie der Stärken und Schwächen des aktuellen Versorgungsmodelles (Schritt 3) wurden prioritäre Ziele und Massnahmen eines neuen Versorgungsmodelles definiert.
Schritt 5: Definition des neuen Versorgungsmodells und der Rolle der APN.
Die Grundlagen der APN-Rolle basieren auf dem Hamric-Modell [6] mit den Kernkompetenzen einer Pflegefachkraft APN.
Schritte 6–9: Planen der Implementierungsstrategie (Schritt 6), Einführen und Umsetzen (Schritt 7), Evaluieren (Schritt 8), langfristiges Monitoring (Schritt 9).

Resultate

Die Erarbeitung der Schritte 1 bis 5 aus dem PEPPA-Rahmenmodell fand zwischen September 2020 und Juli 2021 statt. Die Schritte 6–9 werden im Moment durchgeführt. Ihre Beschreibung und Auswertung würde diesen Artikel sprengen.

Schritt 1: Definition der Zielpopulation

Die Zielpopulation sind PAT, die aufgrund diverser Einschränkungen das ZiG nicht mehr besuchen können und auf eine Betreuung zu Hause oder im APH angewiesen sind. In der Schweiz leiden 2,7 Millionen Menschen an einer chronischen Krankheit [7]. Um diesen Herausforderungen zu begegnen, hat die Schweiz 2014 die Förderung der Grundversorgung, insbesondere der Hausarztmedizin, in einem Bundesbeschluss in der Verfassung (Art. 117a) verankert [8]. Durch eine gut funktionierende Grundversorgung und ein Monitoring der chronischen Krankheiten können nachweislich Hospitalisationen vermieden werden [9]. Die Entwicklung der Rolle fand in einem ZiG mit 4 Hausärzten und 2 Hausärztinnen statt. Die Praxis hat einen Patientenstamm von ungefähr 13 000 PAT. Gemessen am Durchschnitt der Schweizer Bevölkerung werden 25% davon (= 3250 PAT) von einer chronischen Erkrankung betroffen sein; davon sind schätzungsweise 300–400 PAT vorwiegend auf eine Betreuung zu Hause oder im APH angewiesen. Eine Ärztin oder ein Arzt der Praxis betreut 140 Bewohner im APH mit einer 1,5-Stunden-Visite 2-mal die Woche. Wegen hohem Arbeitsvolumen und Notfällen gab es oft Verzögerungen der Visitenzeiten, worauf nur die akutesten Fälle visitiert werden konnten. Hausbesuche bei Verschlechterung des Zustandes der PAT wurden bis anhin durch die Angehörigen, die Spitex oder die Pflege im Heim angefordert (Abb. 1) und fanden in der Mittagspause oder nach Feierabend der Ärztinnen und Ärzte statt.
Abbildung 1: Aktuelles Versorgungsmodell.
© Hanna Burkhalter
Zur Bestätigung dieses Bedarfes wurden zwischen Oktober 2020 und Februar 2021 anhand des Praxisinformationssystems retrospektiv 165 PAT identifiziert (hochgerechnet auf 12 Monate: 396 PAT), die eine Behandlung zu Hause oder im APH erhielten. Insgesamt waren dies 402 Hausbesuche von gesamt 316h direkter Patientenleistungen. Diese Daten werden für die Berechnung der Stellenprozente einer Berufsgruppe benötigt (ca. 60%), die den Hausarzt auf Heim- und Hausbesuchen entlasten könnte. Eine Pflegfachkraft APN würde aufgrund der Ausbildung solche Aufgaben übernehmen können.

Schritt 2: Identifikation der Schlüsselpersonen

Als Schlüsselpersonen wurden alle Personen und Dienste identifiziert, die direkt oder indirekt mit der Pflegefachkraft APN in Kontakt kommen. Mit den markierten Schlüsselpersonen (Abb. 2) wurden Gespräche geführt. Die inhaltsanalytische Zusammenfassung ergab folgende thematische Bedürfnisse für die Zielpopulation:
a) Bedarf einer verlässlichen Person, welche die Koordination sowie die Kommunikation mit weiteren Betreuungspersonen übernimmt;
b) Bedarf nach einer unkomplizierten Ansprechperson und zeitnahen Behandlung zu Hause oder im APH;
c) Bedarf nach Vertrauen in die Ansprechperson, dass sie die Selbstbestimmung der PAT fördert und respektiert.
Abbildung 2: Identifikation der Schlüsselpersonen, die direkt oder indirekt von einer neuen Pflegefachkraft APN-Rolle betroffen sind.
© Hanna Burkhalter

Schritt 3: Identifikation des Bedarfes für ein neues Versorgungsmodell

Die Schwächen und Stärken der aktuellen Versorgung wurden tabellarisch gegenübergestellt. Die Stärken des aktuellen Versorgungsmodelles sind folgende: Die Ärztinnen und Ärzte des ZiG haben eine über Jahre gewachsene Vertrauensbeziehung zu den PAT und eine sehr gut funktionierende praxisinterne, interprofessionelle Teamzusammenarbeit. Die Schwächen sind die fehlenden Koordinationsgespräche mit den weiteren ambulanten Gesundheitsdienstleistern und den APH; Missverständnisse in der Gesundheitsversorgung wegen nicht standardisierter Informationsflüsse und nicht institutionalisierter Prozesse (gegenseitig) sowie zeitintensivere Sprechstunden für die Ärztin oder den Arzt durch die Fahrten zu den PAT. Weitere Schwächen aus Sicht der PAT waren die gefühlte Fremdbestimmung durch ungenügende Fachkompetenz und Informationen in den APH sowie eine hohe Hemmschwelle, den Ärztinnen und Ärzten allgemeine Fragen zu chronischen Krankheiten zu stellen.

Schritt 4: Prioritäre Probleme identifizieren und Ziele setzen.

Im vierten Schritt wurde das neue Versorgungsmodell anhand der prioritären Gesundheitsbedürfnisse der Patientenpopulation dargelegt. Anhand der Bedürfnisse aus Schritt 2 und der Stärken und Schwächen aus Schritt 3 wurden drei prioritäre Massnahmen für das neue Versorgungsmodell formuliert.

Thema «Koordåination und Kommunikation»:

Die Pflegefachkraft APN hält ihre Beobachtungen systematisch fest und informiert die Ärztin oder den Arzt gemäss ihrem oder seinem Bedürfnis. Zur Therapiezielerreichung ändert sie selbständig oder in Delegation die Behandlung zu Hause oder im APH. Die APN wirkt somit als Drehscheibe in der Kommunikation und Koordination der involvierten Schlüsselpersonen.

Thema «Unkompliziert eine Ansprechperson haben»:

Die Pflegefachkraft APN besucht regelmässig die PAT, die aufgrund diverser Einschränkungen das ZiG nicht besuchen können, zu Hause oder im APH. Durch diese Regelmässigkeit übernimmt sie auch Koordinationsaufgaben und ist die primäre Ansprechperson für diese PAT und ihre Angehörigen.

Thema «Selbstbestimmung»:

Die Pflegefachkraft APN übernimmt einen Teil der medizinischen Eintrittsvisite mit Anamnese und Status im APH. Erwartungen an die medizinische Betreuung werden erhoben, und Schwerpunkte im Management der chronischen Krankheiten werden im Anschluss gemeinsam mit den PAT und den betreuenden Hausärztinnen und Hausärzten festgelegt.

Schritt 5: Definition des neue Versorgungsmodelles und die Rolle der APN

Im fünften Schritt des PEPPA-Frameworks wurde in dem ZiG eine Einigung über das neue Betreuungsmodell erzielt (Abb. 3). Die Entwicklung neuer Rollen an der Schnittstelle zwischen Pflege und Arzt hat als primäres Ziel, chronisch kranke PAT und ihre Angehörigen in der Selbstbestimmung zu unterstützen. Die regelmässigen institutionalisierten Besuche der APN bei den PAT zu Hause und im APH sollen das Selbstmanagement unterstützen [10] und somit Exazerbationen der chronischen Krankheiten früh erkennen und Hospitalisationen reduzieren.
Abbildung 3: Das erarbeitete neue Versorgungsmodell.
© Hanna Burkhalter

Diskussion

Die Erarbeitung eines neuen Versorgungsmodells mit dem Rahmenmodell zeigte, dass eine APN die passende Fachperson ist, um eine koordinierte und kontinuierliche Betreuung der Zielpopulation zu Hause oder im APH zu gewährleisten. Die Pflegefachkraft APN im ZiG ist keine Konkurrenz zur ärztlichen Profession. Sie ist eine Ergänzung in der Gesundheitsversorgung und orientiert sich an der Entwicklung der Pflege.
Diese Beschreibung zeigt die Entwicklung einer APN-Rolle in einem bestimmten ZiG. Die Resultate sind somit nicht zu verallgemeinern, sollen jedoch andere Gemeinschaftspraxen in einem ähnlichen Prozess unterstützen.
Um die Implementierung und den langfristigen Nutzen/Erfolg einer solchen Rolle zu überprüfen, sind Folgeprojekte mit Evaluation und Anpassungen des Versorgungsmodells nötig und empfohlen (Schritte 6–9).
Hanna Burkhalter
Departement Pflege und Fachsupport
Leitung Pflegeentwicklung
Kantonsspital Graubünden
CH-7000 Chur
1 Mahrer-Imhof R, Eicher M, Frauenfelder F, Oulevey Bachmann A, Ulrich, A. Expertenbericht APN. Bern : Schweizerischer Verein für Pflegewissenschaft (VfP); 2014.
2 Zumstein-Shaha M, von Dach C, Moramba R, Thormann K, Schenk M, Fröhli C, et al. Neue Rollen der nicht-ärztlichen Berufe in der Schweizer Grundversorgung. Prim Hosp Care. 2022;22(4):106–9.
Sailer Schramm M, Brüngger B, Wyss C, Röthlisberger A, Kläy M, Triaca H, et al. Tandembetreuung mit Vorteilen für alle Beteiligten. Prim Hosp Care. 2019;19(2):52–56..
3 Bryant-Lukosius D, Dicenso A. A framework for the introduction and evaluation of advanced practice nursing roles. J Adv Nurs. 2004 Dec;48(5):530–40.
Kuckartz U. Qualitative Inhaltsanalyse. Methoden, Praxis, Computerunterstützung. Beltz Verlagsgruppe; 2016.
4 Hamric AB, Hanson CM, Tracy MF, O’Grady ET. Advanced Practice Nursing: An Integrative Approach. 5th ed. Elsevier / Saunders; 2014.
5 Bundesamt für Gesundheit. Zahlen und Fakten zu nichtübertragbaren Krankheiten. Available from: https://www.bag.admin.ch/bag/de/home/zahlen-und-statistiken/zahlen-fakten-nichtuebertragbare-krankheiten.html (Accessed 05.01.2022).
6 Lombardi F, Graf M. Bundesbeschluss über die medizinische Grundversorgung. Bundesamt für Gesundheit. Available from: https://www.bag.admin.ch/dam/bag/de/dokumente/berufe-gesundheitswesen/medizinalberufe/medizinische-grundversorgung/bundesbeschluss-grundversorgung.pdf.download.pdf/bundesbeschluss-grundversorgung.pdf (Accessed 19.09.2013)
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9 Spichiger E, Zumstein-Shaha M, Schubert M, Herrmann L. Gezielte Entwicklung von Advanced Practice Nurse-Rollen für spezifische Patient(inn)engruppen in einem Schweizer Universitätsspital. Pflege. 2018 Feb;31(1):41–50.
10 Spichiger E, Zumstein-Shaha M, Schubert M, Herrmann L. Gezielte Entwicklung von Advanced Practice Nurse-Rollen für spezifische Patient(inn)engruppen in einem Schweizer Universitätsspital. Pflege. 2018 Feb;31(1):41–50.