«SNAPPS» und Teaching-Visiten

Training von Clinical Reasoning mit einfachen Lehrmethoden im klinischen Alltag

Lehre
Ausgabe
2023/05
DOI:
https://doi.org/10.4414/phc-d.2023.10645
Prim Hosp Care Allg Inn Med. 2023;23(05):134-136

Affiliations
a Leitende Ärztin, Innere Medizin und Notfallmedizin, Solothurn; b Bereichsleiter Praktisches Assessment, Institut für Medizinische Lehre IML, Bern

Publiziert am 03.05.2023

Im klinischen Alltag lässt sich oft beobachten, dass Assistenzärztinnen und -ärzte (AÄ) in einer ausführenden Rolle verhaftet bleiben und selbst eher wenig zum Diagnose- und Managementprozess in der Patientenbetreuung beitragen [1, 2].
Gut eingespielt ist das Rapportieren von Befunden, die den Kaderärztinnen und -ärzten (KÄ) nach der Anamnese und Untersuchung einer erkrankten Person überbracht werden. Hingegen findet das selbständige Generieren einer Arbeitshypothese mit Differentialdiagnosen (Clinical Reasoning) und das proaktive Unterbreiten von Vorschlägen zu weiteren diagnostischen und therapeutischen Schritten oft zu wenig statt.
Die KÄ übernehmen regelmässig automatisch oben genannte Denkprozesse, sodass die Clinical-Reasoning-Kompetenzen der AÄ nicht ausreichend geübt werden können. Gute Lerngelegenheiten werden so verpasst, und das Training höherer kognitiver Funktionen, die wesentlich für die Entwicklung der Clinical-Reasoning-Kompetenzen sind, findet nicht ausreichend statt. Tatsächlich gibt es eine Reihe von Lehrmethoden, die das selbstgesteuerte, proaktive Verhalten der AÄ in diesem Bereich unterstützen können.
Das Ziel der vorliegenden Studie war, Erfahrungen von AÄ und KÄ in Hinblick auf die Förderung von Clinical-Reasoning-Kompetenzen auf Seiten der AÄ zu analysieren, welche diese mit zwei innovativen Lehrmethoden im Rahmen eines Pilotprojektes gesammelt haben.
Clinical Reasoning mittels SNAPPS (Tab. 1): Tipps und Tricks.
Um SNAPPS in der Klinik zu implementieren, sollte möglichst die gesamte Ärzteschaft (alle Hierarchiestufen) entsprechend geschult werden.
Zur Einführung eignet sich ein kurzer Workshop von 30–45 Minuten, wo die einzelnen Schritte von SNAPPS anhand von Fallbeispielen geübt werden können.
Zur Vereinfachung der Anwendung im Alltag eignen sich Pocket-Cards mit einer kurzen Zusammenfassung der sechs Schritte von SNAPPS (bspw. Tab.1 im Pocket-Card-Format drucken lassen).
Eine Patientenbesprechung mit SNAPPS dauert nicht länger als eine herkömmliche Patientenbesprechung, im Mittel 4–6 Minuten.
Lehrvideos und Lehrmaterial SNAPPS:
Introduktion: https://youtu.be/cEZOjSyPhZ0
SNAPPS in action: https://youtu.be/Y6J3dL7hZfk
One-Pager SNAPPS: https://paeaonline.org/wp-content/uploads/imported-files/SNAPPS.pdf

Methoden

Die Studie wurde an der Klinik für Allgemeine Innere Medizin am Bürgerspital Solothurn durchgeführt. Die Studienpopulation bestand aus dem im Kernbereich tätigen ärztlichen Team von 23 AÄ und neun KÄ.
Als Instrumente wählten wir zwei Lehrmethoden aus:
Das «SNAPPS» ist ein sechsstufiges und lernerzentriertes Modell zur Patientenvorstellung. SNAPPS ist die Abkürzung für die sechs Schritte, anhand welcher die Lernenden einen Patienten vorstellen (s. Tab. 1). SNAPPS bietet einen soliden Ansatz für die Kompetenz des Clinical Reasonings (Erfragen von Differentialdiagnosen, Analysieren und Verifizieren von Differentialdiagnosen) [3, 4].
Als zweite Intervention wählten wir wöchentliche Teaching-Visiten, bei denen der Assistenzarzt die Leitung der Visite übernahm und der Kaderarzt in einer Rolle des Beobachters und Coaches fungierte.

Studienablauf

Die Studie wurde in drei Phasen gegliedert.
Interventionsphase: Wir begannen mit den Interventionen im Oktober 2020: Implementieren der Lehrmethode SNAPPS und der Idee der Teaching-Visite mittels Lehrveranstaltungen, Informationen per E-Mail und mit Hilfe von Pocket-Cards.
Durchführungsphase: Im Anschluss folgte eine dreimonatige Durchführungsphase, in der SNAPPS und die Teaching-Visite im klinischen Alltag angewendet wurden.
Datensammlung: Da die Fragestellung unserer Studie explorativer Natur war, wählten wir einen qualitativen Ansatz. Im Januar 2021 führten wir Fokusgruppendiskussionen mit den AÄ und KÄ in jeweils getrennten Gruppen durch. Insgesamt wurden drei Treffen mit einer Dauer von ca. 60 Minuten in Fokusgruppen durchgeführt. Es nahmen 21 AÄ und 7 KÄ an den Interviews teil. Die Teilnahme an den Fokusgruppen war für alle Beteiligten freiwillig. Während der Fokusgruppendiskussionen wurden die Teilnehmer aufgefordert, über ihre Erfahrungen und insbesondere über die Vor- und Nachteile im Zusammenhang mit den zwei Lehrmethoden zu diskutieren. Die Diskussionen wurden aufgezeichnet und wortwörtlich transkribiert.
Tabelle 1: Patientenvorstellung mit SNAPPS.
Summarize the case
Fasse den Fall kurz zusammen.
Narrow the differential
Grenze die Differenzialdiagnosen auf nicht mehr als 3 mögliche Diagnosen ein.
Analyze the differential
Analysiere die DDs anhand der vorliegenden Befunde (was spricht dafür, was dagegen).
Probe the preceptor
Überprüfe deine Gedanken, indem Du dem Oberarzt Fragen zu Unsicherheiten, Schwierigkeiten oder alternativen Ansätzen stellst.
Plan management
Stelle einen Abklärungs- und Behandlungsplan für den Patienten auf.
Select an issue for self-directed learning
Wähle ein fallbezogenes Thema für das Selbststudium aus.
Wolpaw TM, Wolpaw DR, Papp KK. SNAPPS: a learner-centered model for outpatient education. Acad Med. 2003 Sep;78(9):893–8.
Teaching-Visite: Tipps & Tricks.
Die Anzahl Patienten, bei denen die AÄ den Lead auf der Visite übernehmen sollen, ist abhängig vom Ausbildungsstand (frisch ab Staatsexamen 1–2 Patienten, erfahrene AÄ alle Patienten).
Vor der Visite werden gemeinsam die Punkte festgelegt, auf welche bei der Visite der Fokus gelegt werden soll. Das Setzen von Schwerpunkten grenzt die Aufgaben der AÄ ein und erleichtert die Supervision und das Feedback.
Beispiele für solche Schwerpunkte sind:
– Struktur der Patientenbesprechung mit der Pflege vor dem Zimmer;
– Interprofessionelle Kollaboration;
– Differentialdiagnostisches Denken;
– Vorschläge zum Management;
– Kommunikation mit dem Patienten (Augenhöhe, Verständlichkeit und Menge der Informationen, Eingehen auf Fragen, Ängste, Sorgen etc.).
Die Teaching-Visite eignet sich sowohl für die Oberarztvisite als auch für die Chefarztvisite. Ev. Patienten vorab informieren, dass der Lead beim Assistenzarzt / der Assistenzärztin liegt, einerseits zu Teaching-Zwecken und andererseits, weil er/sie den Patienten am besten kennt.
Die Teaching-Visite eignet sich gut für ein formatives Assessment im Sinne eines Mini-CEX.
Im Patientenzimmer ist es sinnvoll, sich als Kaderarzt/Kaderärztin etwas im Hintergrund zu halten, da sich der Patient sonst häufig automatisch an die erfahrenere Person wendet.
Es empfiehlt sich, die Punkte, welche zwingend auf der Visite erfragt/untersucht werden müssen, vor dem Patientenzimmer festzulegen. So muss vor dem Patienten weniger interveniert werden.

Datenanalyse

Die Auswertung der Fokusgruppendiskussionen wurde anhand der qualitativen Inhaltsanalyse durchgeführt [5]. Nach einer ersten Analyse der Transkripte identifizierte das Forschungsteam mittels eines induktiven Verfahrens relevante Themen als Kategorien. In einem zweiten Schritt wurden alle Transkripte mit diesen Kategorien kodiert. Dies war ein iterativer Prozess, bei dem die Kategorienbildung die Kodierung und die Kodierung die Entwicklung der Kategorien beeinflusste.

Resultate

Wir identifizierten drei Hauptthemen: (1) Lernen als aktiver Prozess, (2) Supervision und Feedback im klinischen Alltag und (3) Rollenverständnis als Arzt/Ärztin und Ausbildner/Ausbildnerin
1) Lernen als aktiver Prozess
Die AÄ kamen durch die Einführung der Lehrmethode in eine aktivere Rolle bei der Kaderarztvisite und den Patientenbesprechungen. Sie fanden die Lehrmethoden wertvoll und unterstützend, um in die Rolle von verantwortlichen Ärztinnen und Ärzten zu wachsen respektive um als solche wahrgenommen zu werden. Sie lernten so ein eigenständiges differentialdiagnostisches Denken und machten Vorschläge zum Patientenmanagement – erlernten also Fähigkeiten, die jeder Arzt und jede Ärztin bei Erlangen des Facharzttitels beherrschen sollte.
AA 5: «Es spielt auch eine Rolle in der Beziehung zum Patienten, weil wenn du immer nur mitläufst und der OA macht die Visite, dann ist es schwierig, eine Beziehung zum Patienten aufzubauen. Wenn du am Nachmittag alleine vorbeigehst, dann nehmen viele Patienten/innen dich gar nicht als Arzt/Ärztin wahr. Deswegen ist es schon gut, wenn man selber den Lead hat.»
Von Seiten der KÄ waren viele erstaunt, dass einige Dinge wie differentialdiagnostisches Denken, analytische Wege zur Diagnosestellung etc. gar nicht so selbstverständlich vorhanden sind, wie sie angenommen hatten. Durch SNAPPS konnten die AÄ den Prozess zur Diagnosefindung üben, und die KÄ konnten den Wissensstand, das Denken und den Unterstützungsbedarf des individuellen Lernenden besser einschätzen.
KA 3: «Ich fand es interessant, dass die AÄ von diesem SNAPPS am Anfang alle etwas überfahren waren. Mir zeigte das, dass die Diagnosefindung tatsächlich ein Problem ist. Mindestens die Hälfe der AÄ konnten zuerst nicht damit umgehen, dass wir nun sie fragten, was sie denken, was die Diagnose ist.»
2) Supervision und Feedback im klinischen Alltag
Die Kaderärzte beurteilten die Tools als gute Gelegenheiten, um ein situationsangepasstes Teaching zu machen. Auch von den Lernenden wurden die Tools für das damit einhergehende individualisierte Feedback geschätzt. Durch die direkte Supervision der AÄ bei ärztlichen Kerntätigkeiten wie Patientenvorstellung und Arztvisite kann zielgerichtetes Feedback und Teaching stattfinden, ohne dass dabei ein relevanter Zeitverlust entsteht.
KA 2: «Ich finde es [Teaching-Visite] sehr interessant und mache das ab und zu. Man sieht dort gut, wie ein AA / eine AÄ auf einen Patienten zugeht, teilweise passieren in der Kommunikation zum Patienten Fehler, deshalb beobachte ich das gerne auch mal. Es gibt manche, die stellen sich sehr gut an und machen das sehr professionell […] und andere kann man dann entsprechend fördern und teachen.»
AA 2: «Ich empfand es sehr positiv, man ist selbst richtig aktiv und steht nicht nur daneben. Ich fand das sehr nützlich, da ich sofort ein Feedback bekam mit Rückmeldung zur Vollständigkeit der Visite etc.»
3) Rollenverständnis als Arzt/Ärztin und Ausbildner/Ausbildnerin
Einige der befragten KÄ gaben an, in einem Spannungsfeld zwischen der Rolle als behandelnder Arzt / behandelnde Ärztin und der Rolle als Coach, der sich eher im Hintergrund hält und beobachtet, zu stehen.
KA 5: «Es ist definitiv so, dass man teilweise ‘Abstriche’ macht als KA. Man muss einen Mittelweg finden zwischen Sich-nicht-Involvieren und Intervenieren, wenn nötig. Das ist für mich die Schwierigkeit daran. Deshalb ist es [Teaching-Visite] mit erfahrenen AÄ sinnvoller, weil dort meist weniger grundlegend interveniert werden muss als bei Staatsabgängern.»
Erwartungsgemäss sahen auch die AÄ Unterschiede zwischen den KÄ, wenn es darum geht, sich in die Rolle des Ausbildners einzuleben. AÄ fanden die Teaching Tools nicht zuletzt hilfreich, da diese den KÄ helfen, ihre Aufgaben als Coach zu erfüllen.
AA 3: «Dieses Tool [SNAPPS] ist auch hilfreich für die OÄ. Die OÄ lernen so, den Assistenten machen zu lassen und auch die richtigen Fragen zu stellen [...] Es ist eine gute Anleitung, um Leute denken zu lassen.»

Diskussion

Die vorliegende Studie untersuchte die Auswirkung der Einführung von SNAPPS und Teaching-Visiten auf die selbständige Generierung von Arbeitshypothesen, Differenzialdiagnosen und Patientenmanagement von Seiten AÄ. Beide Instrumente wurden von den KÄ als hilfreich empfunden, um die AÄ die Denkprozesse rund um die Diagnosefindung und Planung des weiteren Prozederes unter Supervision üben zu lassen. Die Implementierung dieser Tools bewirkte, dass die KÄ den Diagnosebildungsprozess nicht automatisch vorwegnahmen, sondern diese Schritte den AÄ überliessen und Letztere dabei direkt supervidieren konnten. Diese Erfahrung trug auf Seiten der KÄ zur Erkenntnis bei, dass der eigene Denkprozess sich wesentlich von demjenigen der Lernenden, die ja noch nicht über dieselbe klinische Expertise verfügen, unterscheidet [6]. Zudem sind die Lehrmethoden für die KÄ hilfreich, um sich der dualen Rolle als einerseits dienstleistende Ärztinnen und Ärzte und andererseits Ausbildnerinnen und Ausbildner bewusst zu werden.
Die Lehrmethoden halfen den AÄ, sich in eine aktivere Rolle bei der Patientenbetreuung einzufinden. Dies kann und muss natürlich an den jeweiligen Weiterbildungsstand angepasst werden. So kann es beispielsweise bei AÄ im 1. Jahr genügen, wenn sie bei einer Patientenvorstellung eine Arbeitshypothese und die wichtigsten Differentialdiagnosen erarbeiten, während es bei fortgeschrittenen AÄ möglich ist, dass sie die gesamte Visite führen. Die AÄ erlangen durch aktives Lernen, Feedback und Supervision im Verlauf der Weiterbildung ein schrittweise vergrössertes Handlungsspektrum und entsprechende fachärztliche Kompetenzen.
SNAPPS und die Teaching-Visiten eignen sich sehr gut für ein situationsgebundendes Feedback, bei ausreichend Zeit kann auch ein Arbeitsplatz-basiertes Assessment (AbA) erfolgen [7]. Beides ist hinsichtlich der heutigen Entwicklung für die kompetenzbasierte medizinische Weiterbildung [8] unerlässlich, und zukünftig wichtige EPA (Entrustable Professional Activities) können so sehr gut beurteilt werden [9, 10]. Zudem lassen sich sowohl SNAPPS als auch die Teaching-Visite relativ einfach und ohne grossen Zeitaufwand in den klinischen Alltag integrieren.

Konklusion

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die Lehrmethoden SNAPPS und Teaching-Visite hilfreich für KÄ sind, um die AÄ individuell beim Clinical-Reasoning-Denkprozess zu supervidieren und zu fördern. Die Lehrmethoden unterstützen die AÄ darin, eine aktive und verantwortungsbewusste Rolle in der Patientenbetreuung einzunehmen. Die alltäglichen Gelegenheiten zu aktivem Lernen, Supervision und Feedback führen zu einer sukzessiven Förderung der fachärztlichen Kompetenz. Eine Implementierung in weiteren Institutionen und Fachbereichen wäre lohnenswert.
Regula Fankhauser
Solothurner Spitäler AG
Schöngrünstrasse 36A
CH-4500 Solothurn
regula.fankhauser[at]spital.so.ch
1 Foley R, Smilansky J, Yonke A. Teacher-student interaction in a medical clerkship. J Med Educ. 1979 Aug;54(8):622–6.
2 Irby DM. Teaching and learning in ambulatory care settings: a thematic review of the literature. Acad Med. 1995 Oct;70(10):898–931.
3 Seki M, Otaki J, Breugelmans R, Komoda T, Nagata-Kobayashi S, Akaishi Y, et al. How do case presentation teaching methods affect learning outcomes? – SNAPPS and the One-Minute preceptor. BMC Med Educ. 2016 Jan;16(1):12.
4 Pascoe JM, Nixon J, Lang VJ. Maximizing teaching on the wards: review and application of the One-Minute Preceptor and SNAPPS models. J Hosp Med. 2015 Feb;10(2):125–30.
5 Braun V, Clarke V. Using thematic analysis in psychology. Qual Res Psychol. 2006 Jan;3(2):77–101.
6 Schmidt HG, Rikers RM. How expertise develops in medicine: knowledge encapsulation and illness script formation. Med Educ. 2007 Dec;41(12):1133–9.
7 Norcini J, Burch V. Workplace-based assessment as an educational tool: AMEE Guide No. 31. Med Teach. 2007 Nov;29(9):855–71.
8 Frank JR. The CanMEDS 2005 Physician Competency Framework. Ottawa, Ontario, Canada: Royal College of Physicians and Surgeons of Canada; 2005.
9 ten Cate O. Entrustability of professional activities and competency-based training. Med Educ. 2005 Dec;39(12):1176–7.
10 Ten Cate O, Hart D, Ankel F, Busari J, Englander R, Glasgow N, et al. International Competency-Based Medical Education Collaborators. Entrustment Decision Making in Clinical Training. Acad Med. 2016 Feb;91(2):191–8.