Lehre
UNIL, Biologische und Medizinische Fakultät, 3. Medizinstudienjahr, Modul B3.6 – Immersion communautaire 2022
Shared-Concern-Methode: Ein wirksamerer Umgang mit jungen Mobbing-Opfern?
Medizinstudierende im dritten Jahr an der Universität Lausanne
Eintauchen in eine Gemeinschaft («Immersion communautaire») – Medizinstudierende in der Feldforschung
Vier Wochen lang betreiben Medizinstudierende im dritten Jahr an der Universität Lausanne Feldforschung zu einer Frage ihrer Wahl aus vier allgemeinen Themenbereichen (Klima, Familie, Risiken und Stigmatisierung im Jahr 2022). Ziel des Moduls ist, den angehenden Ärztinnen und Ärzten die nicht biomedizinischen Bestimmungsfaktoren der Gesundheit, der Krankheit und der medizinischen Praxis näherzubringen: Lebensstile, psychosoziale und kulturelle Faktoren, Umwelt, politische Entscheidungen, wirtschaftliche Einschränkungen, ethische Fragen usw. In Gruppen von vier oder fünf Personen beginnen die Studierenden mit der Definition einer originellen Forschungsfrage und der Durchsuchung der wissenschaftlichen Literatur dazu. Während ihrer Forschungsarbeit kommen sie in Kontakt mit dem Netzwerk von Gemeinschaftsakteuren, Fachpersonen oder Patientenorganisationen, deren Rollen und jeweiligen Einfluss sie untersuchen. Jede Gruppe wird von einer Tutorin oder einem Tutor betreut, der an der Biologischen und Medizinischen Fakultät der Universität Lausanne, der Haute École de la Santé La Source in Lausanne oder einer anderen Partner-Bildungsinstitution lehrt. Am Ende des Moduls präsentieren die Studierenden die wichtigsten Ergebnisse ihrer Arbeiten an einem zweitägigen Kongress.
Seit rund zehn Jahren haben mehrere Studierendengruppen die Möglichkeit, ihre Arbeit im Rahmen eines interprofessionellen Immersionsprojekts in der Gesellschaft durchzuführen, das in Zusammenarbeit mit der Haute École de la Santé La Source veranstaltet wird. Die Gruppe führt die Feldforschung nach dem Immersionsprinzip vor Ort in einer Schweizer Region durch (Aufenthalt von 7 bis 10 Tagen) und wird dabei von ihren Tutorinnen und Tutoren pädagogisch begleitet. Aus den Arbeiten werden vier zur Veröffentlichung in Primary and Hospital Care ausgewählt.
Eintauchen in eine Gemeinschaft der Biologischen und Medizinischen Fakultät der UNIL unter der Leitung von Prof. Patrick Bodenmann (Verantwortlicher), Dr. Francis Vu (Koordinator), Meltem Bukulmez und Mélanie Jordan (Sekretariat), Prof. Thierry Buclin, Dr. Aude Fauvel, Dr. Véronique Grazioli, Dr. Nicole Jaunin Stalder, Dr. Yolanda Müller, Sophie Paroz, Dr. Béatrice Schaad und Prof. Madeleine Baumann (HEdS La Source).
Einleitung
Mobbende Personen in die Lösung von Mobbing-Situationen* unter Schülerinnen und Schülern einbeziehen, statt sie zu bestrafen? Darauf beruht die «Shared-Concern-Methode» (Methode der geteilten Sorge – SCM), die 2015 im Kanton Waadt eingeführt wurde. Sie umfasst Einzelgespräche mit den mutmasslich mobbenden Personen und den Zuschauerinnen und Zuschauern auf der Grundlage eines nicht urteilenden Ansatzes. Die Methode zielt auf die Stärkung ihrer Empathie mit den Mobbing-Opfern und Brechung der Gruppendynamik ab, statt sich vorrangig mit den Leiden der Opfer zu befassen [1].
Mobbing unter Schülerinnen und Schülern erhöht die Suizidgefährdung von Jugendlichen [2]. In der Schweiz gaben 2018 rund 13% der 15-Jährigen an, dass man sich in den vorangegangenen 12 Monaten mehrmals pro Monat über sie lustig gemacht hat [3]. Laut derselben Studie erklärten 11% der 15-Jährigen, dass mehrmals pro Monat gemeine Gerüchte über sie verbreitet wurden [3]. Selbstmord war 2019 in der Schweiz zudem unter 10- bis 14-Jährigen die zweithäufigste und unter 15- bis 19-Jährigen die häufigste Todesursache [4]. Eine Studie im Kanton Waadt zeigte nach Anwendung der SCM in 88% eine Verbesserung der Mobbing-Situationen sowie eine Zufriedenheit der SCM-Teams von 98% [5].
Zu den Auswirkungen der SCM auf die mentale Gesundheit stehen nur wenige Daten zur Verfügung, und Suizidgedanken wurden bisher nicht als Indikator für die Wirksamkeit einer Interventionsmethode herangezogen. Überdies zeigte keine Studie einen Kausalzusammenhang zwischen dem Verlauf einer Mobbing-Situation und der Entwicklung der mentalen Gesundheit bzw. der Suizidalität des Opfers. Vor diesem Hintergrund haben wir uns mit den von der Schulgemeinschaft wahrgenommenen Auswirkungen der SCM auf die mobbingassoziierten Suizidgedanken unter Jugendlichen beschäftigt. Unser Ziel war insbesondere, die wahrgenommene Wirksamkeit der Interventionsmassnahmen zu verstehen, die im Kanton Waadt in Mobbing-Situationen unter 10- bis 16-Jährigen empfohlen werden.
Methoden
Im Juni 2022 führten wir 10 semistrukturierte Interviews mit relevanten Akteurinnen (Lehrpersonen der Sekundarstufe, Schulmediatorin, Doyenne, Schulpsychologin, Kinderärztin, Schulpflegefachperson, Verantwortliche der Waadtländer Politik in Bezug auf die Gesundheit Jugendlicher, Mitglied einer Waadtländer Vereinigung). Folgende Themen wurden in einem Interview-Leitfaden berücksichtigt: 1) Auswirkungen auf das Opfer; 2) Vorzüge und Grenzen der SCM; 3) Ansätze und erwünschte Verbesserungen des Umgangs mit Mobbing und 4) wahrgenommener Zusammenhang zwischen Anwendung der SCM und Verringerung von Suizidgedanken. Jedes Interview wurde aufgezeichnet. Ein Analyseschema wurde entwickelt, um die Aussagen der diversen Gesprächspartnerinnen zu vergleichen. Auf dieser Grundlage haben wir eine Skala der Häufigkeit der geäusserten Meinungen und Erfahrungen erstellt. Zu Beginn jeder Aufzeichnung wurde um eine mündliche Einwilligung gebeten. Die Gesprächspartnerinnen wurden darüber informiert, dass die Interviews vertraulich sind und die Aufzeichnungen nach der Studie gelöscht werden.
Ergebnisse
Die Mehrheit der Interviewten erwähnt als Auswirkung von Mobbing ein Absinken der schulischen Leistungen (schlechtere Ergebnisse und Fehlstunden) und eine Verschlechterung der mentalen Gesundheit. Ebenso genannt werden suizidale Krisen und Folgen für die körperliche Gesundheit (Adipositas, funktionelle Störungen, Essstörungen, Kopfschmerzen, Müdigkeit). Generell scheinen die Auswirkungen vielfältig und schwerwiegend zu sein: «Diese Kinder, denen es nicht gut geht, verlieren oft auf mehreren Ebenen den Boden»; «Mobbing wirkt sich auf die Schülerinnen und Schüler sehr schädlich aus.»
Hervorgehoben wird die Kontraproduktivität der Bestrafung der mobbenden Schülerinnen und Schüler: «Auf Konfrontationskurs zu gehen, ermöglichte nicht diese Empathie, die man eben [durch eine SCM-Intervention] bei den Schülerinnen und Schülern hervorrufen kann.» Die von einigen Personen genannte Mediation erscheint nicht als überzeugendes Mittel: «Man ging mit solchen Situationen wie mit einem Konflikt um, doch Mobbing ist eine asymmetrische Situation»; «… die Politik war davon überzeugt oder dazu verpflichtet (oder beides), einen Aktionsplan umzusetzen.» Seit der Einführung der SCM 2015 konnte das Problem des Mobbings bewusster gemacht werden.
Die SCM scheint in den meisten Situationen eine wirksame Intervention zu sein. Es zeigt sich, dass sie die Empathie und die psychosozialen Kompetenzen der Mobbenden und der Zuschauerinnen und Zuschauer stärkt und dass sie die Idee einbringt, dass jede Person, mit der man spricht, ihre Haltung ändern kann. Unterstrichen wird, dass sich die SCM positiv auf das Opfer auswirkt, wenn das Mobbing aufhört, dass man sich um diese Schülerinnen und Schüler jedoch zusätzlich zur SCM kümmern muss. Bezug nehmend auf die Grenzen der Methode wird die Schwierigkeit genannt, einen Kausalzusammenhang zwischen der Lösung einer Mobbing-Situation und der Verbesserung der mentalen Gesundheit des Opfers festzustellen, da Letztere multifaktoriell ist.
Die Anwendung der SCM bleibt im Kanton der Entscheidung der Direktionen und der Schulen überlassen: «Sie ist noch nicht ausreichend weit verbreitet, der Druck auf die Schulen und Direktionen ist noch zu gering […]. Ich bedaure eher, dass sie nicht angewandt wird, als dass sie nicht funktioniert.» Die SCM scheint sich allerdings immer weiter zu verbreiten, auch wenn sie nicht in jedem Kontext anwendbar ist (etwa wenn das Opfer ein hohes Suizidrisiko aufweist). Ausserdem wurden als Aspekte, die die Methode schwer anwendbar machen können, erwähnt: Lücken in der Prävention hinsichtlich des allgemeinen Schulklimas; mangelnde Führung in den Teams; Umfang der nötigen Anstrengungen; mangelnde Gründlichkeit bei der Anwendung der Methode; zu geringe Zahl an Fachpersonen in der Schule, die für die Methode ausgebildet sind. Eine weitere Einschränkung für die Anwendung der SCM ist, dass nicht alle Mobbing-Situationen unter Schülerinnen und Schülern erkannt werden: «Die Fälle [von Mobbing], die wir erkennen, sind die Spitze des Eisbergs.»
Darüber hinaus geht hervor, dass die betreuenden Erwachsenen die Auswirkungen von Mobbing anerkennen müssen. Das Schulklima muss insgesamt verbessert werden, und als wesentliche Massnahme zur Vorbeugung gegen Mobbing sollte das Augenmerk frühzeitig auf den Erwerb sozioemotionaler Kompetenzen durch die Kinder liegen: «[...] Schon ab dem Kindergarten sollte an diesem Respekt gearbeitet werden, [...] sollte über Emotionen und Unterschiede in der Klasse gesprochen werden.» Die Bedeutung der interprofessionellen Zusammenarbeit für das Erkennen von Mobbing und den Umgang damit wird ebenfalls hervorgehoben.
Diskussion
Aufgrund der Analyse der Wahrnehmungen unserer Gesprächspartnerinnen lässt sich schliessen, dass die SCM als wirksames Mittel anerkannt wird, um eine Mobbing-Situation zu beruhigen und die negative Dynamik dieses Phänomens zu brechen. Die SCM erscheint vielversprechend im Vergleich zu den bisherigen Vorgehensweisen, die hauptsächlich auf Anprangern und Sanktionieren oder auf Konflikt-Management beruhen. Wir konnten nicht dokumentieren, dass ein Zusammenhang zwischen der Lösung einer Situation und der Verringerung von Suizidgedanken wahrgenommen wurde, vor allem aufgrund dessen, dass nur wenige der Interviewten mit einer Situation konfrontiert waren, in der Suizidgedanken eine Rolle spielten.
Unsere Ergebnisse zeigen die Zufriedenheit der Schulgemeinschaft mit der SCM und stehen somit im Einklang mit der Fachliteratur. Unsere Studie vervollständigt diese Feststellung mit zwei Empfehlungen: Erstens sollte die SCM angesichts der bisher positiven Erfahrungen in den Einrichtungen, in denen sie bereits angewandt wird, weiter umgesetzt werden. Zweitens sollte die SCM mit einer verstärkten Detektion einhergehen und sollten die Opfer verstärkt betreut werden (siehe Abb. 1).
Das Poster zum Text ist als separater Online-Appendix verfügbar unter www.primary-hospital-care.ch
Verdankung
Wir danken unseren Gesprächspartnerinnen für die wertvolle Zusammenarbeit, unserem Tutor, Dr. Olivier Simon, für die zweckdienlichen Ratschläge sowie dem Komitee des Immersionsmoduls Gemeinschaftsgesundheit an der Biologischen und Medizinischen Fakultät der UNIL für die Möglichkeit dieser Publikation.
Korrespondenzadresse
Dr Alexandre Ronga
Rue du Bugnon 44
CH-1011 Lausanne
dvms.imco[at]unisante.ch
Literatur
1 État de Vaud. Harcèlement-intimidation entre élèves: clarifications théoriques [online video]. 2022 [cited 2022 Oct 26]. Available from: https://url.defvd.ch/mppcapsulea.
2 van Geel M, Vedder P, Tanilon J. Relationship between peer victimization, cyberbullying, and suicide in children and adolescents: a meta-analysis. JAMA Pediatr. 2014 May;168(5):435–42.
3 Ambrosetti A, Crotta F, Eckstein B, Erzinger A Fässler U, Hauser M et al. PISA 2018: Les élèves de Suisse en comparaison internationale [Internet]. Bern and Geneva: SEFRI/CDIP and Consortium PISA.ch; 2019 [cited 2022 Jun 7]. Available from: https://www.pisa-schweiz.ch/wp-content/uploads/2021/09/PISA2018_ElevesCHComparaisonInternationale_fra.pdf.
4 World Health Organization [Internet]. Geneva; The Organization; 2019 [cited 2022 Jun 13]. Global health estimate: top 10 causes of death in Switzerland for both sexes aged 10 to 14 years; [about 3 screens]. Available from: https://www.who.int/data/gho/data/themes/mortality-and-global-health-estimates/ghe-leading-causes-of-death.
5 État de Vaud, site officiel [Internet]. Lausanne: BIC; 2020 [cited 2022 Jun 15]. Harcèlement-intimidation et violences entre élèves; [about 5 screens]. Available from: https://www.vd.ch/themes/formation/sante-a-lecole/prestations/harcelement-intimidation-et-violences-entre-eleves/.
6 Dayer C. Quand les violences se donnent un genre: enjeux et pratiques de management. 3D – Journal de la Fédération des associations des directeurs et directrices des établissements de formation officiels vaudois. 2020 May;5:10–13. Available from: https://www.vd.ch/fileadmin/user_upload/organisation/dfj/spj/PSPS/CarolineDayer_3D_2020.pdf
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