Reflexionen
Interview mit Jan Fehr zum gesundheitlichen Ausnahmezustand: Nach der Pandemie ist vor der Pandemie
«Wir konnten uns nicht vorstellen, wie nahe Wuhan sein kann»
Herr Fehr, welches sind die wichtigsten Lehren, die Sie als Infektiologe und Public-Health-Experte aus der COVID-19-Pandemie ziehen?
Diese Frage treibt mich natürlich sehr um. Und da ich mich dabei nicht nur auf mich selbst beziehen möchte, habe ich eine Umfrage unter Berufskolleginnen und -kollegen, aber auch Vertreterinnen und Vertretern aus Politik, Wirtschaft, Medienwelt und Behörden gemacht. Die folgenden 3 Themen standen im Vordergrund:
1. Eine Pandemie ist nicht primär ein rein infektiologisches Geschehen, sondern eine fundamentale Krise, die sämtliche Facetten einer Gesellschaft betrifft: Risse wurden zu grossen Gräben. Die Lösung kann deshalb auch nur innerhalb – und im Dialog mit – der Gesellschaft gefunden werden. Es muss uns in Zukunft gelingen, zu einer besseren «Debatten-» und einer «Miteinander-Kultur» zurückzufinden. Es war beängstigend, zu sehen, wie wir uns plötzlich überhaupt nicht mehr verstanden haben oder auch nicht mehr zuhören konnten. Vertrauen, Aufeinander-Zugehen und gute Kommunikation stehen dabei im Zentrum. Ich hoffe, dass auch wir Expertinnen und Experten aus Wissenschaft und Medizin gelernt haben, dass eine gute, transparente und abgestimmte Kommunikation ein wichtiger Teil unserer Tätigkeit ist. Wenn wir es nicht hinkriegen, nahe an der Bevölkerung zu kommunizieren, verlieren wir diese und damit das höchste Gut: das Vertrauen.
2. Das Schweizer Gesundheitssystem hatte schon vor der Pandemie strategische und strukturelle Mängel, die wir in der Pandemie dann teuer bezahlten. Die Schweiz ist in der Versorgung Weltklasse. Ganz anders sieht es aber bei der Vorsorge aus. Es scheint so, dass wir lieber das Haus löschen, als im Vorfeld schon an Brandschutz zu denken. Die Präventionsausgaben sind um ein Vielfaches tiefer: So wurde z.B. nicht in Masken, Impfstoffentwicklung oder die leistungsfähige Überwachung des Infektionsgeschehens investiert. Es muss uns gelingen, nachhaltig präventiv zu denken und Systeme zu etablieren, die nicht vierjährigen Legislaturperioden in der Politik unterworfen sind. Ein Präventionsgesetz, wie dies andere Länder schon längst haben, wäre ein guter Anfang dazu.
3. Der weitum beobachtete Nationalismus bis hin zum Reflex der militärischen Grenzschliessung und «Bunkern» von Impfstoff war für mich erschütternd. Die vor der Pandemie oft beschworenen Vorteile des globalen Zusammenwachsens und die Notion der Weltgemeinschaft lösten sich vom einen Tag auf den anderen in Luft auf. Wir wurden quasi ins Mittelalter zurückgeworfen: Ist der Feind vor der Stadt, schliessen wir die Tore. Schwierig wurde es denn auch mit dem Wissensaustausch auf internationaler Ebene. Es muss uns gelingen, in Nicht-Pandemiezeiten Systeme und Organisationen zu etablieren, die auch zu Zeiten des Sturms tragfähig sind. Dazu gehört auch, dass die WHO wieder gestärkt wird.
Was wurde Ihrer Meinung nach von den (staatlichen) Behörden richtig gemacht, was falsch?
Nach dem ersten Schock und der unglücklichen Kommunikation zu Massnahmen wie Masken begannen sich die Behörden im Austausch mit Expertinnen, Experten und Stakeholdern zu organisieren und haben dann z.B. bei der Impfstoffbeschaffung und Bereitstellung Boden gut gemacht. So hat der Bund beispielsweise nicht nur früh Impfstoffe eingekauft, sondern auch auf die richtigen gesetzt. Bei der 2. Welle hat die Schweiz leider zu spät und zu wenig beherzt reagiert, weshalb wir im Ländervergleich eine enorm hohe Sterbeziffer zu verzeichnen hatten. Doch über die ganze Pandemiezeit hinweg gesehen wurde eine vernünftige Balance zwischen Restriktionen und Öffnung gefunden. Auch dank parallel unterstützter Forschung wie z.B. dem Forschungsprogramm Corona Immunitas, welches die Evidenz für die Entscheidung lieferte, die Schulen nicht mehr zu schliessen [1]. Während umliegende Länder andauernd Schulschliessungen hatten, war dies im hiesigen Raum nur zu Beginn der Pandemie der Fall. Zudem hatten wir auch nie eine Ausgangssperre, wie sie in anderen Ländern vorkam.
Was müsste sich bei den Behörden ändern, dass Fehler nicht wiederholt werden?
Einerseits braucht es wie schon angesprochen ein anderes Mindset, worin Prävention und Public Health besser verankert sind. Andererseits muss die «Confeoderatio Helvetica» die Rollen und Verantwortlichkeiten klarer regeln. Wir haben in den vergangenen 3 Jahren zu oft gesehen, wie der Schwarze Peter zwischen Bund und Kantonen hin- und hergeschoben und damit wertvolle Zeit verloren wurde. Das hat die Bevölkerung verwirrt und teilweise zu Vertrauensverlust geführt.
Welche Rolle spielt(e) die Schweiz bei der globalen Ausbreitung/Eindämmung des Virus?
Das ist eine spannende Frage, denn prima vista hätte man das Gefühl, dass die Schweiz bei der bescheidenen Landesgrösse kaum eine Rolle spielen kann. Ich sehe allerdings ein klares Potential. Die Schweiz ist bezüglich Forschung und Ausbildung sehr gut aufgestellt und kann mit neu gewonnen Erkenntnissen weltweit einen wichtigen Beitrag leisten. Des Weiteren hat die Schweiz eine lange Tradition in Diplomatie und ist Sitz wichtiger Institutionen wie z.B. der WHO. Die Wege sind kurz, und die Schweiz kann somit Gesundheitspolitik auf der Weltbühne betreiben und diese positiv beeinflussen.
Inwiefern unterscheidet sich COVID-19 von anderen Infektionskrankheiten, mit denen wir es in der Vergangenheit zu tun hatten?
COVID-19 ist eine neue Krankheit, auch wenn sie zahlreiche Parallelen zu bekannten Viruserkrankungen hat. Auf sämtlichen Ebenen gibt es viele Dinge, die wir noch nicht verstehen, vom Verhalten des Virus selbst, der Pathogenese, den individuell unterschiedlichen Host-Pathogen-Reaktionen mit verschiedenen Krankheitsausprägungen und Verläufen bis hin zu Long-Covid, was Betroffene und auch unsere Gesellschaft enorm fordert. Auf das Virus bezogen könnte man sagen, dass SARS-CoV-2 so was wie der Wolf im Schafspelz ist: Dadurch, dass es zu vielen asymptomatischen oder milden Verlaufsformen kam, konnte sich das Virus wie ein Lauffeuer ausbreiten und bedeutete für viele vulnerable Personen Lebensgefahr. Was wir zudem unterschätzt haben, war die Entwicklung neuer ansteckender und gefährlicher Varianten im Verlauf; denken Sie z.B. an die Delta-Variante, die viele Todesopfer forderte. Das hatte niemand so vorausgesehen.
Welche spezifischen Herausforderungen waren mit dieser Pandemie verbunden?
Einiges habe ich schon erwähnt, und wenn ich es in einem Satz sagen müsste: Die rasche Dynamik der Pandemie hat uns enorm herausgefordert, insbesondere da wir sie einerseits relativ lange nicht ernst genommen haben und obendrauf auch noch unzureichend vorbereitet waren. Wir hatten es nicht geschafft, aus vergangenen Pandemien zu lernen und entsprechende Konsequenzen zu ziehen. Wir konnten uns zudem auch nicht vorstellen, wie «nahe» Wuhan eigentlich sein kann. Zugespitzt könnte man sagen, dass Thukydides mit seiner Beschreibung eines Epidemie-/Pandemiegeschehens in der Schrift zum Peloponnesischen Krieg im Jahr 430 v. Chr. besser wusste, was ein solches Ereignis bedeutet, als wir im Februar 2020. Es lohnt sich halt vielleicht doch, die alten Griechen von Zeit zu Zeit wieder zu lesen.
Auch wenn wir alle wissen, dass Prognosen schwierig sind, vor allem, wenn sie die Zukunft betreffen: Wie hoch schätzen Sie das Risiko einer zukünftigen Pandemie vergleichbaren Ausmasses ein?
Es gibt Modellberechnungen, die sagen, dass sich die Zeitabstände zwischen extremen Pandemien in den kommenden Dekaden verkürzen.
Wie gut sind wir auf ein solches Szenario vorbereitet? Wo sehen Sie noch Handlungsbedarf?
Das hängt nun davon ab, inwieweit wir fähig sind, nicht nur Lehren aus der jetzigen Pandemie zu ziehen, sondern diese auch umzusetzen. Eingangs habe ich drei prominente «lessons learned» erwähnt, welche weiter greifen, als nur technische Lösungen wie Digitalisierung einzuleiten. Zusammengefasst braucht es eine «Renaissance» von Public Health mit beherzter Einbettung in unser Gesundheitswesen. Und wir würden im aktuellen Stadium gut daran tun, in der Pandemie mühsam aufgebaute Systeme und Teams nicht einfach wieder in einer Ecke verstauben zu lassen, sondern quasi kleine, schlanke «Einsatztruppen» und Konzepte beizubehalten, welche bei einer nächsten Epi-/Pandemie, sofort bereitstehen. Denn nach der Pandemie ist vor der Pandemie. Ich erlebe gerade von verschiedensten Seiten, dass man am liebsten alles wieder vergessen würde und auch nicht mehr bereit ist zu investieren. Das Argument, das man in diesem Zusammenhang oft hört: «Für COVID wurde sowieso schon viel zu viel Geld ausgegeben.» Gerade jetzt könnte man jedoch mit geringstem Aufwand das Maximum rausholen, solange gewisse Systeme noch existieren und auch das Know-how vorhanden ist. Dieses «window of opportunity» schliesst sich in den kommenden Monaten.
Brauchen wir zusätzliche oder andere Surveillance-Systeme als bisher? Falls ja, welche Massnahmen wären nötig, um dies zu erreichen?
Beispielhaft möchte ich auf 2 Aspekte hinweisen: 1) Einzelne Monitorings müssen noch ausgebaut werden, wozu auch das Abwassermonitoring zu zählen ist, aber 2) das allein genügt nicht, denn letztendlich geht es darum, vorhandene Datenquellen – und in der Schweiz wird bereits schon sehr viel erhoben – gewinnbringend und intelligent miteinander zu verknüpfen. Wir sammeln Daten, machen aber zu wenig damit. Hier möchte ich den Begriff der «Surveillance-Response» einführen. Dies beschreibt den Ansatz, dass bei epidemiologischen Veränderungen auch sofort Aktionen ausgelöst werden, mit direktem Nutzen für die Bevölkerung.
Was verstehen Sie unter «One Health»? Können Sie das Konzept anhand von COVID-19 erläutern?
Das Konzept beschreibt und berücksichtigt die Tatsache, dass Mensch, Tier und Umwelt im Hinblick auf ihre Gesundheit in direktem Zusammenhang zueinander stehen und sich gegenseitig bedingen. Diese Zusammenhänge anzuerkennen, erlaubt bei der Lösung von Gesundheitsproblemen eine syngergistische und damit effizientere Vorgehensweise mit allen involvierten Disziplinen. Wir gehen davon aus, dass SARS-CoV2 respektive COVID-19 eine zoonotische Krankheit ist. Das bedeutet, dass der Erreger seinen Ursprung in der Tierwelt hat und auf den Menschen übertragen wurde. Dies basierend auf der Hypothese des Wildtiermarktes in Wuhan als Quelle. Etwa 60–70% aller Infektionskrankheiten beim Menschen stammen aus dem Tierreich. Im Zusammenhang mit gravierenden Ausbrüchen oder Pandemien ist dieser Anteil sogar noch grösser. Prominente Beispiele von zoonotischen Krankheiten sind Ebola, Vogelgrippe oder Tollwut.
Inwiefern trägt der Klimawandel zur Entstehung und Übertragung infektiöser Krankheiten bei? Welche Länder sind in Zukunft besonders davon betroffen?
Durch die Klimaerwärmung werden die Tiere gezwungen, sich neue Habitate zu erschliessen, um zu überleben. Die vermehrte Wanderung zahlreicher Arten könnte die Anzahl neuer Virusübertragungen zwischen den Tieren drastisch erhöhen. Eine interessante Studie in Nature hat berechnet, dass eine Erderwärmung von 2 °C bis zum Jahr 2070 rund 4500 komplett neue Krankheitsübertragungen zwischen verschiedenen Spezies bedeuten könnte und damit potenziell auch Übertragung auf den Menschen [2].
Und zum Abschluss: Was war Ihr persönlicher Tiefpunkt, und was war Ihr persönliches Highlight während der COVID-19-Pandemie?
Der Tiefpunkt war zu erleben, wie rasch sich ein tiefer Graben durch unsere Gesellschaft ziehen kann. In Zusammenhang mit der Pandemie möchte ich nicht von «Highlight» sprechen. Ich kann aber sagen, dass es beeindruckend war zu sehen, was möglich ist, wenn viele am selben Strick ziehen, und wie viele Menschen bereit waren, sich für die Gesellschaft einzusetzen und weit mehr als eine Extrameile zu gehen. Um diese Erfahrung bin ich dankbar und sie gibt mir Hoffnung. Denn die Zukunft birgt noch einige Herausforderungen in Zusammenhang mit globaler Gesundheit.
Prof. Dr. med. Jan Fehr
Vorsteher des Departements Public & Global Health
Leiter des Zentrums für Reisemedizin
Institut für Epidemiologie, Biostatistik & Prävention, Universität Zürich
Hirschengraben 84, 8001 Zürich
jan.fehr[at]uzh.ch
Literatur
1 corona-immunitas.ch [Internet]. Zurich: Swiss School of Public Health; c2020. Available from: https://www.corona-immunitas.ch
2 Carlson CJ, Albery GF, Merow C, Trisos CH, Zipfel CM, Eskew EA, et al. Climate change increases cross-species viral transmission risk. Nature. 2022 Jul;607(7919):555–62.
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