Teil 2: Impfnutzen, neue Herausforderungen, Sicherheit, Kommunikation

Masern-Impfung: Nutzen und neue Herausforderungen

Fortbildung
Ausgabe
2023/03
DOI:
https://doi.org/10.4414/phc-d.2023.10635
Prim Hosp Care Allg Inn Med. 2023;23(03):79-83

Affiliations
a Medizinische Universitätsklinik, Infektiologie und Spitalhygiene, Kantonsspital Baselland, Bruderholz, Universität Basel; b Pharmaceutical Research Care Group, Universität Basel; c Kinder- und Jugendmedizin, Klinik Arlesheim, Arlesheim; d FMH Allg. Innere Medizin, FA Homöopathie (SVHA), Präsidentin UNION Schweizerischer komplementärmedizinischer Ärzteorganisationen, Richterswil; e Allg. Innere Medizin FMH, Au ZH; f Herzentalpraxis, Dornach SO; g Unité des maladies infectieuses pédiatriques, Hôpital des Enfants; Hôpitaux Universitaires de Genève; h Université de Genève, Faculté des sciences de la société, Institut de recherches sociologiques; i Medizinische Klinik, Infektiologie und Spitalhygiene, Centre Hospitalier, Bienne; j Universitätsklinik für Infektiologie, Universitätsspital Bern, Universität Bern; k Zentrum für Integrative Pädiatrie, Klinik für Pädiatrie, HFR Fribourg – Kantonsspital, Fribourg

Publiziert am 08.03.2023

Teil 2: Impfnutzen, neue Herausforderungen, Sicherheit, Kommunikation

Infektiologie-Serie

Infektionen und Immunabwehr sind in der Praxis wichtige Themen. Sie bieten hervorragende Gelegenheiten zu interdisziplinärer Zusammenarbeit, Überprüfung von gängigen Konzepten und Integration komplementärmedizinischer Sichtweisen. Philip Tarr ist Internist und Infektiologe am Kantonsspital Baselland und leitet das Nationale Forschungsprojekt NFP74 zu Impfskepsis. Ihm liegt viel an einer patientenzentrierten Medizin und an praxisrelevanten Artikeln, die wir in der Folge in Primary and Hospital Care regelmässig publizieren werden.

Gibt es seit der Einführung der Masernimpfung neue Probleme?

In reichen Ländern mit hohen Impfraten hat die Maserninzidenz sehr deutlich abgenommen, und es stirbt kaum je ein Kind an Masern. Aber die weitverbreitete Masernimpfung hat auch bei uns 3 wichtige Veränderungen bewirkt, die seit über 25 Jahren bekannt sind [114, 115]:

Wieso will die Schweiz die Masern eradizieren?

Für die genannten Probleme hat die WHO keine Lösung in Aussicht und will daher die weltweite Maserneradikation anstreben [18, 122]. Theoretisch ist die Masernausrottung möglich, weil Masern nur beim Menschen vorkommen und die Impfung sehr wirksam ist [114]. Dafür braucht es gemäss BAG 2 Masern-Impfdosen ab dem Kleinkindesalter plus ein Nachholimpfprogramm, damit auch die älteren Personen immun sind [122]. Das erklärte Ziel liegt bei einer Impfrate von (93–)95% aller 2-Jährigen und nach 1963 Geborenen.

Was ist der Unterschied zwischen Maserneradikation und Elimination?

Mit «Eradikation» ist die weltweite Unterbrechung der Masernansteckungen gemeint. Als «eliminiert» gelten Masern, wenn während >12 Monaten lokal keine endemischen Masernfälle auftreten [6]. Die WHO hat die Schweiz 2018 als masernfreies Land deklariert [116, 123]. Allerdings kam es 2019 wieder zu insgesamt 30 Masernausbrüchen, mit je 2–31 [123] und insgesamt 221 Fällen [25, 37]. Die nötige Durchimpfungsrate ist also nicht dauerhaft erreicht, und weitere Ausbrüche sind damit nicht ausgeschlossen [124]. Wichtig: Durch konsequente Umsetzung der Richtlinien zur Bekämpfung von Masernausbrüchen, durch erhöhte Durchimpfung und punktuelle Nachimpfungen konnten die Ausbrüche 2019 kontrolliert werden. Im Jahr 2020 traten entsprechend nur 37 Masernfälle auf; 2021 und 2022 gar keine [25].

Ist die weltweite Eradikation der Masern machbar?

Die seit vielen Jahren persistierend hohe Zahl der Masernerkrankungen und -todesfälle in armen Ländern zeigt, dass die Maserneradikation aktuell kaum realistisch ist. Es bräuchte eine Welt ohne Kriege, intakte medizinische Infrastrukturen (vor allem Kühlketten in warmen Ländern), eine gesicherte Finanzierung und globale Impfstoff-Verfügbarkeit.

Was interessiert Schweizer Eltern die Maserneradikation? Sie wollen die bestmögliche Gesundheit für ihre Kinder

Korrekt – für die Schweiz relevanter als die Eradikation ist die Masernelimination, womit sehr wohl ein guter Bevölkerungsschutz erreicht wird. Die nationalen Strategien des Bundes zu Impfungen und Masernelimination [125] sind Public-Health-Konzepte, und diese sind für junge Eltern abstrakt und nicht einfach zu vermitteln. Die Masern-Impfung bleibt in jedem Fall ein freier Entscheid; die Autonomie der Eltern muss respektiert werden [8]. Dafür scheint sich mehr und mehr das Konzept des shared decision-making zwischen Ärztin/Arzt und Eltern durchzusetzen [7, 13, 126].

Ist die Impfantwort schlechter, wenn das Kind schon mit 9 Monaten geimpft wird?

Ja – wenn ein Kind erst mit 12 Monaten die 1. Impfdosis erhält, ist der Prozentsatz der Kinder, die 3 Monate später [127] einen schützenden Antikörpertiter erreichen, höher (95%) [57, 79, 80, 128, 129] als mit 9 Monaten (85–93%) [3, 79, 80, 128]. Eine Erstimpfung mit 15 Monaten würde die Immunantwort zusätzlich verbessern [79, 87, 128, 130]. Diese Vorteile erachtet das BAG aber als «geringfügig» [2] und stellt ihnen zwei Nachteile gegenüber:

Sollen wir Säuglinge also schon mit 6 Monaten impfen?

Nein. Dies wird nur ausnahmsweise (im Rahmen eines Ausbruchs) empfohlen [2]. Die Antikörperantwort ist nach der 1. Dosis im Alter von 6 Monaten unzureichend wegen des noch unreifen Immunsystems, und weil allenfalls noch vorhandene mütterliche Antikörper mit der Immunantwort des Kleinkinds interferieren könnten [127, 132, 134].

Wenn Frauen, die die 1. Impfdosis mit 9 Monaten kriegen, später schwanger werden, werden sie eine noch schwächere Immunität auf ihr Kind übertragen?

Diese Bedenken sind in Anbetracht des nachlassenden Nestschutzes gerechtfertigt [120], aber die Datenlage dazu ist schwach [135]. Wir müssen das über die kommenden Jahre systematisch beobachten.

Masern-Impfung: Sicherheit

Weil gesunde Kinder die Hauptzielgruppe der Masern-Impfung sind, ist die Sicherheit der Impfung ein zentrales Thema [136]. Wenn Millionen Kinder geimpft werden, so bedeutet sogar ein sehr tiefes Risiko, dass statistisch gesehen irgendwann schwere Nebenwirkungen auftreten werden [137]. Gemäss der Cochrane-Analyse ist die Verträglichkeit der MMR-Impfung aber gut, und kombinierte Daten aus 87 Studien mit über 13 Millionen Kindern zeigen keine langfristigen Schäden [1]. Auch Analysen des US-amerikanischen Institute of Medicine [138] und der Europäischen Arzneimittel-Agentur EMA haben keine besonderen Sicherheitsbedenken produziert [139].

Welches sind mögliche Impfreaktionen auf die MMR-Impfung?

Lokale Impfreaktionen sind meist mild und ähnlich häufig wie nach anderen Impfungen [19]: Bei 5–15% der Geimpften treten Rötung und Schwellung an der Einstichstelle, Kopfschmerzen oder Fieber auf [58, 140, 141]. Bei 5% der Geimpften kann 7–10 Tage nach Impfung ein nicht ansteckender Hautausschlag auftreten, der durch das Impfvirus ausgelöst wird und als Ausdruck einer gesunden Reaktion des Organismus auf die Lebendimpfung zu verstehen ist [57]. Bis zu 25% der Geimpften berichtet nach der Impfung über Gelenkschmerzen, vor allem junge Frauen [23, 57, 58]. In Einzelfällen wird erlebt, dass sich Kinder und Jugendliche nach einer Masernimpfung vorübergehend seelisch und sozial zurückziehen. Eine Vermeidung grösserer Belastungen in den 2 Wochen nach der Impfung wird nicht offiziell empfohlen, ist aber sinnvoll, da die Geimpften die «Ansteckung» mit dem Lebendvirus aktiv überwinden müssen.

Welches sind etablierte Nebenwirkungen der Masernimpfung?

Selten treten, insbesondere bei Säuglingen und Kleinkindern, Fieberkrämpfe auf [2, 58, 142, 143]. Sehr selten ist eine leichte, meist selbstlimitierende Thrombozytopenie [58, 140, 142]. Äusserst selten – und nicht häufiger als nach anderen Impfungen – tritt Anaphylaxie auf, vor allem bei vorbestehender Allergie [2, 19, 142, 144]. Eine Enzephalitis nach der Masernimpfung scheint extrem selten [57] (Tab. 1). Als Lebendimpfstoff enthält die MMR-Impfung keine Impfverstärker (Adjuvantien) wie z.B. Aluminiumhydroxyd.

Kann die MMR-Impfung schwere Schäden verursachen?

Es gibt zwar immer wieder Einzelberichte über mögliche Assoziationen der MMR-Impfung mit schweren Krankheiten, darunter Autismus, Leukämie, Morbus Crohn, Colitis ulcerosa, Multiple Sklerose, Typ-1-Diabetes, Asthma, Dermatitis und Heuschnupfen [145–148]. Diese Zusammenhänge konnten jedoch in grossen epidemiologischen Studien nicht bestätigt werden [1, 57, 140, 149]. Im Gegenteil dokumentieren die über viele Jahre millionenfach gesammelten Daten ein gutes Sicherheitsprofil der MMR-Impfung [1, 150].

Treten Komplikationen infolge einer Masernerkrankung häufiger auf als unerwünschte Impferscheinungen nach einer MMR-Impfung?

Ja [2, 23, 37, 57], siehe Tabelle 1.

Wie sicher sind wir, dass die Masernimpfung nicht zu Autismus führt?

Sehr sicher. Die 1998 von Andrew Wakefield formulierte Hypothese, dass der MMR-Impfstoff Autismus verursachen könnte, beruhte auf fabrizierten Daten und wurde durch gross angelegte, systematische Studien mit Millionen von Kindern widerlegt [1, 162–165]. Selbst bei Kindern mit erhöhtem Autismus-Risiko (d.h. aufgrund von Autismus bei einem Geschwister) konnte kein Zusammenhang zwischen Autismus und der MMR-Impfung festgestellt werden [166]. Dies sollte im Kontext mit den immer noch existierenden Kontroversen um die Publikationen von Wakefield und den medial aufbereiteten Debatten, die zur Schwächung der weltweiten Impfbereitschaft beigetragen haben, berücksichtigt werden [57, 167–169].

Wie gefährlich ist die Masernimpfung in der Schwangerschaft?

Die Masernimpfung ist als Lebendimpfstoff in der Schwangerschaft kontraindiziert [170]. Bei unbeabsichtigt geimpften schwangeren Frauen sind aber bisher keine Schädigungen des Fötus bekannt geworden [22, 171–175]. Eine versehentliche Masernimpfung in der Schwangerschaft stellt keine Indikation zur Abtreibung dar [22, 170].

Was sind die Vor- und Nachteile des Masern-Einzelimpfstoffs?

Eltern, die ein Minimum impfen möchten, bevorzugen gelegentlich monovalente Masernimpfstoffe wie Measles Vaccine Live [58, 176–178]. Die Einzelimpfung könnte eine freiere, persönliche Impfentscheidung erlauben und so die Impfbereitschaft fördern [179].

Masern-Impfung: Kommunikation

In der Schweiz gibt es keine Impfobligatorien [180]. Daher dürfen (und müssen!) die Eltern selbst entscheiden, ob und wann sie ihr Kind impfen. Die Ärztin oder der Arzt soll die Eltern ausgewogen über die Vor- und Nachteile des Impfens und Nicht-Impfens informieren, die elterlichen Sorgen und Bedürfnisse ernst nehmen und die Eltern aktiv in die Impfentscheidung einbeziehen. Nicht jede Impfberatung muss 45 Minuten dauern – allenfalls einen zweiten Termin anbieten. Ziel ist, die Eltern in einer angstfreien Atmosphäre zu beraten und sie hin zu ihrem Impfentscheid zu begleiten [4]. Eltern, die ihr Kind nicht nach dem Schweizerischen Impfplan gegen Masern impfen lassen möchten, sollten einige wichtige Punkte bedenken (Kasten 2). Manche von ihnen wissen nicht genau, auf was sie sich einlassen. Sie sind dann überrascht und teils überfordert von der Masernerkrankung des Kindes und der Reaktion des Umfeldes.

Kasten 2: Beratung von Eltern, die ihr Kind nicht nach dem Impfplan gegen Masern impfen lassen möchten.

Vor allem im Säuglingsalter ist eine Maserninfektion unbedingt zu vermeiden.
Eltern müssen bereit sein, das Kind durch eine Masernerkrankung zu begleiten. Mindestens 1 Elternteil wird bei der Arbeit frei nehmen müssen.
Die Eltern müssen lernen, auch hohes Fieber auszuhalten, das Wohlbefinden der Kinder allenfalls mit Wadenwickeln und/oder komplementärmedizinischen Massnahmen zu verbessern und das Fieber wenn möglich nicht durch Antipyretika zu senken.
Eltern müssen andere vor einer Ansteckung schützen und die Auflagen eines möglichen Schulausschlusses bei einem Masernausbruch in Kauf nehmen.
Sie sollen in regelmässigen Abständen prüfen, ob ihr Entscheid noch stimmt.
Spätestens mit 10–12 Jahren soll die Impfung vorgenommen werden, um Masern ab der Pubertät zu vermeiden und (bei Frauen) dem Neugeborenen einen Nestschutz geben zu können.

Was hilft uns, in der Kommunikation mit den Eltern zu überzeugen?

Über den Nutzen und Schaden der verschiedenen Impfungen bestehen verschiedene Meinungen [13]. Die Fragen und Motivationen der Eltern zu würdigen, die in einer bewussten, wohlüberlegten Entscheidung das Beste für die Gesundheit ihres Kindes wollen [181, 182], ist zielführender als Moralisierung oder Verurteilung [13]. Dies stärkt zudem das Vertrauen in die Ärztin oder den Arzt [11], den wichtigsten Faktor beim Impfentscheid [183–186].

Soll die Ärztin oder der Arzt den Eltern die Masernimpfung empfehlen?

Ja. So sieht es die Nationale Strategie zu Impfungen des Bundesrates vor [187], wobei dies eine differenzierte Abwägung der individuellen Situation nicht ausschliesst. Unter Inkaufnahme eines verzögerten Impfbeginns kann auch eine (etwas) später durchgeführte Impfung zur individuellen Masernimmunität und zur Masernelimination beitragen und insbesondere die Verschiebung der Masernfälle ins Jugend- und Erwachsenenalter verhindern.

Sind anthroposophische Ärzte oder solche mit einem Fähigkeitsausweis in Homöopathie prinzipiell gegen alle Impfungen?

Nein. Die anthroposophischen und homöopathischen Ärztegesellschaften sprechen sich in offiziellen Stellungnahmen klar für Impfungen aus [188–190]. Sie betonen das Recht auf Selbstbestimmung und ein individualisiertes Impfvorgehen im Sinne von shared decision-making. Sie sind also, entgegen gängiger Vorurteile [191], nicht kategorisch gegen alle Impfungen. Dies zeigen auch die Ergebnisse unseres Nationalen Forschungsprogramms zu Impfskepsis (NFP74), die wir in Zusammenarbeit mit Schweizer Ärztinnen der Komplementärmedizin erarbeitet haben [5, 6].

Mein Kind geht in die Rudolf-Steiner-Schule. Weniger als die Hälfte der Kinder sind gegen Masern geimpft. Es hat aber in den letzten 10 Jahren nie einen Masernfall an der Schule gegeben.

Weil schweizweit 9 von 10 Schulkindern geimpft sind, sind Masern insgesamt selten. Konkrete Folge: Auch wer sein Kind nicht impft, wird mit Masern meist nichts zu tun haben. Allerdings standen die Masernausbrüche 2019 und 2007–2009 (während der landesweiten Epidemie) oft in epidemiologischem Zusammenhang mit anthroposophischen Einrichtungen [192–194]. Wichtig: 1) Bei einem Masernfall an der Schule müssen ungeimpfte Kinder auf Anordnung der Kantonsärztin 21 Tage zuhause bleiben [195] – das können sich nicht alle Eltern leisten. 2) Die Erfahrung zeigt klar, dass viele Eltern auch bei einem komplikationslosen Verlauf nicht damit rechnen, wie krank das Kind im Fall von Masern sein kann.

Sind also Eltern, die ihre Kinder nicht gegen Masern impfen, Trittbrettfahrer (Profiteure)?

Diese Eltern profitieren zwar von der hohen Durchimpfung der übrigen Bevölkerung. Sie riskieren aber, dass das Kind die Masern zu einem späteren, weit ungünstigeren Zeitpunkt durchmacht. Tatsächlich empfinden sich diese Eltern aber nicht als Profiteure – im Gegenteil: Sie wünschen, dass ihre Kinder die Krankheit im früher «üblichen» Alter mit wenig Komplikationen durchmachen und so eine starke, lebenslange Immunität aufbauen, die sie im Fall einer späteren Schwangerschaft effizient an ihre Säuglinge weitergeben können. Dieser Wunsch tritt in Konflikt mit der durch die Impfprogramme geschaffenen Problematik, dass Säuglinge >6 Monate, deren geimpfte Mütter keinen ausreichenden Schutz mehr auf sie übertragen, neu geschützt werden müssen. Und auch bei Frauen, die Masern durchgemacht haben, existiert heute möglicherweise kein verlässlicher Nestschutz für ihre Kinder mehr, weil regelmässige «natürliche» Masern-Booster-Gelegenheiten fehlen.
Grundsätzlich bedeutet der Verzicht auf die Masernimpfung, die Erkrankung des Kindes zu akzeptieren – dieser Zusammenhang ist vielen Eltern so nicht bewusst. Für einen sicheren Schutz vor Erkrankung und Komplikationen und den Schutz der Personen, die nicht geimpft werden können (Säuglinge <6 Monate, Immungeschwächte), braucht es die Impfung [2, 196].

Ich will mein ungeimpftes Kind in die Kita schicken, dort gibt es aber ein Impfobligatorium für Masern. Was kann ich machen?

In der Schweiz gibt es vermehrt Kitas, die ein Impfobligatorium für Masern und andere Krankheiten eingeführt haben [197]. Wichtig ist die Masernimmunität insbesondere in Kitas, die auch Säuglinge betreuen. In vielen Kitas in den Nachbarländern gilt seit Jahren schon eine Impfpflicht [198]. Laut BAG sind Impfobligatorien in Schweizer Kitas zulässig, da Privatinstitutionen keine Aufnahmepflicht haben [199]. Damit bleibt nur die Möglichkeit, eine Kita ohne Impfpflicht zu suchen.

Wenn ich mein Kind nicht gegen Masern impfe, bin ich verantwortlich für eine allfällige Masernansteckung eines Säuglings oder immungeschwächten Kindes im Wartezimmer des Kinderarztes?

Ein Kind mit Masern kann unbeabsichtigt ungeschützte, immunsupprimierte Personen oder auch noch ungeimpfte Säuglinge anstecken [48]. Und auch das Reisen in ärmere Länder setzt einen Masernschutz voraus (für sich selbst aufgrund des höheren Expositionsrisikos, aber auch um eine Ansteckung der lokalen Bevölkerung durch eigene Masernerkrankung zu verhindern) [23]. Es liegt in unserer Verantwortung, Personen, die besonders gefährdet sind, bestmöglich vor einer Masernansteckung zu schützen [37] – wir sollten also auch aus Solidarität impfen [4, 200]. Das Auslassen der Masernimpfung würde die bereits erreichte hohe Durchimpfungsrate senken, und es könnte zu Ausbrüchen der Krankheit kommen [9, 25, 123]. Der Gemeinschaftsschutz gerät allerdings in das Spannungsfeld mit dem in der modernen Medizin geforderten shared decision-making und der wichtigen Errungenschaft der Patientenautonomie. In diesem Spannungsfeld bewegen sich Präventionsmassnahmen immer – wir Ärztinnen und Ärzte müssen das aushalten [8].

Muss ich den Impfentscheid der Eltern akzeptieren?

Ja, gemäss der Schweizerischen Akademie der medizinischen Wissenschaften muss die Ärztin in jedem Fall die Autonomie der Eltern respektieren, sogar wenn ihr der Entscheid falsch erscheint [8]. Das BAG sieht keine Impfobligatorien vor: Diese gelten als ethisch bedenklich und führen zu Folgeproblemen [200–203].

Soll auch in Apotheken gegen Masern geimpft werden?

Die wichtigste Informationsquelle und vertrauensvolle Beratungsperson beim elterlichen Impfentscheid ist der Arzt [204–206]. Eine Konkurrenzierung durch die Apotheker ist nicht vorgesehen. Gemäss der Nationalen Strategie zu Impfungen (NSI) sollen aber auch Spitex-Organisationen und Apotheken «gut sicht- und auffindbare, attraktive Impfangebote» einrichten [207]. Apothekerinnen eignen sich gemäss NSI gut für die Impfberatung, da «Apotheken in grosser Zahl vorhanden, gut zugänglich und oft stark frequentiert sind» [208]. Aktuell sehen die Verordnungen in zahlreichen Kantonen vor, dass keine Personen unter 16 oder 18 Jahren in Apotheken geimpft werden [209]. Nur wenige Kantone sehen die Gabe von Lebendimpfstoffen vor [209]; lediglich BL und SO erlauben in Apotheken die Durchführung aller Impfungen gemäss Schweizer Impfplan [209] – eine nationale Harmonisierung wäre wünschenswert [210, 211]. Dank der Kenntnisse, die sie im Rahmen ihres Zusatzdiploms «Impfen und Blutentnahme» erworben haben [212], sind Apotheker imstande, Schwangerschaft und Immunsuppression als Kontraindikation für Lebendimpfungen zu diagnostizieren.

Schlussfolgerung

Die Masern sind und bleiben eine sehr ernst zu nehmende Erkrankung mit hoher Morbidität und Mortalität, nicht nur in armen Ländern. Die erfolgreichen Impfprogramme haben die Häufigkeit drastisch gesenkt, aber auch zu neuen Herausforderungen beigetragen (verkürzter Nestschutz, Verschiebung ins Erwachsenenalter, Unsicherheit bzgl. langfristigem Schutz). Neben dem Schutz von Säuglingen ist die Masernimmunität im Jugend- und Erwachsenenalter aufgrund der erhöhten Komplikationsrate besonders wichtig. Hierfür steht nur die Impfung zur Verfügung , da die natürliche Immunisierung (Boosting) durch die Infektion heute in der Regel fehlt. Mit einem Nachholen verpasster oder verzögerter Impfungen bis spätestens zum Eintritt in die Pubertät wäre die Mehrheit der heutigen Masernfälle effektiv zu verhindern.
Wir bedanken uns bei Dr. Christian Kahlert, Kinderinfektiologe und Leitender Arzt am Ostschweizer Kinderspital, St. Gallen, für seine kritische Durchsicht des Manuskripts.
Prof. Dr. med. Philip Tarr
Medizinische Universitätsklinik und Infektiologie/Spitalhygiene
Kantonsspital Baselland
Universität Basel
CH-4101 Bruderholz
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