Hilfe – meine Patientin ist (auch) Ärztin!
Eine nicht ganz einfache Konstellation

Hilfe – meine Patientin ist (auch) Ärztin!

Themenschwerpunkt
Ausgabe
2023/04
DOI:
https://doi.org/10.4414/phc-d.2023.10674
Prim Hosp Care Allg Inn Med. 2023;23(04):126-127

Affiliations
Redaktorin Primary and Hospital Care

Publiziert am 05.04.2023

Eine nicht ganz einfache Konstellation

Andere Ärztinnen oder Ärzte zu behandeln, ist häufig mit Fragezeichen und Unsicherheiten verbunden. Wird sie mit meiner Beurteilung einverstanden und meiner Behandlung zufrieden sein? Kennt sie die Faktenlage zum anstehenden Problem gar besser als ich? Erwartet Sie irgendeine Art von VIP-Service, was auch immer das nun konkret für sie heissen mag? Werde ich es akzeptieren können, wenn sie bereits selbst nur allzu genau weiss, was sie hat und braucht – und sich dies möglicherweise nicht mit meiner Einschätzung deckt? Oder möchte sie ihre eigene professionelle Rolle ablegen und einfach nur Patientin sein können? Und werde ich es im Gegenzug schaffen, sie als «normale» Patientin zu sehen, mit all ihren Sorgen und Nöten, und nicht mehr Wissen und Souveränität bei ihr vorauszusetzen, als sie wirklich mitbringt? Und wie sollen und können wir beide damit umgehen, wenn uns all dies in irgendeiner Form nicht gelingen will?
Ein Kaleidoskop von Erinnerungen, Personen und Geschichten wirbelt durch meinen Kopf. Situationen, in denen es uns gelungen ist, diese nicht ganz einfache Konstellation einer therapeutischen Beziehung gewinnbringend zu gestalten, aber auch Situationen, in denen gegenseitige Bedürfnisse und Erwartungen nicht zusammengepasst und zu Unmut oder Frustrationen auf einer oder beiden Seiten geführt haben.
So kommt mir beispielsweise eine rund eine Dekade ältere Kollegin in den Sinn, eine Spezialärztin und faszinierende Powerfrau. Sie behandelt sich zwar immer mal wieder selbst oder zapft für gewisse Fragestellungen direkt ihr breites Netzwerk an, kehrt dann aber doch immer sehr treu zu mir als ihrer Hausärztin zurück. Und ich spüre, dass sie trotz all ihrer Erfahrung, ihres Wissens und ihrer Beziehungen meine hausärztliche Sichtweise und Einschätzung schätzt und ihr auch vertraut.
Bitter enttäuscht hingegen hatte ich offenbar einen mir sonst unbekannten jungen deutschen Assistenzarztkollegen. Nach einer ausführlichen telefonischen Beratung und schriftlichen Zuweisung an einen Spezialisten stellte ich ihm eine Rechnung, wie ich sie jedem anderen Patienten auch stellen würde. Diese hat er umgehend beanstandet und reklamiert, ich hätte damit seine «romantische Vorstellung» enttäuscht, dass wir diesen Service für Berufskollegen kostenlos leisten würden.
Sehr dankbar erlebe ich hingegen eine ein paar Jahre jüngere Hausarztkollegin. Dankbar dafür, dass ich bisweilen das Ruder fest in meine Hände nehme und sie «nur» als Patientin behandle. Sie hatte mir anvertraut, wie verloren und überfordert sie sich in der Spezialsprechstunde des Zentrumspitals gefühlt habe, weil sie bei jedem zweiten Satz zwischen den Zeilen herausgehört habe, dass man ihr dies als Ärztin ja nicht wirklich genauer erklären müsse, da man davon ausgehe, dass sie das ja alles selbst schon wisse und deshalb sicher keine Fragen oder Unsicherheiten hätte.
Und ich erinnere mich auch an die an einem metastasierenden Tumorleiden verstorbene Arztkollegin. Das Verhältnis zu ihr fühlte sich auch in schwierigen Momenten sehr offen und vertrauensvoll an. Ihr Ehemann hingegen – ebenfalls Arzt – schien mein hausärztliches Engagement nicht besonders zu schätzen und brachte meinen Behandlungsplan immer mal wieder mit dem nicht abgesprochenen Zuziehen von bisher nicht involvierten Spezialisten durcheinander. Ich bin noch immer unschlüssig, ob dies als Zeichen seiner Hilflosigkeit und Überforderung oder als Ausdruck einer allgemeinen Geringschätzung der hausärztlichen Arbeit gegenüber zu deuten war.
Eigentlich ist die Konstellation «Hausärztin oder Hausarzt behandelt anderen Arzt oder Ärztin» ja gar nicht so selten: Gut 38 000 praktizierende Ärztinnen und Ärzte gibt es in der Schweiz, rund 6000 derjenigen mit dem Fachgebiet Allgemeinmedizin oder Allgemeine Innere Medizin sind im Praxissektor tätig – so kommen also auf jede(n) in der Grundversorgung tätige(n) Ärztin oder Arzt im Schnitt 6 bis 7 Ärztinnen und Ärzte als Patientinnen und Patienten. Pensionierte Ärztinnen und Ärzte sowie Medizinstudentinnen und -studenten sind da noch gar nicht eingerechnet. Und sie alle können krank werden, akut oder chronisch, physisch oder psychisch. Sie alle werden irgendwann mal alt und gebrechlich. Und brauchen jemanden, der sie medizinisch betreut. Sofern sie sich überhaupt dazu durchringen können, dies in Anspruch nehmen. Denn vielen von uns fällt es schwer, selbst medizinische Hilfe in Anspruch zu nehmen. Von der Rolle der starken Helferin in diejenige der geduldigen Kranken zu schlüpfen. Sich einzugestehen, aufgrund der eigenen emotionalen Betroffenheit, der eigenen Ängste und Unsicherheiten nicht mehr objektiv entscheiden zu können. Den Überblick zu verlieren, die Fäden aus der Hand geben zu müssen und dabei einen Teil unserer Autonomie zu verlieren. Sich anzuvertrauen und loszulassen auf einem Gebiet, auf dem wir selbst glauben, alles zu wissen, beurteilen und im Griff haben zu müssen.
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Ein Blick in die Literatur zeigt, dass dies durchaus ein Thema mit Forschungs- und Handlungsbedarf ist. Dass Ärztinnen und Ärzte medizinisch häufig unter- oder fehlversorgt sind. Dass sie ein vermeidendes Krankheitsverhalten zeigen und häufig zu inadäquater Selbstmedikation greifen. Dass sie selber häufig keinen Hausarzt oder keine Hausärztin haben [1, 2].
Und ich kenne sie ja nur zu gut, diese andere Seite der Medaille. Habe mich selber jahrelang durchgewurstelt ohne eigene Hausärztin oder Hausarzt. War ja zumeist gesund, und wenn nicht, dann hatte ich meist eine klare Vorstellung davon, was ich brauche und ansonsten immer irgendwen zur Hand, den ich um Rat fragen konnte. Und überhaupt – als Ärztin hatte ich ja sowieso zu funktionieren und nicht krank zu sein, das flüsterten mir das medizinische Biotop und meine eigenen Allmachtsfantasien immer wieder ein. Dass ich während meiner Assistenzzeit häufig den Wohnort gewechselt habe, war zusätzlich eine gute Ausrede, warum ich selbst keine medizinische Vertrauensperson hatte und brauchte. Wie hilfreich und wichtig eine solche sein kann, habe ich ein paar Jahre später am eigenen Leib erfahren. Und dabei war ich nicht einmal richtig krank. Doch das Vertrauen in meine Gynäkologin und das Wissen darum, dass sie weiss, wie ich «ticke», was mir wichtig ist und wo meine Grenzen sind, all das wurde plötzlich unendlich wichtig, als ich mich von ihr wegen meines unerfüllten Kinderwunsches beraten und behandeln liess. Wie wichtig, das merkte ich erst so richtig, als sie mal in den Ferien war und ihre Vertreterin – eine durchaus auch sehr nette und sympathische Person – Entscheidungen, um die wir im Vorfeld zusammen gerungen und die wir nach intensiven Diskussionen zusammen bereits gefällt hatten, wieder in Frage stellte. Etwas, das ich in meinem damaligen emotionalen Zustand als sehr belastend empfand.
Diese Erfahrung und meine Absicht, es meinem Mann (kein Mediziner) gleichzutun, der schon seit Jahren in einem Hausarztmodell versichert ist, führten schliesslich dazu, dass ich mir vor ein paar Jahren vornahm, ebenfalls einen Hausarzt oder eine Hausärztin für mich zu suchen. Dies stellte sich allerdings als gar nicht so einfaches Unterfangen heraus. Wie wähle ich einen Hausarzt, eine Hautärztin für mich selbst? Wie finde ich eine Person, die ich genügend gut kenne, um einschätzen zu können, ob ich ihr vertrauen kann, die ich aber trotzdem nicht so gut kenne, dass die Nähe zu gross wird. Jemanden, der mich fast notgedrungen von meiner beruflichen und professionellen Seite her kennt, wo ich dann aber auch eine andere sein kann – schwach und hilfsbedürftig oder überfordert mit banalen Entscheidungen vielleicht. Und mich dann trotzdem nicht zu schämen brauchen. Oder zu eigenwillig vielleicht, wenn ich gewisse Segnungen der modernen Medizin gar nicht in Anspruch nehmen will. Nun, ich habe unterdessen jemanden ausgewählt. Und glücklicherweise noch nicht sehr häufig gebraucht. Und trotzdem war ich in den paar wenigen Momenten froh um diese Aussensicht, auch wenn es sich bis jetzt lediglich um medizinische Bagatellen gehandelt hat. Bisweilen frage ich mich, ob sich der Kollege ähnliche Gedanken macht, wenn er meinen Namen in seiner Agenda auftauchen sieht, wie ich, wenn ich denjenigen von Frau M. entdecke. Doch zumeist bin ich einfach dankbar, dass er mich in diesen Momenten primär als Patientin behandelt, obwohl er mich auch als Kollegin kennt. Und halte es für völlig korrekt, wenn er mir eine Rechnung stellt, wie er sie jeder anderen Patientin auch stellen würde. So bin ich zuversichtlich, dass ich mich auch auf ihn verlassen kann, wenn mich das Schicksal mit ernsthafteren gesundheitlichen Herausforderungen konfrontieren sollte. Nur – aufgrund seines Alters wird er im Laufe der nächsten Jahre wohl irgendwann mal in Pension gehen, und ich muss mich erneut mit der leidigen Wahl einer Hausärztin oder eines Hausarztes für mich selbst auseinandersetzen. Hätte ich nicht vielleicht besser a priori eine jüngere Kollegin oder einen jüngeren Kollegen wählen sollen?
alexandra.roellin[at]hin.ch
1 Kay M, Mitchell G, Clavarino A, Doust J. Doctors as patients: a systematic review of doctors’ health access and the barriers they experience. Br J Gen Pract. 2008 Jul;58(552):501–8.
2 Schulz S, Hecker F, Sauerbrey U, Wolf F. Illness behaviour and influencing aspects of general practitioners in Germany and their use of the health care system: a qualitative study. BMJ Open. 2022 Sep;12(9):e051404.