Fortbildung
Weiter- und Fortbildung aus der Sicht des Nachwuchses
Together for better care: gemeinsam im Kampf gegen den Fachkräftemangel
Dipl. Ärztin
Der Fachkräftemangel im Schweizer Gesundheitswesen nimmt stetig zu. Das betrifft nicht nur die Pflege, sondern auch die Ärztinnen und Ärzte. Immer weniger Mediziner sind bereit, in solch einem System zu arbeiten. Dies hat verschiedene Gründe und Auswirkungen. Am Frühjahrskongress der SGAIM zeigt eine Diskussion die wichtigsten Zusammenhänge auf und regt in Zusammenschau mit aktuellen Publikationen zum Nachdenken an.
Warum verlassen immer mehr Gesundheitspersonen ihren Beruf, und was tut die Politik dagegen?
Patientinnen und Patienten werden aufgrund hochstehender Medizin und wandelnder Lebenssituationen immer älter. Dies bedeutet in der heutigen Medizin einen immer grösseren Aufwand – insbesondere in der Pflege. Bis im Jahre 2050 werden gemäss Yvonne Ribi, Geschäftsführerin Berufsverband Pflege (SBK) und Pflegefachfrau HF, in der Schweiz rund 15 000 Pflegefachkräfte fehlen. Eine Entwicklung, die mit Schrecken auf die Zukunft blicken lässt. Dass es dringend einer Lösung bedarf, damit die medizinische Versorgung weiter gewährleistet werden kann, ist allerseits bekannt. Wie lässt sich dies jedoch konkret umsetzten?
In den pflegerischen Berufen wurden politische Grundsteine bereits gelegt. Die Pflegeinitiative wurde angenommen, und nun können bereits erste konkrete Änderungen vorgenommen werden. Doch wie sieht es mit der Zukunft der Ärzteschaft aus? Immer mehr junge Ärztinnen und Ärzte verlassen den Berufsstand. Schuld daran ist das System. Wie die Umfrage der NZZ zeigte, dachten bereits 70% der Assistenzärztinnen und -ärzte [1] einmal darüber nach, den Beruf aufzugeben, rund 52% denken wiederholt darüber nach [2]. Die Ärztinnen und Ärzte sind nicht mehr bereit, ihr Leben für den Beruf zu opfern. Viele wünschen sich Freizeit, eine Familie, Zeit für sich, fürs Kochen, für Freunde – Dinge, die in jedem anderen Beruf selbstverständlich sind. Dass der Arztberuf eine 50-h-Woche hat, die meisten anderen Berufe jedoch nur eine 42-h-Woche, ergibt wenig Sinn. Sind es doch gerade Ärztinnen und Ärzte, die ihren Patientinnen und Patienten erzählen, wie wichtig eine gute Work-Life-Balance sei, dass sie genügend schlafen und sich ausgewogen ernähren sollen, oder wie schlecht Dauerstress für sie sei. Das System verwehrt es jedoch genau dieser Berufsgruppe, ihre Empfehlungen selbst umzusetzen. Aufgrund dessen handeln viele junge Medizinerinnen und Mediziner ganz nach Viktor Frankls Motto «Wenn wir eine Situation nicht ändern können, müssen wir uns selbst ändern» und steigen aus dem System bzw. dem Beruf aus.
In der Stadt Zürich wird für die Ärztinnen und Ärzte eine 42-h-Woche gefordert [3]. Doch bei genauer Betrachtung fällt auf, dass zu diesen 42 h noch 4 h Fortbildung pro Woche hinzukommen. Rechnet man dies zusammen, kommt man trotzdem auf eine 46-h-Woche. Ein Sachverhalt, der zu Missmut führt.
Der administrative Aufwand wird immer grösser, die Zeit bei den Patientinnen und Patienten immer kürzer
Blickt man auf die Gesetzesebene, sieht man, dass es in den letzten 20 Jahren zu einer Verfünffachung der gesundheitspolitischen Vorlagen im Parlament gekommen ist. Daraus resultiert eine Vervielfachung des administrativen Mehraufwandes für ärztliches Personal, der «alleine durch die Zunahme des Aufwands für Patientendossiers jedes Jahr 100 neue ärztliche Vollzeitstellen benötigen würde» [4]. «Dieser steigende administrative Mehraufwand dürfte einer der Gründe sein, weshalb die Arbeitszufriedenheit der Ärztinnen und Ärzte über die vergangenen Jahre kontinuierlich gesunken ist» [5]. «Genügend Zeit für die Patientinnen und Patienten zu haben, ist nicht nur für das Patientenwohl relevant, sondern auch für die Zufriedenheit der Ärztinnen und Ärzte» [5].
Bei einem offiziellen 10-h-Tag bleiben im stationären Setting in etwa 3 h für die Patientinnen und Patienten. Schätzt man eine Verteilung von ca. 12 Personen pro Arzt/Tag, bleiben noch genau 15 Minuten pro Person [6]. Doch diese 15 Minuten sind nicht nur für Anamnese und Untersuchung gedacht, darin eingerechnet ist auch die Zeit am PC auf Visite, die Überprüfung der Vitalparameter, die Verordnung von Medikamenten, die Rücksprache mit der Pflege sowie das Ausfüllen von Anmeldungen für ein Röntgen, Konsilium etc. Unter dem Strich bleiben kaum 5 min/Tag/Patient. Eine Entwicklung, die zum Nachdenken anregen sollte.
Eine Lösung aus politischer Sicht ist (noch) nicht absehbar. Im Gegenteil, neue Verordnungen und Vernehmlassungen fördern diese Entwicklung zunehmend – ein weiterer Grund, warum immer mehr Ärzte ihren Beruf an den Nagel hängen. Auch in der Pflege zeichnet sich ein ähnlicher Trend ab. Das viele Dokumentieren raubt den Pflegenden wertvolle Zeit mit den Patientinnen und Patienten. Und gerade ältere, multimorbide Personen sind auf eine intensive Betreuung und Pflege angewiesen.
Wie soll es weitergehen?
«Rund 40% der Pflegenden steigen aus dem Beruf aus», erklärt Yvonne Ribi mit Nachdruck. Dies in erster Linie aufgrund der hohen Arbeitslast und der emotionalen Überbelastung. «Schon jetzt stammen bereits 35% der Pflegenden aus dem Ausland», sagt sie. Bei den Ärztinnen und Ärzten sieht es dabei nicht anders aus. Im Jahr 2020 hatten rund 34,5% im Praxissektor und 40,5% im Spitalsektor ihr Diplom im Ausland erworben [7], Tendenz steigend.
In der Pflege wird bereits jetzt versucht, mehr Menschen in die Ausbildung zu bringen und die Berufsbedingungen zu verbessern (familienfreundliche Strukturen, gute Teamverteilung), um damit die Qualität zu sichern. «Jobsharing und Pensumarbeit sind für den Personalerhalt genauso wichtig wie Wertschätzung und die Vereinbarkeit mit dem Privatleben», so Ribi.
Initial muss in der Politik ein Umdenken stattfinden, um die Rahmenbedingungen entsprechend anzupassen. Die Medien können dazu als 4. Gewalt zur Aufklärung beitragen. Wenn sich jedoch nichts ändert, wird dies für das Gesundheitswesen in den nächsten 20 Jahren ein deutlicher Qualitätsverlust in der Versorgung sowie gravierende personelle Engpässe zur Folge haben.
Und im Spital?
Für die Personen, die im Gesundheitswesen bleiben, ist die Atmosphäre und die Zufriedenheit im Spital sehr wichtig. «Sinnempfinden, Selbstverwirklichung und Gemeinschaft» sind dabei relevanter als der Lohn [8]. Dabei spielen «non-clinical challenges» wie Frustration im Arbeitsumfeld, Hierarchie, Zeitstress, Patriarchat und das Management komplexer Situationen die grösste Rolle. Diesbezüglich ist die interdisziplinäre Zusammenarbeit genauso ein Thema wie der Umgang im Team. Ein Projekt des CHUV (Centre hospitalier universitaire vaudois) mit Virginie Claivaz (Spezialistin Pflege) und Dr. Malik Benmachiche (Internist und Intensivmediziner) konnte zeigen, dass durch eine bessere interdisziplinäre Zusammenarbeit mit Besprechungsrunden in einem 3- bzw. 1-Wochen-Intervall eine höhere Patienten- und Medizinerzufriedenheit erzielt werden kann [9]. Ein ähnliches Projekt (In-HospiTOOL), das am KSA (Kantonsspital Aarau) unter der Leitung von Dr. Alexander Kutz (Oberarzt mbF) durchgeführt wurde, konnte in 7 Spitälern bei 50 000 Patienten über 2 Jahre hinweg nachweisen, dass die Verbesserung der interdisziplinären Zusammenarbeit und die strukturierte, frühzeitige, interdisziplinäre Austrittsplanung zu einer Reduktion der Liegedauer der hospitalisierten Patienten führte [10]. Zwar klingen 0,5 Hospitalisationstage pro Patient bei einer ersten Betrachtung nicht nach viel; rechnet man dies jedoch auf die Anzahl der Patienten pro Jahr hoch, werden daraus rund 12 500 Hospitalisationstage oder 34 Patientenjahre, die eingespart werden können, und dies ohne vermehrte Sterblichkeit oder Re-Hospitalisationen. Ein Outcome, das sogar für die Politik von Interesse ist (s. Tab. 1).
Tabelle 1: Die wichtigsten Punkte der Austrittsplanung. | ||
Auf dem Notfall: | Stationär: | Austritt |
Mögliches Austrittsdatum bereits auf dem Notfall festlegen. Initiale Einschätzung hilft den Kollegen auf der Station bei der weiteren Planung. | Jede Disziplin gibt aus ihrer Sicht täglich auf der Visite eine Einschätzung ab, welche Ressourcen der Patient noch braucht. | Haben Patienten verstanden, was der Inhalt ihrer Hospitalisation war, welche neuen Diagnosen sie haben, wie ihre Medikamente angepasst wurden und wie die weiteren Schritte sind? |
Gemeinsam für ein besseres Outcome – das Fazit
Der Fachkräftemangel beginnt in der Politik und endet mit dem Ausstieg wertvoller Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Wenn sich das System nicht ändert, wird es in einigen Jahren zu einem akuten Versorgungsmangel kommen. «Wertschätzung, Rationalität und Effizienz sind nur einige Beispiele, die zu einer besseren Struktur und damit zu einer besseren Medizin beitragen», so Daniel Koch, Leiter Pflegeexpertise Medizin. Doch auch bei perfekt optimierten Prozessen müssen die Rahmenbedingungen (Arbeitszeiten, Wertschätzung, interprofessionelle Zusammenarbeit) stimmen, um das Personal im Gesundheitswesen halten zu können. Dieses gilt es nun zu optimieren.
Korrespondenzadresse
Céline Désirée Fäh
Riedweg 29
CH-3293 Dotzigen
celine.faeh[at]gmx.ch
Literatur
1 Niederberger M, Pfändler N. Assistenzärzte arbeiten 11 Stunden pro Tag und verdienen weniger als im Studentenjob. NZZ. 2023 Feb 20. Available from: https://www.nzz.ch/zuerich/umfrage-mit-assistenzaerzten-burnouts-und-buerokratie-im-spital-ld.1722170
2 Brotschi M. Junge Spitalärzte laufen am Limit. Tages-Anzeiger. 2023 May 15. Available from: https://www.tagesanzeiger.ch/junge-spitalaerzte-laufen-am-limit-883210515253
3 Pfändler N. SP und GLP fordern eine 42-Stunden-Woche für Assistenzärzte in der Stadt Zürich. NZZ. 2023 Mar 24. Available from: https://www.nzz.ch/zuerich/stadt-zuerich-forderung-nach-42-stunden-woche-fuer-assistenzaerzte-ld.1731891?reduced=true abgerufen
4 Siroka J. Wie lebt es sich als Arzt und als Ärztin im Beruf? Schweiz Ärzteztg. 2022 Oct 19;103(42):28–29.
5 Trezzini B, Meyer B, Ivankovic M, Jans C, Golder L. Der administrative Aufwand der Ärzteschaft nimmt weiter zu. Schweiz Ärzteztg. 2020 Jan 8; 101(1–2):4–6.
6 Irving G, Neves AL, Dambha-Miller H, Oishi A, Tagashira H, Verho A, et al. International variations in primary care physician consultation time: a systematic review of 67 countries. BMJ Open. 2017 Nov;7(10):e017902.
7 Hostettlera S, Kraft E. FMH-Ärztestatistik 2020 – die Schweiz im Ländervergleich. Schweiz Ärzteztg. 2021 Mar 24;102(12):417–422.
8 Keller G. Glück im ärztlichen Arbeitsalltag – was ist wichtig? Interview mit Dr. Ricarda Rehwaldt. Kompass Onkol. 2021;8:143–151.
9 Benmachiche M, Gertsch M, Giordano F, Claivaz V. Patients en situation complexe aux soins intermédiaires de médecine interne: exemple d’interprofessionnalité. Rev Med Suisse. 2022 Nov 23;18(805):2213–2217.
10 Kutz A, Koch D, Haubitz S, Conca A, Baechli C, Regez K, et al. Association of interprofessional discharge planning using an electronic health record tool with hospital length of stay among patients with multimorbidity: a nonrandomized controlled trial. JAMA Netw Open. 2022 Sep 1;5(9):e2233667.
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