Sozialarbeitende unterstützen Patienten und entlasten die Ärzteschaft

Soziale Notlagen und betreuende Angehörige in der Arztpraxis

Arbeitsalltag
Ausgabe
2023/02
DOI:
https://doi.org/10.4414/phc-d.2023.10513
Prim Hosp Care Allg Inn Med. 2023;23(02):30-31

Affiliations
a Institut für Organisation und Sozialmanagement, Departement Soziale Arbeit, Berner Fachhochschule (BFH); b Sozialberatungsbüro SoBü Bärn; c PHS Public Health Services, Mandatsnehmerin des Bundesamts für Gesundheit (BAG); d Universitäres Zentrum für Hausarztmedizin beider Basel; e Pro Senectute Schweiz;
f mediX nordwest

Publiziert am 08.02.2023

Soziale Notlagen sind in der hausärztlichen Sprechstunde keine Seltenheit. Viele Ärztinnen und Ärzte der Grundversorgung sind mit Themen wie sozialer Isolation, überlasteten Angehörigen, prekärer Wohnsituation, finanziellen Schwierigkeiten, Sprachbarrieren oder herausfordernden Aufenthaltsbewilligungen konfrontiert. Der folgende Beitrag zeigt, dass in diesen Situationen die Zusammenarbeit mit Sozialarbeitenden nicht nur die Behandlungsqualität, sondern auch die Arbeitszufriedenheit der Ärzteschaft erhöhen kann.

Einleitung

Anliegen von hausärztlich betreuten Patientinnen und Patienten sind häufig auch ausserhalb der klassisch medizinischen Fragen anzusiedeln. Für diese Konsultationen, die vielfach als «diffus» oder «schwierig» bezeichnet werden, sind soziale Probleme die häufigste Ursache [3, 5]. Zwei Beispiele aus einer Gemeinschaftspraxis in Bern haben sich wie folgt abgespielt:
Herr Simond*, 60 Jahre alt, berichtet im Februar 2021 von einer ausweglosen Situation wegen einer Streichung von Ergänzungsleistungen. Damit er die Tagesaufenthalte seiner demenzbetroffenen Ehefrau finanzieren konnte, musste er zusätzliche Pikettdienste übernehmen. Der entstandene Einkommensanstieg führte dazu, dass dem Ehepaar aufgrund eines zu hohen Einkommens im Oktober 2020 die monatlichen Ergänzungsleistungen gestrichen wurden. Den Tagesaufenthalten seiner demenzbetroffenen Ehefrau, die dem Paar die nötige Stabilität ermöglicht hatten, drohte das Ende. Aus Unkenntnis gegenüber den Ergänzungsleistungen hatte Herr Simond keine Krankheitskosten geltend gemacht.
Herr Damiani* spricht in der Sprechstunde von einer schwierigen sozialen und finanziellen Situation. Bei einem Arbeitsunfall im August 2020 erlitt er ein schweres Schädelhirntrauma mit weiteren Folgeschäden. Wenige Monate vorher war er aus Italien in die Schweiz eingereist und konnte sich als Plattenleger ein gutes Einkommen sichern. Damit konnte er die monatlichen Alimentenzahlungen für seine in der italienischen Heimat lebenden Kinder begleichen und sie in der Toskana regelmässig besuchen. Wegen mangelnden Wissens über das Sozialversicherungsrecht konnte er ausstehende und neue Rechnungen der Krankenkasse nicht begleichen. Durch die steigende Schuldenlast gerät sein Genesungsprozess ins Stocken.
Die beiden Fälle zeigen, dass den Patientinnen und Patienten und ihren Angehörigen strukturelle Barrieren im Weg stehen, die sich auf die gesundheitliche Situation auswirken. Sie zeigen zudem auf, dass soziale Problemlagen vielfach ein rasches Handeln benötigen. Hierfür braucht es Fachkräfte, die sich in den Systemen der Sozialversicherungen auskennen sowie über die Kapazitäten und Kompetenzen verfügen, rasche und effektive Interventionen auslösen zu können.
Folgend wird exemplarisch gezeigt, wie soziale Notlagen oder überlastete betreuende Angehörige in der hausärztlichen Praxis erkannt werden können und wie die Überweisung an eine praxisinterne Sozialberatung oder eine Fachperson der Sozialen Arbeit einer externen Organisation ablaufen kann. Diese Erkenntnisse basieren auf einer Studie der Berner Fachhochschule (BFH), in deren Rahmen verschiedene Modelle der «Sozialen Arbeit in der Arztpraxis» begleitet und evaluiert wurden. Die vollständigen Ergebnisse sind auf der Projektseite bfh.ch/soziale-arbeit/arztpraxis abrufbar.

Erkennen sozialer Anliegen

Soziale Notlagen müssen in der Sprechstunde zunächst erkannt werden. Dafür gilt die einfache Regel: Wer nicht fragt, weiss es nicht [4]. Hausärztinnen und Hausärzte können ihr Vertrauensverhältnis zu ihren Patientinnen und Patienten nutzen, um «schwierige» Patientenanliegen anzusprechen. Sogenannte Schlüssel- oder Signalwörter wie beispielsweise «Sorgen», «Einsamkeit», «Überforderung», «Schulden», «Arbeit», «Wohnen» oder «Familie» können ein gezieltes Nachfragen auslösen.
Ein anderer Ansatz sind Screenings von sozialen Determinanten der Gesundheit [2]. Die Ergebnisse des Screenings können jährlich aktualisiert in der Krankengeschichte eingetragen werden. Eine Verschlechterung der Situation wird erfasst und entsprechende Massnahmen ausgelöst. Ein Beispiel für ein solches Screening-Instrument ist das vom BAG in Zusammenarbeit mit Hausärztinnen und -ärzten entwickelte Instrument «Entlastungsbedarf von betreuenden Angehörigen in der ärztlichen Praxis»1. Im Kontext der Betreuung und der Pflege von Patientinnen und Patienten kann damit Entlastungs- oder Unterstützungsbedarf erfasst werden, der von Sozialarbeitenden rasch und effizient angegangen werden muss.

Überweisen an die Sozialberatung

Insbesondere dann, wenn komplexe und über das Fachgebiet der Medizin hinausgehende Anliegen verstanden und sortiert werden müssen, wenn soziale Fragestellungen und Probleme die Therapieadhärenz beeinflussen und letztendlich die körperliche und psychische Gesundheit beeinträchtigen, stossen Ärztinnen und Ärzte mit den verfügbaren Ressourcen an Grenzen. Durch die Zusammenarbeit mit Expertinnen oder Experten des Sozialwesens profitieren nicht nur die Patientinnen und Patienten und ihre Angehörigen, sondern auch die Ärzteschaft selbst. Erstere erhalten die für ihre sozialen Anliegen am besten qualifizierte Fachkraft, und Letztere werden von kaum erfüllbaren Ansprüchen entlastet [6].
In den im Rahmen der erwähnten Studie der Berner Fachhochschule (BFH) untersuchten Kooperationsmodellen zwischen Hausarztpraxis und Sozialarbeitenden fand die Überweisung denkbar einfach statt. Analog zu üblichen Überweisungsschreiben wurde ein Formular verwendet, in dem die wichtigsten Angaben zur Person, der Überweisungsgrund sowie – im Einverständnis mit den Betroffenen – die wichtigsten Diagnosen und Befunde dokumentiert wurden. Des Weiteren wurde angegeben, wie die Rückmeldung an die behandelnde Ärztin oder den behandelnden Arzt erfolgen soll (z. B. per E-Mail oder per Telefon). Diese Überweisungsschreiben haben sich in den untersuchten Kooperationsmodellen als ausreichend erwiesen, um eine zielgerichtete Sozialberatung auszulösen2.

Tätigkeiten der Sozialberatung

Priorisierung

Insbesondere bei komplexen und sich gegenseitig verstärkenden sozialen Problemen ist eine sorgfältige Priorisierung notwendig. Sozialarbeitende müssen die vorerst diffus anmutenden Anliegen zusammen mit den Patientinnen und Patienten sowie ihren Angehörigen erheben. Wird dieser Schritt übersprungen, besteht das Risiko einer mangelhaften Kooperation oder einer wirkungslosen Intervention [1].
Durch ihre Gesprächsführungskompetenzen und Erfahrungen mit Menschen in schwierigen Lebenslagen können Sozialarbeitende die nicht-medizinischen Bedürfnisse ihrer Klientel effizient und treffsicher identifizieren und priorisieren [7]. Darüber hinaus können sie die «fehlende instrumentelle und emotionale Unterstützung durch Behörden und Fachstellen» [9] weitgehend abfedern. Eine Ärztin aus der Studie der BFH berichtet, wie die diffus erscheinenden Anliegen fassbar gemacht wurden:
«Mich spricht die Aussage über ‹diffuse soziale Anliegen› sehr an. Ich habe erlebt, dass die Sozialarbeiterinnen das Diffuse eben fassbar gemacht haben und es dadurch auch gelöst werden konnte. Auch habe ich erlebt, dass Patienten und Patientinnen durch die Sozialarbeit wesentlich an Selbstwertgefühl und Autonomie gewinnen konnten.» [Ärztin in: 6]

Ressourcenerschliessung

In schwierigen Lebenssituationen sind die Fähigkeiten zur Ressourcenerschliessung, die entsprechenden Kompetenzen, Wünsche und Beziehungen oftmals verborgen und müssen wieder aktiviert werden. Sozialarbeitende unterstützen diesen Prozess, indem sie gemeinsam mit ihren Klientinnen und Klienten auch neue Ressourcenquellen erschliessen. Dies kann durch eine Abklärung der Versicherungslage, ein Gespräch mit dem Arbeitgeber, eine Peer-Vermittlung oder durch Hilfe bei Ansprüchen auf Vergünstigungen oder Zuschläge sein. Sie kennen die lokalen Angebote der Fachstellen und Behörden, ihre Auslastungssituation und ihre Aufnahmekriterien. Die Situation von Herr Simond konnte beispielsweise wie folgt gelöst werden:
Herrn Simond konnte aufgezeigt werden, dass er bei den zuständigen Amtsstellen rückwirkend Krankheitskosten für seine erkrankte Ehefrau geltend machen konnte. Sämtliche Rechnungskopien vom Pflegeheim, der Spitex, dem SRK, dem Fahrdienst und den Krankenversicherern wurden dafür eingeholt. Zudem wurde bei einem Fonds ein Gesuch eingereicht. Diesem wurde entsprochen, sodass weitere Aufwände finanziert werden konnten. Als die Ehefrau in das Pflegeheim musste, wurde das Ehepaar beim erneuten EL-Antrag unterstützt und an die Pro Senectute für die Nachbetreuung übermittelt.

Case Management

Bei komplexen, sozial-gesundheitlichen Patientenbedürfnissen können Sozialarbeitende auch das Case Management übernehmen. Sozialarbeitende identifizieren gemeinsam mit der Klientel Ziele, Barrieren und Massnahmen und vermeiden Redundanzen. Sie kümmern sich um Versicherungsfragen, die Terminierung von Interventionen, die Selbstmanagementförderung, Problemlösungen und gegebenenfalls um notwendige Hausbesuche [8]. Im Fall von Herrn Damiani konnte die Sozialarbeiterin Folgendes erreichen:
Die Sozialarbeiterin nahm mit der Krankenkasse Kontakt auf und erwirkte einen Mahnstopp. Mittels eines Stiftungsantrags wurde versucht, die Ausstände gegenüber der Krankenkasse zu bereinigen. Herr Damiani schränkte die bisher monatlichen Fahrten nach Italien ein, gewann den Überblick über seine finanziellen Verpflichtungen und konnte sich besser auf seinen Genesungsprozess fokussieren.

Resümee

Für Arztpraxen sind Sozialarbeitende geschätzte Partnerinnen und Partner. Sie entlasten bei sozialen Notlagen ihre Patientinnen und Patienten sowie deren Angehörige und ermöglichen der Ärzteschaft, sich auf die medizinische Versorgung zu fokussieren. Insbesondere dann, wenn die Betroffenen schon diverse Behördengänge hinter sich haben oder durch schlechte Erfahrungen geprägt sind, ist die Zusammenarbeit mit unabhängigen Sozialarbeitenden hilfreich.
Trotz des hohen Nutzens für den Patientenstamm und die Ärzteschaft ist es schwierig, Sozialarbeitende für die Praxis zu finanzieren. Die wenigen Schweizer Pionierprojekte finanzieren sich über Stiftungen, Zuschüsse der Gemeinde oder über den Praxisertrag. Auch die Finanzierung über einen Verein, der von Stiftungen, Krankenkassen, Patientenbeiträgen und Gemeinden geäufnet wird, ist denkbar. Wenn keine Kooperation mit einer freischaffenden Fachperson oder einer sozialen Institution gefunden werden kann, sind Arztpraxen auf Initialaufwände und Pioniergeist angewiesen.
René Rüegg, PhD
Scientific Collaborator
Bern University of Applied Sciences
Social Work
Hallerstrasse 10
CH-3012 Bern
1 Abplanalp E, Cruceli S, Disler S, Pulver C, Zwilling M. Beraten in der Sozialen Arbeit: Eine Verortung zentraler Beratungsanforderungen. 1. Aufl. UTB, Bd 5347. Bern: Haupt Verlag; 2020
2 Berkowitz RL, Bui L, Shen Z, Pressman A, Moreno M, Brown S, et al. Evaluation of a social determinants of health screening questionnaire and workflow pilot within an adult ambulatory clinic. BMC Fam Pract. 2021 Dec;22(1):256
3 Hinchey SA, Jackson JL. A cohort study assessing difficult patient encounters in a walk-in primary care clinic, predictors and outcomes. J Gen Intern Med. 2011 Jun;26(6):588–94.
4 Magoon V. Screening for Social Determinants of Health in Daily Practice. Fam Pract Manag. 2022;29(2):6–11.
5 Mota P, Selby K, Gouveia A, Tzartzas K, Staeger P, Marion-Veyron R, et al. Difficult patient-doctor encounters in a Swiss university outpatient clinic: cross-sectional study. BMJ Open. 2019 Jan;9(1):e025569.
6 Rüegg R, Eiler K, Schüpbach F, Gehrlach C. Soziale Arbeit in der Arztpraxis. Forschungsbericht, Bern: Berner Fachhochschule, Departement Soziale Arbeit, Institut für Organisation und Sozialmanagement; 2022.
7 Tierney S, Wong G, Roberts N, Boylan AM, Park S, Abrams R, et al. Supporting social prescribing in primary care by linking people to local assets: a realist review. BMC Med. 2020 Mar;18(1):49.
8 Wendt WR. Case Management im Sozial- und Gesundheitswesen: Eine Einführung. 7. Aufl. Soziale Arbeit. Freiburg im Breisgau: Lambertus; 2018.
9 Wieber F, Ackermann G, Juvalta S, Marti S. Gesundheitskompetenz in herausfordernden Kontexten: Eine Bedarfsanalyse zur Förderung der Gesundheitskompetenz bei Menschen in schwierigen Lebenslagen durch sozialberatende Stellen. Schlussbericht., Zürich: Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften, Departement Gesellschaft; 2022. Im Auftrag der Allianz Gesundheitskompetenz.