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Fort- und Weiterbildung
Umgang mit funktionellen Körperbeschwerden in der Grundversorgung
a Schweizerische Akademie für psychosomatische und psychosoziale Medizin (SAPPM /ASMPP); b Kompetenzbereich Psychosomatische Medizin, C.L. Lory-Haus, Inselspital Bern, Med. Fakultät Universität Bern
Funktionelle körperliche Beschwerden sind sehr häufig. Entsprechend soll die Vermittlung von diagnostischen und therapeutischen Skills zu diesem Thema in der medizinischen Aus-, Fort- und Weiterbildung ausgebaut werden.
Definition
Funktionelle Körpersymptome sind körperliche Symptome ohne notwendigen biomorphologischen Befund auf Organebene. Das Spektrum reicht von der benignen stressassoziierten Hypertonie bis zum invalidisierenden epileptoiden Anfallsleiden. Im klinischen Alltag kommen funktionelle Beschwerden häufig in Kombination mit organisch-strukturell bedingten Leiden vor.
Grundsätzlich kann jedes Organsystem betroffen sein [1]. Die meisten funktionellen Körpersymptome entstehen im Organismus durch eine veränderte Körperregulation und/oder eine gesteigerte Körperperzeption. Neuroendokrine und neuroimmunologische Vorgänge spielen hierbei eine Rolle. Hinzu kommen symptomverstärkende lernpsychologische und antizipatorische Vorgänge des betroffenen Individuums.
Funktionelle Körpersymptome sind insofern psychosomatisch, als sie das Individuum regelhaft in seiner Ganzheit, das heisst sowohl in seinen somatischen als auch psychischen Erlebensbereichen tangieren. Die genannten Bereiche beeinflussen sich gegenseitig und unterstehen teils denselben neuro-modulatorischen Einflüssen. Komorbid treten oft Angst- und Depressionssymptome auf; psychopathologische Störungen sind indessen zur Entstehung funktioneller Körpersymptome keine Voraussetzung.
Häufigkeit
Jeder Mensch hat gelegentlich funktionelle Körpersymptome; in diesem Sinne sind sie etwas Normales. Die Deutschen S3-Leitlinien zur Behandlung funktioneller Störungen beschreiben Häufigkeiten in Hausarztpraxen zwischen 20 und 50%. In Spezialpraxen – z.B. in der Rheumatologie, Schmerzmedizin oder Gynäkologie – sind ein Viertel bis zweit Drittel aller Patientinnen und Patienten betroffen [2].
Vor diesem Hintergrund ist eine ärztliche Limitation auf die organmedizinische Ausschlussdiagnostik sowohl für Behandelnde wie Behandelte unbefriedigend. Wichtig sind Kenntnisse von Positivkriterien, Risikoprofilen und Behandlungsoptionen bei funktionellen Störungen. Die erwähnten S3-Leitlinien sowie das Fort- und Weiterbildungsangebot der SAPPM sollen das Wissen über den fachgerechten Umgang in diesem Bereich fördern.
Medizinischer Umgang bei funktionellen Störungen: Stets zweigleisig beginnen
Bedenkt man, wie häufig funktionell bedingte Körpersymptome auftreten, so empfiehlt es sich, den therapeutischen und diagnostischen Zugang von Beginn an zweigleisig zu wählen. Die Option einer funktionellen Symptomgenese ist entsprechend bereits am Anfang auch kommunikativ in Betracht zu ziehen. So hilft beispielsweise bei der Diagnostik von anhaltender Müdigkeit ein einleitender Satz wie «Ihr Symptom ist sehr häufig, ein Screening hinsichtlich organisch bedingter Faktoren ist angezeigt; hinzu stellt sich natürlich immer auch die Frage nach der Stressbelastung und der Schlafqualität». Mit dieser zweigleisigen Einleitung signalisiert die ärztliche Fachperson, dass sie neben den üblichen Kenntnissen von somatischen Abklärungs-Algorithmen auch eine sozialmedizinische und psychologische Wahrnehmung des Gegenübers hat. Die meisten Patientinnen und Patienten ziehen diese zweigleisige Vorgehensweise vor. Es ist für Betroffene irritierend, wenn die ärztliche Person zunächst alles auf eine somatische Abklärung setzt und später «mangels Befunden» auf eine «Psychologisierung» der Symptome umschwenkt.
Angesichts der Häufigkeit funktioneller Störungen ist das Optimieren eines professionellen Umgangs in diesem Bereich nicht zuletzt auch für die eigene berufliche Zufriedenheit lohnend. Das Spektrum hilfreicher Skills ist breit und beinhaltet sowohl verständnismässige, diagnostische, kommunikative als auch therapeutische Kompetenzen (Tab. 1). Die Schweizerische Akademie für Psychosomatische und Psychosoziale Medizin (SAPPM) lädt zu einer entsprechenden Fachtagung in Biel ein (siehe Kongress-Ausschreibung).
Tabelle 1: Das praktische Wissen hinsichtlich des Umgangs mit funktionellen Störungen stösst auf Interesse. Im Folgenden die Auflistung einer kleinen Auswahl hilfreicher Skills, wie sie in der Fort- und Weiterbildung vermittelt werden. |
Bsp. Verständnis-Skills |
Psychoneuroimmunologie, Psychoendokrinologie, Wahrnehmungsphysiologie, Neurowissenschaften sowie Epigenetik sind heutige Wissensbereiche, die ein nichtduales Gesundheitsverständnis erfordern. |
Fast jedes körperliche Symptom kann eine funktionelle Genese haben. Häufig liegen auch Kombinationsformen mit somatisch-organischen und funktionellen Anteilen vor. |
Ein organisches Auslöseereignis kann ein funktionelles Syndrom nach sich ziehen. So kann z.B. ein gastrointestinaler Infekt ein Reizdarmsyndrom auslösen. |
Verwechseln Sie Hyperalgesie (somatosensorische Hypersensitivität) nicht mit Aggravation (dem kommunikativen Überzeichnen eines Symptoms). Hinzu kommen kulturell bedingte Unterschiede in der Art der Symptomkommunikation. |
Bsp. Diagnostische Skills |
Erkennen Sie Risikoprofile für funktionelle Erkrankungen, z.B. im Sinne von langdauernden und/oder schweren psychosozialen Belastungen und/oder übermässiger Leistungsorientiertheit. Ebenso sollen komplikationsbehaftete Vorgeschichten hellhörig machen. |
Ausweitende Schmerzen ohne eindeutig neurogenen oder orthopädisch-rheumatologischen Hintergrund sollten nach Hypersensitivität und myalgischen/myofaszialen Mustern untersucht werden. |
Screenen Sie algometrisch nach einer Hyperalgesie-Konstellation (www.algopeg.ch). Indirekte Hinweise für eine Hypersensibilität sind Lärm- und/oder Lichtüberempfindlichkeit sowie Überreizungszeichen, z.B. beim Einkaufen oder bei Exposition in Menschenmengen. |
Bsp. Kommunikative Skills |
Ziehen Sie zur Erklärung von funktionellen Symptomen die Begriffe «vegetative Einflüsse» und/oder «Stresshormone» bei. Vermeiden Sie den Eindruck eines Psychologisierens. |
Benutzen Sie das Wort «Psyche» bei funktionellen Körpersymptomen erst, wenn Sie sicher sind, dass Sie und die betroffene Person keine stigmatisierende Vorstellung davon haben. Grundsätzlich gehört die psychologische Dimension zu allen gesundheitlichen Herausforderungen (Bsp. COVID-19-Pandemie). |
Getrauen Sie sich, von Anfang an begleitende Emotionen (wie Angst, Frustration, Sorge, etc.) anzusprechen und in die weitere kommunikative Vorgehensweise zu integrieren. |
Bsp. Therapeutische Skills |
Unter Informationstherapie versteht man die ärztliche Aufgabe, den Patientinnen und Patienten die Entstehung der funktionellen Körpersymptome medizinisch zu erklären. Hierzu gibt es verschiedene Informationshilfen. Ein gemeinsames Krankheitsmodell ist Voraussetzung für die Therapie-Adhärenz. |
Um das Belastungsprofil einer Person einschätzen zu können, ist eine systematische Vorgehensweise im Sinne eines ärztlichen Stress-Assessments hilfreich. Das damit gewonnene Belastungsprofil ist Voraussetzung für die Indikationsstellung einer allfälligen psychologischen oder ärztlichen Psychotherapie. |
Eine alleinige Pharmakotherapie ohne Erfassung und Behandlung der Symptomursachen ist selten zielführend. Kombinationstherapien mit Unterstützung von Verhaltensmassnahmen sind in der Wirkung nachhaltiger und besser. Vermeiden Sie unbegründete Dosiserhöhungen oder gar eine Polypharmazie bei ungenügendem pharmakologischem Ansprechen. |
Bsp. Organisatorische Skills |
Benutzten Sie die Tarmed-Position 00.0520, um die notwendige diagnostische und therapeutische Gesprächszeit abzurechnen. |
Die Grundversorgerfunktion legitimiert Sie, eine psychologische Psychotherapie anzuordnen. |
Es lohnt sich, regionale Arbeitskooperationen mit geeigneten Fachpersonen der Psychologie, Physiotherapie und der psychosomatischen Medizin aufbauen. |
Zur eigenen Kompetenzerweiterung und Interessenvertiefung dienen Fort- und Weiterbildungs-Angebote der SAPPM: www.sappm.ch |
Korrespondenzadresse
PD Dr. med. Niklaus Egloff
Präsident Schweizerische Akademie für Psychosomatische und Psychosoziale Medizin (SAPPM)
Postfach 521, CH-6260 Reiden
niklaus.egloff[at]sappm.ch
Literatur
1 Egloff N, Schwegler K, grosse Holtforth M. Funktionelle Körperbeschwerden sind Alltag. Prim Hosp Care. 2018 Nov 21;18(22):396–8.
2 Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften [Internet]. S3-Leitlinie «Funktionelle Körperbeschwerden». Berlin: AWMF; c2018 [cited 2019 March 4]. Available from: https://register.awmf.org/de/leitlinien/detail/051-001
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