Lehre

Das Beispiel der Analgetika-Verschreibung

Voreingenommenheit im Gesundheitswesen angesichts akuter Schmerzen bei dunkelhäutigen Menschen

DOI: https://doi.org/10.4414/phc-d.2023.10681
Veröffentlichung: 06.09.2023

Deniz Brahimi, Verena Braun, Aleksandra Ivanovic, Emma Perez, Jérémy Perriraz

Medizinstudierende im dritten Jahr an der Universität Lausanne

Eintauchen in eine Gemeinschaft («Immersion communautaire») – Medizinstudierende in der Feldforschung

Vier Wochen lang betreiben Medizinstudierende im dritten Jahr an der Universität Lausanne Feldforschung zu einer Frage ihrer Wahl aus vier allgemeinen Themenbereichen (Klima, Familie, Risiken und Stigmatisierung im Jahr 2022). Ziel des Moduls ist, den angehenden Ärztinnen und Ärzten die nicht biomedizinischen Bestimmungsfaktoren der Gesundheit, der Krankheit und der medizinischen Praxis näherzubringen: Lebensstile, psychosoziale und kulturelle Faktoren, Umwelt, politische Entscheidungen, wirtschaftliche Einschränkungen, ethische Fragen usw. In Gruppen von vier oder fünf Personen beginnen die Studierenden mit der Definition einer originellen Forschungsfrage und der Durchsuchung der wissenschaftlichen Literatur dazu. Während ihrer Forschungsarbeit kommen sie in Kontakt mit dem Netzwerk von Gemeinschaftsakteuren, Fachpersonen oder Patientenorganisationen, deren Rollen und jeweiligen Einfluss sie untersuchen. Jede Gruppe wird von einer Tutorin oder einem Tutor betreut, der an der Biologischen und Medizinischen Fakultät der Universität Lausanne, der Haute École de la Santé La Source in Lausanne oder einer anderen Partner-Bildungsinstitution lehrt. Am Ende des Moduls präsentieren die Studierenden die wichtigsten Ergebnisse ihrer Arbeiten an einem zweitägigen Kongress.

Seit mehr als zehn Jahren haben mehrere Studierendengruppen die Möglichkeit, ihre Arbeit im Rahmen eines interprofessionellen Immersionsprojekts in der Gesellschaft durchzuführen, das in Zusammenarbeit mit der Haute École de la Santé La Source veranstaltet wird. Die Gruppe führt die Feldforschung nach dem Immersionsprinzip vor Ort in einer Schweizer Region durch (Aufenthalt von 7 bis 10 Tagen) und wird dabei von ihren Tutorinnen und Tutoren pädagogisch begleitet. Aus den Arbeiten werden vier zur Veröffentlichung in Primary and Hospital Care ausgewählt.

Eintauchen in eine Gemeinschaft der Biologischen und Medizinischen Fakultät der UNIL unter der Leitung von Prof. Patrick Bodenmann (Verantwortlicher), Dr. Francis Vu (Koordinator), Meltem Bukulmez und Mélanie Jordan (Sekretariat), Prof. Thierry Buclin, Dr. Aude Fauvel, Dr. Véronique Grazioli, Dr. Nicole Jaunin Stalder, Dr. Yolanda Müller, Sophie Paroz, Dr. Béatrice Schaad und Prof. Madeleine Baumann (HEdS La Source).

Einleitung

Vielerorts erfahren Patientinnen und Patienten mit dunkler Hautfarbe im Vergleich zu Hellhäutigen auch heute noch Ungleichbehandlung in der medizinischen Versorgung. Dies zeigen mehrere Studien aus den Vereinigten Staaten, die auf eine ungleiche Anwendung von Analgetika bei dunkelhäutigen Menschen hinweisen [1–3]. Demzufolge erhält diese Population Opioid-Analgetika signifikant weniger häufig und in geringerer Dosierung als hellhäutige Menschen. Eine Erklärung dafür könnten die falschen Vorstellungen über biologische Unterschiede zwischen Dunkel- und Hellhäutigen und über mögliches Drogensuchtverhalten bei dunkelhäutigen Patientinnen und Patienten sein [4, 5].

Bisher wurde die Frage der Ungleichbehandlung und rassistischen Benachteiligung ausserhalb der Vereinigten Staaten nur wenig untersucht. In der Schweiz ist die Datenlage besonders dürftig [6]. Durch diese Forschungsarbeit soll beurteilt werden, ob die Situation in den Vereinigten Staaten auf die Schweiz übertragbar ist, und ein Beitrag zum besseren Verständnis der allfälligen Verzerrungen bei der Versorgung dunkelhäutiger Menschen mit akuten Schmerzen in der Romandie geleistet werden.

Unsere Ziele lauteten, allfällige Unterschiede bei der Schmerzbehandlung zwischen dunkel- und hellhäutigen Patientinnen und Patienten zu identifizieren, die Gründe dafür und den Standpunkt der Gesundheitsfachpersonen zu diesen Unterschieden zu untersuchen, möglicherweise bestehende Massnahmen gegen Ungleichbehandlung zu beschreiben und weitere Vorbeugemassnahmen, die man treffen könnte, zu identifizieren.

Methode

Wir haben semistrukturierte Interviews mit elf Fachpersonen geführt: Dabei handelte es sich um zwei Notfallmediziner, eine Soziologin, einen Historiker, eine Verantwortliche eines Schmerzzentrums, eine Triage-Pflegefachperson, eine Anästhesie-Pflegefachperson, eine dunkelhäutige Pflegefachperson, einen Psychiater, der Mitglied von «Appartenance» ist (einer Organisation, die sich mit der Gesundheit von Migrantinnen und Migranten befasst), eine Pflegefachperson, die Mitglied von «Point d’Eau» ist (einer Organisation, die sich mit der Gesundheit benachteiligter Bevölkerungsgruppen befasst), sowie einen Professor für klinische Pharmakologie. Mittels Informationsblatt klärten wir die Interviewten vor dem Gespräch über das Verfahren und die Ziele unserer Forschungsarbeit auf. Wir beschränkten uns in unserer Forschungsarbeit auf eine Meinungsbefragung und garantierten den Teilnehmenden, dass sie keinesfalls Gegenstand eines Urteils werden.

Identifizierende Daten wurden nicht erfragt. Die Aufzeichnungen der Interviews, die zu Analysezwecken nötig waren und denen die Teilnehmenden zugestimmt hatten, wurden am Ende der Arbeit gelöscht.

Grundlage des Interview-Leitfadens (siehe Kasten Thema 1-3) war die Fachliteratur über den Bedarf und die derzeitigen Praktiken in den Vereinigten Staaten [1–5]. Die gesellschaftliche und kulturelle Definition einiger Begriffe im Rahmen dieser Arbeit haben wir der US-amerikanischen Fachliteratur entnommen. So bezeichnet der Begriff «dunkelhäutige Person» in dieser Studie schwarze Frauen und Männer afrikanischer Abstammung und der Begriff «Ethnie» eine Gruppe von Menschen, die durch bestimmte Zivilisationsmerkmale verbunden sind, insbesondere Sprache und Kultur.

Schliesslich haben wir die Interview-Aufzeichnungen analysiert und die wichtigsten Aussagen herausgearbeitet, die wir nach Themen und Unterthemen geordnet haben.

Ergebnisse

Die Mehrheit der Interviewten berichtete von keinem Unterschied in der Behandlung akuter Schmerzen zwischen dunkel- und hellhäutigen Menschen in ihrer klinischen Praxis. Die Verschreibung von Analgetika unterschied sich zwischen den Ethnien also nicht. Gleichzeitig geht die grosse Mehrheit der Interviewten von der Existenz stillschweigender rassistischer Verzerrungen aus. Einige Gesundheitsfachpersonen konnten sogar eine schlechtere Behandlung akuter Schmerzen bei Dunkelhäutigen beobachten.

In den Interviews wiesen die Gesprächspartnerinnen und -partner häufig darauf hin, dass die Lage in den Vereinigten Staaten nicht auf die Romandie übertragbar ist. Die historischen und soziokulturellen Rahmenbedingungen erklären diesen Unterschied. In den Vereinigten Staaten ist die Geschichte der Sklaverei weiterhin sehr wirkmächtig, während dieses Problem in der Schweiz weniger relevant ist. Ausserdem ist die dunkelhäutige Bevölkerungsgruppe in der Schweiz weniger zahlreich als in den Vereinigten Staaten und das Gesundheits- und Sozialsystem der beiden Länder nicht vergleichbar. Darüber hinaus wird die dunkelhäutige Bevölkerungsgruppe häufiger mit einem niedrigen sozioökonomischen Niveau assoziiert, was sich ungünstig auf die optimale Versorgung auswirkt. Manche Interviewte erklärten, dass ein leichter biologischer Unterschied zwischen der Schmerzwahrnehmung bei dunkel- und bei hellhäutigen Menschen bestehe, dass dieser aber im Vergleich zu den soziokulturellen und individuellen Faktoren vernachlässigbar sei. Ausserdem erwähnt wurde ein kultureller Unterschied in der Art und Weise, wie Schmerzen zum Ausdruck gebracht werden.

Thema 1: Kenntnisse über die Schmerzbehandlung bei Dunkelhäutigen
Frage 1Welche Ungleichheiten bestehen Ihrer Ansicht nach bei der Schmerzbehandlung dunkelhäutiger Menschen?
NachfrageWelche biologischen Unterschiede bestehen zwischen dem Schmerzempfinden dunkel- und hellhäutiger Menschen?
NachfrageExistiert ein Schmerzbehandlungsprotokoll oder -algorithmus?
Falls ja, wird der Begriff «Ethnie» darin berücksichtigt?
NachfrageIn den Vereinigten Staaten bekommen Dunkelhäutige weniger Analgetika verschrieben. Was könnte Ihrer Ansicht nach die Ursache sein?
NachfrageDenken Sie, dass sich die Situation in den USA in der Schweiz widerspiegelt?
Thema 2: Erfahrungen mit der Schmerzbehandlung Dunkelhäutiger
Frage 2Welche Erfahrungen haben Sie mit der Schmerzbehandlung dunkelhäutiger Menschen?
Frage 3Haben Sie beobachtet, dass dunkelhäutige Menschen anders medizinisch behandelt werden als hellhäutige?
NachfrageHaben Sie dies bei Kolleginnen und Kollegen beobachtet?
NachfrageSind Sie bei der Bewertung der Schmerzintensität bei Dunkelhäutigen auf Schwierigkeiten gestossen?
NachfrageHaben Sie den Eindruck, dass Ihre dunkelhäutigen Patientinnen und Patienten Schmerzen anders zum Ausdruck bringen?
NachfrageHaben Sie den Eindruck, dass die dunkelhäutigen Patientinnen und Patienten mit der Behandlung zufrieden sind (z.B.: Verlangen sie mehr Analgetika?)
NachfrageIn den USA zeigen Studien, dass Dunkelhäutige aus zwei Gründen weniger Analgetika verschrieben bekommen:
1) Sie würden Schmerzen besser ertragen,
2) sie hätten ein grösseres Abhängigkeitsrisiko.
Denken Sie, dass bei Dunkelhäutigen eine stärkere Anfälligkeit besteht?
Thema 3: Vorbeugestrategien und -massnahmen
Frage 4Existieren Massnahmen, um dieser Ungleichbehandlung vorzubeugen?
NachfrageWas könnten wir einführen, um diese Ungleichbehandlung in der medizinischen Versorgung zu vermeiden?

Einige Interviewte bedauern den Mangel an Fachliteratur, der durch den Mangel an Daten leicht erklärbar ist. In den medizinischen Unterlagen wird der Begriff «Ethnie» in der Tat nicht genannt.

Im Hinblick auf bestehende Vorbeugemassnahmen gilt im CHUV ein Protokoll für die Schmerzbehandlung, das auf der subjektiven Sicht der Patientinnen und Patienten beruht. Die Ethnie ist keine Kategorie des Protokolls.

Das beste Mittel zur Vermeidung der Ungleichbehandlung dunkelhäutiger Personen ist unseren Gesprächspartnerinnen und -partnern zufolge, die Sensibilisierung und Aufklärung der Gesundheitsfachpersonen hinsichtlich ihrer eigenen rassistisch begründeten Voreingenommenheit. Eine weitere Massnahme könnte die Förderung der Diversität des Gesundheitspersonals sein, etwa durch Quoten.

Anhand der für die Schweiz verfügbaren Daten können wir also keine Ungleichbehandlung quantifizieren. Allerdings geht aus den semistrukturierten Interviews, die wir geführt haben, eine subjektive Wahrnehmung hervor.

Diskussion

Die Mehrheit der Interviewten geht von der Existenz von systemischem Rassismus aus und folglich von stillschweigenden rassistischen Verzerrungen, die in der Schweiz potenziell zu einer schlechteren medizinischen Versorgung Dunkelhäutiger führen könnten. Wie im Abschnitt «Ergebnisse» erwähnt, wiesen einige Gesundheitsfachpersonen sogar auf konkrete Fälle hin, die die Existenz stillschweigender Verzerrungen mit Auswirkungen auf die Versorgung dunkelhäutiger Patientinnen und Patienten belegen. Dies bestätigt auch die Fachliteratur, während die Fälle von Rassismus in der Schweiz zunehmen [6]. Gleichwohl unterscheidet sich der Schweizer Kontext nach wie vor stark von der Situation in den Vereinigten Staaten, die von Sklaverei und der Opioidkrise geprägt ist. In den Vereinigten Staaten beeinflussen die Vorurteile über die Abhängigkeit und höhere Schmerztoleranz bei Dunkelhäutigen die medizinische Versorgung stärker [4, 5], während in der Schweiz andere soziokulturelle Faktoren überwiegen. Zum Beispiel unterscheidet sich die Art und Weise, wie Schmerzen zum Ausdruck gebracht werden, von einer Kultur zur anderen, was die Interpretation der Schmerzintensität für die Gesundheitsfachperson erschwert.

Den Interviewten zufolge erhalten dunkelhäutige Patientinnen und Patienten in der Romandie nicht weniger Analgetika, vor allem weil die Protokolle zur Schmerzbewertung auf dem subjektiven Empfinden der Betroffenen beruhen und die Ethnie nicht berücksichtigen. Wir verfügen allerdings über keine Daten, um diese Hypothese zu bestätigen, und können darum das Ausmass eines diesbezüglich in der Schweiz möglicherweise bestehenden Problems nicht quantifizieren. Dies würde die Analyse der Patientendossiers erfordern, die Arbeit wäre indes aufgrund des begrenzten Zugangs zu den Daten und der Nichtberücksichtigung der Ethnie in den Unterlagen schwierig.

Zum Zwecke der Vorbeugung bleibt die Aufklärung der Gesundheitsfachpersonen über die stillschweigenden rassistisch begründeten Verzerrungen und die Auswirkungen der transkulturellen Unterschiede auf die medizinische Versorgung weiter unverzichtbar.

Eine Limitation unserer Studie ergibt sich daraus, dass es sehr schwierig, ja unmöglich ist, die stillschweigende rassistisch begründete Voreingenommenheit der Gesundheitsfachpersonen zu belegen. Die Befragten könnten in unseren qualitativen Interviews zudem dem Phänomen der sozialen Erwünschtheit unterlegen sein. «Meiner Ansicht nach gibt es gute Gründe dafür, von der Existenz von Diskriminierung in unserer Gesundheitsversorgung auszugehen, die Schwierigkeit besteht darin, sie aufzuzeigen», so ein Notfallmediziner des CHUV.

Das Poster zum Text ist als separater Online-Appendix verfügbar unter www.primary-hospital-care.ch

Verdankung

Wir danken Dr. Joseph Studer für die Betreuung und Unterstützung während unserer Arbeit, Prof. Thierry Buclin und Prof. Patrick Bodenmann für das Korrekturlesen sowie allen Personen, die an den Interviews teilgenommen haben.

Korrespondenzadresse

Dr. med. Alexandre Ronga

Rue du Bugnon 44

CH-1011 Lausanne

dvms.imco[at]unisante.ch

Literatur

1 Berger AJ, Wang Y, Rowe C, Chung B, Chang S, Haleblian G. Racial disparities in analgesic use amongst patients presenting to the emergency department for kidney stones in the United States. Am J Emerg Med. 2021 Jan;39:71–4. https://doi.org/10.1016/j.ajem.2020.01.017 PMID:31987745

2 Meghani SH, Byun E, Gallagher RM. Time to take stock: a meta-analysis and systematic review of analgesic treatment disparities for pain in the United States. Pain Med. 2012 Feb;13(2):150–74. https://doi.org/10.1111/j.1526-4637.2011.01310.x PMID:22239747

3 Ezenwa MO, Ameringer S, Ward SE, Serlin RC. Racial and ethnic disparities in pain management in the United States. J Nurs Scholarsh. 2006;38(3):225–33. https://doi.org/10.1111/j.1547-5069.2006.00107.x PMID:17044339

4 Hoffman KM, Trawalter S, Axt JR, Oliver MN. Racial bias in pain assessment and treatment recommendations, and false beliefs about biological differences between blacks and whites. Proc Natl Acad Sci USA. 2016 Apr;113(16):4296–301. https://doi.org/10.1073/pnas.1516047113 PMID:27044069

5 Singhal A, Tien YY, Hsia RY. Racial-Ethnic Disparities in Opioid Prescriptions at Emergency Department Visits for Conditions Commonly Associated with Prescription Drug Abuse. PLoS One. 2016 Aug;11(8):e0159224. https://doi.org/10.1371/journal.pone.0159224 PMID:27501459

6 Logean S. Les soignants ne sont pas à l’abri des préjugés. Le Temps [en ligne]. 27 juillet 2020. Disponible sur: https://www.letemps.ch/sciences/soignants-ne-labri-prejuges

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