Selbstmanagement für Ärztinnen und Ärzte

Die Anatomie der Zeit

Themenschwerpunkt
Ausgabe
2023/04
DOI:
https://doi.org/10.4414/phc-d.2023.10683
Prim Hosp Care Allg Inn Med. 2023;23(04):121-123

Affiliations
Asklepios Klinik Nord – Heidberg, Hamburg

Publiziert am 05.04.2023

Eine hohe Arbeitsbelastung, Zeitdruck, exponentieller Wissenszuwachs im medizinischen Bereich und die ständige Konfrontation mit existenziellen Situationen prägen den Arbeitsalltag von Medizinerinnen und Medizinern. Diese Komplexität kann – neben den Herausforderungen des Privatlebens – schnell zu einem Gefühl der Überforderung, Abhängigkeit und Fremdbestimmung führen. Was kann dagegen getan werden?
Stressbelastung, Burnout- und Depressionssymptome bzw. Suizidalität wurden in einer aktuellen Studie aus Deutschland bei jungen Klinikern bei 90%, 27% bzw. 11% objektiviert [1]. Co-Faktoren dieser alarmierenden Statistik sind ein ausgeprägtes Anspruchsdenken bei gleichzeitiger Abnahme der Achtsamkeit gegenüber der eigenen Gesundheit. Die aktuellen Zahlen, Daten und Fakten zur dringlichen Notwendigkeit von Veränderung sprechen eine klare Sprache: In einer aktuellen repräsentativen Umfrage des Marburger Bundes möchten 40% der Ärztinnen und Ärzte nicht in diesem Beruf weiterarbeiten. Die Begründungen sind ebenso vielfältig wie nachvollziehbar:

Mehr Rollen, mehr Stress

Der gemeinsame Nenner liegt in der Verknappung von Ressourcen bei den Leistungserbringern und den Kostenträgern: Den Geschäftsführungen mangelt es an Personal, dem Personal fehlt es an Energie und Motivation, und die Kostenträger fordern mehr Wirtschaftlichkeit, Qualität und Patientenzentrierung. Aus diesem Status quo lässt sich die nunmehr dringliche Notwendigkeit von Erneuerung ableiten – auch die Notwendigkeit von Selbstverwirklichung, Individualisierung und Flexibilität. Die Voraussetzung für diesen Paradigmenwechsel ist die bedingungslose Übernahme von Verantwortung, insbesondere die Übernahme von Selbstverantwortung. Und diese kann ganz klein beginnen: beim Selbstmanagement von Ärztinnen und Ärzten.
Der Einfluss unserer sozialen Rollen (Assistentensprecherin, Weiterbildungsassistentin, Tochter, Mutter, Ehefrau, Elternpflegschaftsvorsitzende, Judoka etc.) auf die Komplexität unseres Lebens kann visualisiert werden: Jeder Punkt ähnelt einer Rolle und jede Linie ihrer gegenseitigen Abhängigkeit. Wenn wir versuchen, 4 Rollen zu kontrollieren, 8 zu verwalten oder mit 12 Rollen zu jonglieren, müssen wir bedenken, dass dies zu 6, 25 und 66 Interaktionen bzw. potenziellen Interessenkonflikten führt.
Da die Anzahl der Rollen linear wächst, demonstrieren ihre Interaktionen die Kraft des exponentiellen Wachstums! Mit jeder neuen Rolle in Ihrem vollen Terminkalender werden Interaktionen und Konflikte immer schwieriger zu vermeiden. Die Komplexität für Kliniker wird durch lange Arbeitszeiten, Wochenendarbeit, Bereitschaftsdienst, Schlafentzug und den Umgang mit potenziellen somatischen Störungen noch verschärft. Hinzu kommen strukturelle Defizite, beispielsweise Redundanzen und Mehrarbeit aufgrund von Digitalisierungsbrüchen. Auch übernehmen Ärztinnen und Ärzte häufig Mehrarbeit oder nichtärztliche Tätigkeiten, weil das Personal nicht reicht. Zum anderen kommen kulturelle Diskrepanzen hinzu, die auf klassischen Generationskonflikten basieren. Die meisten strukturellen und kulturellen Defizite führen dazu, dass Ärztinnen und Ärzte eine unzureichende Selbstwirksamkeit empfinden.
Beispiele für klassische organisatorische Paradigmen in den Kliniken sind:
Alle drei Paradigmen sind bedingt durch tradierte Gewohnheiten, Rituale und Systeme und damit Teil der ärztlichen Sozialisation. So ist eine selbst organisierte Mittagspause für klinisch unerfahrenere Kolleginnen und Kollegen schwer umsetzbar, insbesondere wenn Erfahrenere selbst keine Mittagspause machen.

Paradigmenwechsel

Doch gibt es Alternativen, die darauf abzielen, sich einem idealen, weil selbstbestimmten und selbstwirksamen, Arbeitstag anzunähern. So hat es Vorteile, die erste Abteilungsbesprechung des Tages nicht klassisch um 8 Uhr, sondern erst um 12.30 Uhr abzuhalten. Das übergeordnete Ziel der ersten Besprechung des Tages ist es, den Informationsstand der Berufsgruppen zu synchronisieren. Ärzteschaft und Pflegende besprechen sich mit dem Belegungs- und Case-Management. Dieses Treffen kann auch virtuell sein. Auf der Leinwand oder am Bildschirm können die Beteiligten am klinischen Informationssystem aufgenommene Patientinnen und Patienten, klinische Verläufe und geplante Entlassungen besprechen. Auch Fortbildungen, Verweildauern und Problemfälle finden Platz in diesem Forum und erübrigen separate Termine.
Im Gegensatz zum 8-Uhr-Termin sind mittags alle Patientinnen und Patienten visitiert, Vorbefunde organisiert und gesichtet, bestenfalls Konzepte erarbeitet und anberaumt. Das sind die wichtigsten Voraussetzungen für die Evaluation und Entscheidungsfindung. Ein weiterer Vorteil dieser Uhrzeit: Sie ermöglicht eine gemeinschaftliche und festgelegte Mittagspause als Voraussetzung für eine punktgenaue Wiederaufnahme der Arbeit in den Abteilungen. Hemmschuh dafür, eine Auszeit am Mittag einzurichten, sind entkoppelte Termine und zögerliches Wiederaufnehmen der Arbeit. Sind jedoch alle darauf eingestellt, dass Punkt 13.30 Uhr in den Funktionsabteilungen alles weitergeht, ist eine gemeinsame Mittagspause regenerativ und fördert den Gemeinschaftssinn.
Eine zweite Besprechung um 16 Uhr bereitet die Visite und die Funktionsdiagnostik des Folgetages optimal vor (Funktionsplanbesprechung). Nachdem die Mitarbeitenden in der zweiten Tageshälfte alle Neuaufnahmen gesehen und die Dokumentationen abgeschlossen haben, kann der Folgetag vorbereitet werden. Sinnvoll ist, die Patientinnen und Patienten gemeinsam mit den Pflegenden in drei Kategorien einer Entlassungsampel einzuteilen:
So sind alle Behandelnden für den kommenden Morgen vorbereitet: Ärzte schliessen die Dokumentation der sicher und potenziell zu entlassenden Patientinnen und Patienten rechtzeitig ab, ausstehende Untersuchungen der Patientinnen und Patienten in der Kategorie «gelb» werden als «Frühuntersuchung» angemeldet, sodass diese zwischen 8 und 9 Uhr in die Funktionsabteilungen abgerufen werden können. Die Behandelnden können im Verlauf des frühen Vormittags über die Entlassung entscheiden. Auch sonntags sollte der Dienstarzt diese zu priorisierenden Patientinnen und Patienten planen.
Ein sorgfältig vorbereiteter und öffentlich zugänglicher Funktionsplan sorgt an jedem Morgen für einen reibungslosen Start in den Tag. Die frühmorgendliche Blutentnahme und Visite kann en bloc ohne Unterbrechungen durch Rückfragen stattfinden. Patientinnen und Patienten der Kategorie «rot» können zuerst visitiert und mit dem am Vortag vorbereiteten Arztbrief früh entlassen werden. Diese Betten werden früher belegbar, und der Aufnahmeprozess neuer Patientinnen und Patienten zieht sich nicht unnötig in den Tag hinein. Pflegende, Dienstärzte und neue Patientinnen und Patienten werden es danken. Und Ärztinnen und Ärzte können zeitig die Station verlassen oder die Aufnahmeuntersuchung auf der Station terminieren, ohne auf die Bettenaufbereitung, die Zimmerreinigung, den Transportdienst oder die Neuaufnahmen warten zu müssen. Und sollten Sie in diesem Konzept Flexibilität und Spontaneität vermissen, lassen Sie sich versichern, dass sich unerwartete und dringliche Einschübe mit einer festen Tagesstruktur besser kompensieren lassen als ohne. Die Arbeit am und im idealen Tag auf Station soll letztlich Grundlage sein für mehr Selbstwirksamkeit – beruflich wie privat.

Priorität(en)

Eine selbstwirksame Arbeitsmethodik basiert meist auf den drei Prinzipien Priorität, Lebensbereiche und Synergie.
Interessanterweise wurde Priorität bis zum 19. Jahrhundert im Singular gebraucht. Bei genauerer Betrachtung ergibt ein Plural auch keinen Sinn, denn eigentlich kann nur ein Thema zeitgleich bevorzugt behandelt werden. Unsere Aufgaben und Ziele lassen sich entlang dreier Dimensionen priorisieren: Dringlichkeit (x-Achse), Wichtigkeit (y-Achse) und Signifikanz (z-Achse).
Es ist genau anders, als man meint: Priorität sollte stets das Signifikante haben – noch vor dem Wichtigen, und vor allem Dringlichen. Dringlichem sollten wir per se keine Priorität einräumen. Wir sollten uns eher fragen, wie es zu ungeplanten Dringlichkeiten kam, und die Voraussetzungen dafür anpassen. Zugrunde liegende Prozesse, Angewohnheiten und Automatismen sollten wir hinterfragen und umgestalten.
Die Lebensbereiche: Diese Bereiche müssen nicht strikt voneinander getrennt sein; viele Bereiche wirken synergistisch.
© Alexander Ghanem
Unsere Priorität lässt sich überwiegend in den vier Lebensbereichen wiederfinden: Leistung, Beziehung, Gesundheit, und Reflexion. Unsere Gesundheit fördern wir beispielsweise durch gesunde Verhaltensmuster bezüglich Ernährung, körperlicher Aktivität und Schlaf. Jeder Lebensbereich sollte proaktiv, konsistent und diszipliniert gestaltet werden. Ziele und der Status quo der Zielerreichung sollten regelmässig überprüft werden. Hierzu sind frühzeitig in den Kalender eingetragene «Termine mit sich selbst» eine sehr wirksame Methode. Stellen Sie sich eine Welt vor, in der Sie morgens mit dem Fahrrad zur Arbeit fahren, um in einem wertschätzenden und von Vertrauen geprägten Umfeld einem durchweg sinnstiftenden Ziel nachzugehen. Alle vier Lebensbereiche überschneiden sich nun massgeblich und verstärken die Wertigkeit jedes einzelnen Lebensbereiches. Diese Wertschöpfung beruht auf Synergie. So steckt in der Synergie der vier Lebensbereiche ein schier unendliches Potential für unsere Ressourcen.

Und nun?

Auf Veränderungen in unserem Arbeitsleben sollten wir nicht länger warten. Niemand wird sie uns auf einem Silbertablett servieren. Wir sollten unsere ideale Arbeitswelt selbst gestalten. Eine wirksame persönliche Arbeitsmethodik wird hierfür unerlässlich sein. Welche Ziele möchte ich unbedingt verfolgen? Und welche sicher nicht? Eine konsistente und disziplinierte Anwendung der drei zeit-anatomischen Prinzipien Priorität, Lebensbereiche und Synergie kann auf lange Sicht sehr wirksam dabei helfen, die eigenen Ziele zu erreichen – mit Freude und ganz entspannt. Verabschieden möchte ich mich mit einem arabischen Sprichwort, welches das zugrundeliegende Motiv der zeit-anatomischen Prinzipien zusammenfasst:
Willst Du Dein Land verändern, verändere Deine Stadt!
Willst Du Deine Stadt verändern, verändere Deine Strasse!
Willst Du Deine Strasse verändern, verändere Dein Haus!
Willst Du Dein Haus verändern, verändere Dich selbst!
Mehr zum Thema unter: www.anatomiederzeit.de
1 Afshar K, Laskowski NM, Schleef T, Steffens S. Arztberuf: Selbstfürsorge schon im Studium. Dtsch Arztebl 2020 Dec 4;117(49):A-2405/B-2030.