Interview mit Jeanne Moor

«Um das das Wohlbefinden zu steigern, ist es wichtig, darüber zu reden»

Themenschwerpunkt
Ausgabe
2023/04
DOI:
https://doi.org/10.4414/phc-d.2023.10685
Prim Hosp Care Allg Inn Med. 2023;23(04):124-125

Affiliations
Managing Editor Primary and Hospital Care

Publiziert am 05.04.2023

Interview

Frau Moor, wie geht es Ihnen heute?
Danke, gut. Ich bin sehr glücklich und dankbar, da ich im Dezember zum 3. Mal Mutter wurde. Ich fühle mich aktuell oft noch müde und etwas träge durch den Schlafmangel und das häufige Stillen, aber versuche gleichzeitig – auch mit Hilfe meines Mannes – einen neuen Alltag zu fünft und mit unseren beiden Postdoc-Projekten hier in Schweden einzurichten.
Wie haben Sie den Spagat zwischen Beruf und Familie geschafft?
Ich versuche stets, mir meiner selbst und meiner Ziele bewusst zu sein und so meinen Traum zu verwirklichen. Dabei versuche ich, mich auf das Wesentliche zu fokussieren, standhaft in mir wichtigen Angelegenheiten zu bleiben und präsent in dem zu sein, was ich gerade tue.
Auch eine gute Partnerschaft ist unentbehrlich. So arbeiten mein Mann und ich, seit wir Kinder haben, meist in einem 80%-Pensum und teilen uns Haushalt und Kinderbetreuung auf.
Welchen Stressfaktoren sind Sie in Ihrem beruflichen Alltag ausgesetzt?
Ein Grund, warum ich das Medizinstudium wählte, ist der authentische Kontakt mit Menschen, da häufig die Fassade bis zu einem gewissen Grad fällt, wenn jemand krank ist. Auf viele Menschen einzugehen und verschiedene Aufgaben in kurzer Zeit zu erledigen, empfinde ich als sehr spannend, aber manchmal auch als reizüberflutend.
Im Spitalalltag ist der Tagesablauf stark durch äussere Faktoren (wie z.B. Rapporte oder interdisziplinäre Zusammenarbeit) gekennzeichnet. Dies erlaubt weniger Spielraum, um ihn nach eigenen Vorlieben effizient zu gestalten.
Jeanne Moor
Medicinska Njursjukdomar, CLINTEC, Karolinska, Institutet, Stockholm
Inselspital Universitätsspital Bern
Als Ärztin kümmern Sie sich um das Wohlbefinden Ihrer Patientinnen und Patienten. Was tun Sie für Ihre eigene Gesundheit?
Zum Ausgleich für meine eher kognitive Arbeit und meine Rolle als Ärztin und Mutter, in der ich häufig auf die Bedürfnisse anderer eingehe, nehme ich mir 5 Mal pro Woche Zeit, Sport zu treiben: am liebsten Jogging, «high intensity interval training» (HIIT) oder Spinning®. Zudem sind mir mindestens 8 Stunden Schlaf und eine gesunde Ernährung wichtig. Weiter gönne ich mir regelmässige Massagen und ab und zu einen «hardcore Chillertag», an dem ich ausschlafe und einfach nichts tue.
Der Tages-Anzeiger berichtete vor Kurzem über eine neue internationale Vergleichsstudie, der zufolge Schweizer Hausärztinnen und Hausärzte eine überdurchschnittlich hohe Zufriedenheit mit ihrer Work-Life-Balance aufweisen, aber unter der administrativen Belastung leiden [1]. Inwieweit deckt sich dieses Resultat mit Ihren persönlichen Erfahrungen?
Der Titel des Tages-Anzeiger-Artikels «Schweizer Hausärztinnen und -ärzte haben die beste Work-Life-Balance» ist irreführend und deckt sich weder mit der Literatur zum Thema Work-Life-Balance der schweizerischen Ärzteschaft noch mit meinen persönlichen Erfahrungen. Erstens wurde für die zitierte Untersuchung der Teil der Ärzteschaft mit der schlechtesten Work-Life-Balance, nämlich die Assistenzärzteschaft [2], nicht beachtet. Zweitens ist in allen untersuchten Ländern ein negativer Trend bezüglich Zufriedenheit zu beachten, was einen Handlungsbedarf aufzeigt. Drittens bedeutet eine noch schlechtere Situation in anderen Ländern nicht, dass man die schweizerische Situation so belassen kann.
Die übermässig zunehmende administrative Belastung der Ärzteschaft in der Schweiz [3–5] wird hingegen gut hervorgehoben.
Sie erhielten 2021 eine Auszeichnung von der SGAIM Foundation für Ihre Umfrage zur mentalen Gesundheit der Belegschaft der Allgemeinen Inneren Medizin [6]. Welche besonderen Herausforderungen charakterisieren diesen Fachbereich, und inwiefern sind gerade Allgemeinmedizinerinnen davon betroffen?
In der Literatur sowie in der Umfrage zeigen sich folgende Themen als grosse Herausforderungen: wenige tägliche Stunden von erfüllender Arbeit und ein hoher administrativer Aufwand, viele Arbeitsstunden und Unzufriedenheit mit der Work-Life-Balance. Die letzten beiden Faktoren können gerade bei den Allgemeinmedizinerinnen die Vereinbarkeit von Familie und Beruf sowie das Verfolgen von Karrierezielen erschweren.
Haben Sie selbst je ein Burnout erlitten oder kennen jemanden, der eines erlitten hat? Falls ja, worin sehen Sie die Ursache(n), und wie haben Sie oder der/die Betroffene sich davon erholt? Falls nein, wie würden Sie mit so einer Situation umgehen?
Ich selbst war zum Glück bislang nicht betroffen, kenne jedoch Kollegen und Kolleginnen, die ein Burnout hatten oder beinahe hatten. Ursachen dafür waren meist eine hohe Arbeitslast und auch eine Tendenz zu Über-Engagement («overcommitment»): Die Betroffenen arbeiteten sehr genau und gingen sehr empathisch auf Patientinnen und Patienten ein, ohne ausreichend Rücksicht auf die eigenen Ressourcen zu nehmen. Meiner Erfahrung nach ist es essenziell, das Problem offen anzusprechen, um es sich überhaupt bewusst zu machen und es angehen zu können. Als hilfreich erwiesen sich auf dem Weg zur Genesung z. B. auch eine Arbeitsreduktion (teilweise durch einen Stellenwechsel), psychologische Hilfe oder eine Krankschreibung. Und gerade bei jungen Kolleginnen und Kollegen kann eine Verbesserung der Arbeitsorganisation viel bewirken. Deswegen haben wir an der Universität Bern eine Vorlesung zum Thema «Arbeitsalltag der Assistenzärzte und -ärztinnen» im Medizinstudium lanciert, welche unter anderem auch die Themen Arbeitsorganisation und Burnout thematisiert.
Um ein Burnout gar nicht entstehen zu lassen, ist eine Früherkennung entsprechender Symptome wichtig, auch der weniger bekannten Symptome wie Zynismus und Abstumpfung der ICD-11 Definition von Burnout.
Welche Ansprüche haben Frauen, die den Arztberuf ergreifen? Wie schätzen Sie ihre Bereitschaft ein, über ihre gesundheitlichen Bedürfnisse zu sprechen und Hilfe zu suchen, wenn sie an ihre Grenzen stossen?
Aus unserer Umfrage ging bei den Studentinnen hervor, dass die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ein zentrales Problem ist. Hierbei schieben ein Grossteil der Allgemeininternistinnen und der Medizinstudentinnen ihren Kinderwunsch auf. Ein weiteres Thema, das die Frauen gemäss Umfrage beschäftigte, ist die Diskriminierung aufgrund des Geschlechts.
Die Bereitschaft der Ärztinnen, über gesundheitliche Bedürfnisse zu sprechen und Hilfe zu holen, schätze ich eher gering ein. Die Ärzteschaft nimmt ärztliche Hilfe nur gering in Anspruch [7], und gerade Frauen möchten häufig nicht «negativ» auffallen und anderen nicht zur Last fallen.
In Ihrem Beitrag zum letzten PHC-Themenschwerpunktheft wiesen Sie auf die Bedeutung guter Mentorinnen und Mentoren für die Karriereförderung von Frauen in der Medizin hin [8]. Was können Ärztinnen und Ärzte tun, um ihre jüngeren Kolleginnen zu entlasten und ihr Wohlbefinden zu steigern?
Eine Möglichkeit zur Entlastung von jüngeren Kolleginnen ist, weibliche Attribute wie z.B. «Schüchternheit» nicht negativ zu bewerten, oder sie zu diskriminieren. Wenn eine Schwangerschaft oder eine Mutterschaft nicht als Karrierehindernis oder für den Betrieb störend wahrgenommen wird, können die betroffenen Kolleginnen auch eher im Beruf gehalten werden und ihren Karriereplänen folgen. Ein Arbeitsklima frei von Stereotypen kann helfen, dem biologischen und auch soziokulturellen Anders-Sein der Frau gegenüber offen zu stehen in der eher männerdominierten Medizin. Eine weitere Voraussetzung, um Kolleginnen nicht zusätzlich zu belasten, sind Rahmenbedingungen, die garantieren, dass die Maximalarbeitszeiten während Schwangerschaft und Stillzeit eingehalten werden. Dies war gemäss unserer Umfrage leider meist nicht der Fall.
Um das Wohlbefinden zu steigern, ist es wichtig, darüber zu reden. Die einfache Frage «Wie geht es dir?» kann schon hilfreich sein. Zudem sollten Themen wie das eigene Wohlbefinden, die Work-Life-Balance oder negative Gefühle (z.B. Unsicherheiten oder Insuffizienzgefühl bei der Arbeit) nicht tabuisiert werden.
Was würden Sie einer jungen Frau raten, die am Anfang ihres Medizinstudiums steht; was einer jungen Assistenz- oder Oberärztin; was einer Ärztin im mittleren Berufsleben um die 50? Und welchen Rat würden Sie Männern in den jeweiligen Lebenslagen geben?
Ich rate einer Medizinstudentin, sich möglichst früh ihrer eigenen Bedürfnisse (insbesondere dem nach einer Familie), Werte und persönlichen Ziele bewusst zu werden, gleichzeitig aber flexibel zu bleiben, falls mit der Zeit neue oder andere Ziele in den Fokus rücken. Wenn man seinen eigenen Weg selbst bestimmt, dann erreicht man bereits eine Grundzufriedenheit, die bis zu einem gewissen Grad vor einem Burnout schützt. Konkret würde ich ihr empfehlen, sich möglichst detailliert auszumalen, wie sie in 10 Jahren leben möchte, ohne sich von Fragen der Machbarkeit gleich von Beginn weg einzuschränken.
Einer jungen Assistenz- oder Oberärztin würde ich raten, sich folgende Fragen zu stellen: Ist sie dort, wo sie sein möchte? Möchte sie langfristig so weiterarbeiten oder brennt sie dabei aus? Möchte sie ihren bisher eingeschlagenen Weg ändern, eine weitere Ausbildung oder eine akademische Karriere anstreben? Hat sie die richtigen Mentorinnen und Mentoren, die ihr bei diesen Entscheidungen helfen?
Eine 50-jährige Ärztin hat wohl schon Vieles erlebt und scheint keine Ratschläge zu benötigen. Zwar hat sie möglicherweise viel Pflichtbewusstsein gegenüber ihren Patientinnen und Patienten, doch wie steht es ums Pflichtbewusstsein gegenüber ihrer eigenen Person? Möchte sie vor der Pensionierung noch einmal etwas Anderes machen? Bedeutet dies ein Sabbatical, einen Stellenwechsel, eine Zusatzausbildung oder eine andere Position anzustreben? Oder möchte sie mehr Zeit für sich selbst?
Männern würde ich im grossen Ganzen den Rat geben, sich dieselben Fragen zu stellen. Aufgrund möglicher stereotypischer Erwartungen (wie z.B. in einem hochprozentigen Pensum zu arbeiten) kann es für Männer vermutlich ebenfalls schwierig sein, für ihr Wohlbefinden einzustehen. Daher ist auch für den Mann wichtig, sich seiner eigentlichen Bedürfnisse bewusst zu werden.
1 Renz F. Schweizer Hausärztinnen und -ärzte haben die beste Work-Life-Balance. Tages-Anzeiger [Internet]. 2023 Feb 14 [cited 2023 Mar 6];[about 4 p.]
2 Lindemann F, Rozsnyai Z, Zumbrunn B, Laukenmann J, Kronenberg R, Streit S. Assessing the mental wellbeing of next generation general practitioners: a cross-sectional survey. BJGP Open. 2019 Oct 15;3(4):bjgpopen19X101671.
3 Wenger N, Méan M, Castioni J, Marques-Vidal P, Waeber G, Garnier A. Allocation of Internal Medicine Resident Time in a Swiss Hospital: A Time and Motion Study of Day and Evening Shifts. Ann Intern Med. 2017 Apr 18;166(8):579–586.
4 Frey SM, Méan M, Garnier A, Castioni J, Wenger N, Egloff M, et al. Inter-hospital comparison of working time allocation among internal medicine residents using time-motion observations: an innovative benchmarking tool. BMJ Open. 2020 Feb 16;10(2):e033021.
5 Zumbrunn B, Stalder O, Limacher A, Ballmer PE, Bassetti S, Battegay E, et al. The well-being of Swiss general internal medicine residents. Swiss Med Wkly. 2020 Jun 18;150(2324):w20255.
6 Muntwyler L. Die grösste medizinische Fachgesellschaft fördert Forschung mit wissenschaftlichen Preisen. Prim Hosp Care Allg Inn Med. 2021;21(12):390–1.
7 Montgomery AJ, Bradley C, Rochfort A, Panagopoulou E. A review of self-medication in physicians and medical students. Occup Med (Lond). 2011 Oct;61(7):490–7.
8 Moor J. Frauen und Karriere in der Medizin. Prim Hosp Care Allg Inn Med. 2022;22(7):215–6.