Case reports

Der Hausarzt als erste Anlaufstelle

Vom banalen Befund zur unendlichen Geschichte

DOI: https://doi.org/10.4414/phc-d.2023.10738
Veröffentlichung: 06.09.2023

Nawied Taghizadegan Tehrania, Matthias Eggerb

a Rappjmed AG, Schweiz; b Tumor & BrustZentrum Ostschweiz

Einleitung

Nachfolgend wird ein Fall geschildert, der den Hausarzt sowie diverse Spezialisten über Jahre beschäftigen sollte. Bis dahin wies der Patient abgesehen von einer koronaren Herzkrankheit keine nennenswerten Vorerkrankungen auf. Die letzten hausärztlichen Konsultationen hatten sich um psychosoziale Belange gedreht.

Der Chirurg kommt nicht zum Zug – dennoch wird operiert

Ende Mai 2012 stellte sich der zu diesem Zeitpunkt 63-jährige Patient wegen zweier Schwellungen am linken Oberschenkel hausärztlich vor. Diese zeigten sich indolent, derb aber gut verschieblich. Gemäss Patientenwunsch erfolgte die Zuweisung zur nächstgelegenen chirurgischen Klinik zur operativen Entfernung.

Das dort veranlasste MRI zeigte beidseitig oberflächliche Knoten bis zu elf cm Grösse, welche trotz fehlender Kontrastmittelanreicherung aufgrund ihrer inhomogenen Struktur als malignomverdächtig beurteilt wurden. So erfolgte im Oktober 2012 eine Biopsie. Die Histologie ergab ein B-Zell-Non-Hodgkin-Lymphom (WHO Grad I, Subtyp: Primär kutanes Keimzentrums-Lymphom [Bein Typ] [1, 2]). Im Staging PET-Scan zeigte sich neben Tumormanifestationen im Bereich beider Oberschenkel, sowie gluteal rechts und beidseitigem Befall der inguinalen Lymphknoten auch ein Tumor der linken Niere (Abb. 1).

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Abbildung 1: Die im Rahmen der PET-Scan-Untersuchung angefertigte CT-Abdomen mit Kontrastmittel zeigt einen 79 × 114 × 120 mm grossen Nierentumor links, der im PET-Scan FDG-negativ bleibt (aufgenommen und gezeigt mit freundlicher Genehmigung der Nuklearmedizin am Kantonsspital Graubünden)

Zur Therapie des Lymphoms wurde eine Immunchemotherapie mittels R-CEOP eingeleitet. Zudem erfolgte im Dezember 2012 eine Nephrektomie. Die Histologie zeigte ein hellzelliges Nierenzellkarzinom (pT3a Fuhrmann Grad III) [3]. Durch den Urologen war keine weitere Therapie vorgesehen. Die Verlaufskontrollen wurden dem involvierten Onkologen übergeben.

Kommentar

Kutane Lymphome sind selten (in der Schweiz jährlich etwa 100 Fälle), haben jedoch mit einer 5-Jahres-Überlebensrate von >90–95% eine gute Prognose. Der in diesem Fall diagnostizierte Subtyp, für den ein Auftreten an den Unterschenkeln typischer wäre, gilt allgemein als aggressiv und schnell wachsend. Die 5-Jahres-Sterblichkeit wird in der Literatur mit bis zu 50% angegeben.

Der Primärbefund lässt sich gut behandeln – das Problem liegt woanders

Die Therapie des Lymphoms verlief erfolgreich. Zwar fand sich im PET-Scan vom Mai 2013 nach acht Zyklen R-CEOP immer noch ein stoffwechselaktiver Herd subkutan gluteal rechts, doch liessen sich nach einer Bestrahlung in zwei Sitzungen im August 2013 in keiner der weiteren Verlaufskontrollen mehr Lymphomanifestationen nachweisen. Die Immuntherapie mittels Rituximab wurde letztendlich bis Oktober 2015 fortgeführt.

In der radiologischen Verlaufskontrolle vom September 2013 fielen drei neue Lungenrundherde auf, die aufgrund fehlender Anreicherung im PET-Scan als Metastasen des Nierenzellkarzinoms [4] bewertet wurden. Diese – es war ein Abwarten der Dynamik vereinbart worden – wiesen im März 2014 einen deutlichen Progress auf, sodass eine neue medikamentöse Tumorbehandlung gestartet werden mussten.

Von nun an sollte sich die Therapie des Patienten ungleich schwierig gestalten. Ein permanentes Abwägen von Befundkontrolle versus Lebensqualität war nötig. Unter Pazopanib kam es zu starken Durchfällen. Nivolumab verursachte dem Patienten derart starke rheumatische Beschwerden, dass er zeitweise mit Methotrexat behandelt wurde.

Kommentar

Das Nierenzellkarzinom macht weltweit etwa 2% aller Tumorerkrankungen aus. Bei Diagnosestellung finden sich bei rund einem Drittel der Fälle Metastasen. Weitere 20-50% entwickeln trotz Tumornephrektomie im Verlauf Metastasen. Das 5-Jahres-Überleben liegt in Fällen mit Fernmetastasen bei rund 10%.

Eine weitere Serie von Rückschlägen

Im August 2018 erlitt der Patient einen Myokardinfarkt, der mittels perkutaner transluminaler Koronarangioplastie (PTCA) und Stent versorgt wurde. Daher wurde bei den einen Monat später auftretenden starken Schmerzen der rechten Leiste zunächst an ein Aneurysma spurium gedacht. Als Ursache jedoch wurde per CT, welches auch Beckenosteolysen und einen Progress der Lungenmetastasen zeigte, eine osteolytische Knochenmetastase des rechten Femurkopfes (Abb. 2) ausgemacht.

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Abbildung 2: Im Verlaufs-CT 09/2018 zeigt sich ein neuer ossärer Befund (aufgenommen durch und gezeigt mit freundlicher Genehmigung von RODIAG Diagnostic Centers, Rapperswil)

Diese wurde im Oktober 2018 in zehn Sitzungen bestrahlt. Den weiteren Befunden der CT wurde mit einer Anpassung der Therapie (täglich Cabozantinib und Calcimagon, monatlich Denosumab) begegnet [6]. Cabozantinib führte zu Nebenwirkungen wie Mukositis und Geschmacksstörungen, sodass die Dosis erst reduziert und im März 2019 schliesslich sistiert wurde [7].

Im April 2019 entwickelte der Patient Heiserkeit und Dyspnoe und wurde bei zunehmender Struma zum endokrinologischen Konsil überwiesen. Dort wurde die Schilddrüse ob ihrer Inhomogenität als malignomverdächtig beurteilt und der Patient, der inzwischen unter akuter Verschlechterung mit Dyspnoe und Stridor litt, an die ORL überwiesen, welche ihn mit Methylprednisolon behandelte und Schilddrüsenbiopsien entnahm. Darin zeigten sich Metastasen des Nierenzellkarzinoms [8], worauf die Therapie mit Cabozantinib trotz zu erwartetender Nebenwirkungen wieder aufgenommen wurde. Im Juni 2019 wurde vom Tumorboard entschieden, von einem operativen Vorgehen abzusehen und den Patienten radioonkologisch zu behandeln. Dies lehnte der aber ab.

Dennoch konnte bis September 2019 eine eindrückliche lokale Tumorregression erreicht werden. Im Januar 2020 wurde ein Cabozantinibauslassversuch unternommen, welcher fehlschlug: binnen einer Woche entwickelte der Patient erneut Heiserkeit und Atemnot und die Therapie musste wieder aufgenommen werden. Später wurde noch ein Wechsel auf Everolimus versucht, was an enoraler Mukositis scheiterte. Ohne Therapie wuchs die Schilddrüsenmetastase jeweils schnell.

Daher willigte der Patient nun doch in die Radiotherapie ein. Diese erfolgte von Februar bis März 2020. In der Verlaufs-CT vom Mai 2020 konnte eine deutliche Volumenreduktion der Schilddrüsenmetastase dokumentiert werden, während die Lungenmetastasen sich ebenfalls regredient zeigten.

Kommentar

Die erste Schilddrüsenmetastase wurde 1871 von Rudolf Virchow beschrieben. Während das Nierenzellkarzinom nur äusserst selten in die Schilddrüse metastasiert (vorwiegend in Lymphknoten, Lunge, Leber und Knochen) stellt es mit rund einem Viertel der klinisch diagnostizierten Schilddrüsenmetastasen die häufigste Quelle dar. Im Vergleich klinischer und pathologischer Studien finden sich erhebliche Unterschiede hinsichtlich Prävalenz und Quellen von Schilddrüsenmetastasen.

Gefürchtete Nebenwirkung macht grosse Operation notwendig

Nach einer Zahnextraktion im Sommer 2020 – Denosumab war bisher vertragen worden –kam es zu einer ausgedehnten rechtsseitigen Oberkiefernekrose, welche einen ausgedehnten interdisziplinären Eingriff von Kieferchirurgie und ORL (Infundibulotomie, Septumplastik, Extraktion dreier weiterer Zähne, das Abtragen des nekrotischen Gewebes und die plastische Deckung des Defekts) erforderlich machte. Postoperativ kam es neben verzögerter enoraler Wundheilung wie erwartet zu Kieferschmerzen. Diese waren bis Mitte Dezember 2020 mit Paracetamol und Tapentadol gut auszuhalten. Auch das Staging-CT zeigte einen stabilen Verlauf der Tumormanifestationen.

Zum Jahreswechsel nahmen die Schmerzen im operierten Kiefer zu und die nur langsam heilende Wunde infizierte sich. Der Abstrich wies Klebsiella Oxytoca, Stenotrophomonas maltophilia und Streptokokken der Viridans-Gruppe nach. Die resistenzgerechte antibiotische Therapie mit Trimethoprim/Sulfamethoxazol führte zum Abheilen von Infekt und Wunde, was für den Patienten angesichts der erreichten Schmerzreduktion sowie der nun unbeeinträchtigten Nahrungsaufnahme zufriedenstellend war.

Kommentar

Als Ursache für Kiefernekrosen unter Antiresorptivatherapie werden chronisch entzündliche Prozesse angenommen. Sie treten bei onkologischer Therapieindikation deutlich häufiger (bis zu 12%) auf als bei osteologischer (bis zu 1%).

Tumorbefall unter Kontrolle – die Symptome nicht

In den weiteren hausärztlichen Kontrollen beklagte der Patient zunehmende Schmerzen im rechten parascapulären Bereich. Hierfür fanden sich weder im Röntgen noch in der Verlaufs-CT (04/ 2021: stationäre Verhältnisse) ein Korrelatbefund. Unter Tapentadol klangen die Schmerzen nur kurzfristig ab, sodass auf Oxycodon umgestellt wurde. Dennoch kam es zu zunehmender Schwäche und anhaltenden Schmerzen vor allem im Kiefer, sodass der Patient seinen Hausarzt im Mai 2021 um einen Hausbesuch bat. Dort wurde die Schmerztherapie auf Fentanylpflaster mit Morphintropfenreserve umgestellt und die weitere hausärztliche Begleitung besprochen.

Für den Patienten, der nun phasenweise eine gute Symptomkontrolle erlebte und sogar unter grosser Freude sogar an einem Oldtimertreffen teilnehmen konnte, stand zunehmend die Angst vor dem Ersticken im Vordergrund, sodass er selbständig die Carbozantinibdosis verdoppelte, was er angesichts der inzwischen eingestellten Nahrungsaufnahme nun vertrug.

Er war bereits seit Jahren Mitglied im Verein EXIT und äusserte Ende Mai den Wunsch, sein Leben mit dessen Unterstützung zu beenden [9]. Vier Tage nach der hausärztlichen Kontaktaufnahme mit EXIT kam es nach selbstständiger Einnahme von 15 mg Natrium-Pentobarbital zum Exitus letalis.

Konklusion

Dieser Fall zeigt, wie ein harmlos anmutender Befund sich als ungewöhnliche Manifestation einer malignen Ursache erwies und in der Folge zufällig eine weitere maligne Erkrankung zutage trat, die nicht nur die behandelnden Ärzte über Jahre immer wieder herausforderten. Dem Patienten wurde beim Durchlaufen all der medizinischen Stationen viel abverlangt. Er war wiederholt entmutigt und verlor Geduld und Vertrauen, was zu Verzögerungen von Diagnostik und Therapie oder gar dem Absetzen von Medikamenten ohne Rücksprache führte. Dennoch konnte dies ebenso wie die zahlreichen Nebenwirkungen, die dem Patienten im Verlauf widerfuhren, aufgefangen bis gänzlich überwunden werden [10].

Dem Hausarzt, der übrigens zunächst an ein Lipom gedacht hatte, kam mehr als die Überweiserrolle zu: er war wiederholt die erste Anlaufstelle und begleitete diesen Fall in rund 100 Konsultationen von der Erstuntersuchung bis zum Tod.

Take-home message

Bei Knötchen unter der Haut lohnt es sich, auch an Seltenes zu denken.

Auch ein solch komplexer Fall kann von nicht zentral koordinierten ambulanten Zentren begleitet werden. Der Miteinbezug eines interdisziplinären Tumorboards ist hierbei unerlässlich.

Die Erhaltung von Lebensqualität ist eine wesentliche, wenn nicht gar die entscheidende Zielgrösse in der Krebstherapie.

Korrespondenzadresse

Nawied Taghizadegan Tehrani

Rappjmed AG

Allmeindstrasse 5

CH-8645 Rapperswil-Jona

nawied.tehrani[at]rappjmed.ch

Literatur

1 Zinzani PL, Quaglino P, Pimpinelli N, Berti E, et al. Lymphomas. J Clin Oncol. 2006 Mar 20;24(9):1376–82. doi: 10.1200/JCO.2005.03.6285. Epub 2006 Feb 21. PMID: 16492713.

2 Willemze R, Jaffe ES, Burg G, Cerroni L, et al. WHO-EORTC classification for cutaneous lymphomas. Blood. 2005 May 15;105(10):3768–85. doi: 10.1182/blood-2004-09-3502. Epub 2005 Feb 3. PMID: 15692063.

3 Méndez-Vidal MJ, Molina Á, Anido U, Chirivella I, et al. Evidence review and clinical practice in the management of advanced renal cell carcinoma. BMC Pharmacol Toxicol. 2018 Nov 26;19(1):77. doi: 10.1186/s40360-018-0264-8. PMID: 30477570; PMCID: PMC6258404.

4 Roberto M, Botticelli A, Panebianco M, Aschelter AM, et al. Metastatic Renal Cell Carcinoma Management: From Molecular Mechanism to Clinical Practice. Front Oncol. 2021 Apr 22;11:657639. doi: 10.3389/fonc.2021.657639. PMID: 33968762; PMCID: PMC8100507.

5 M. Grimm, M. Schmidinger, I. Duran Martinez, G. Schinzari, et al. Tailored ImmunoTherapy Approach with Nivolumab in advanced Renal Cell Carcinoma (TITAN-RCC) Annals of Oncology (2019) 30 (suppl_5): v851–v934. 10.1093/annonc/mdz394

6 Krajewski W, Dzięgała M, Kołodziej A, Dembowski J, et al. Vitamin D and urological cancers. Cent European J Urol. 2016;69(2):139–47. doi: 10.5173/ceju.2016.784. Epub 2016 Apr 19. PMID: 27551550; PMCID: PMC4986303.

7 Schmidinger M, Danesi R. Management of Adverse Events Associated with Cabozantinib Therapy in Renal Cell Carcinoma. Oncologist. 2018 Mar;23(3):306–315. doi: 10.1634/theoncologist.2017-0335. Epub 2017 Nov 16. PMID: 29146618; PMCID: PMC5905684.

8 Tjahjono R, Phung D, Gurney H, Gupta R, et al. Thyroid gland metastasis from renal cell carcinoma: a case series and literature review. ANZ J Surg. 2021 Apr;91(4):708–715. doi: 10.1111/ans.16482. Epub 2020 Dec 14. PMID: 33319504.

9 Emanuel EJ, Onwuteaka-Philipsen BD, Urwin JW, Cohen J, et al. Attitudes and Practices of Euthanasia and Physician-Assisted Suicide in the United States, Canada, and Europe. JAMA. 2016 Jul 5;316(1):79–90. doi: 10.1001/jama.2016.8499. Erratum in: JAMA. 2016 Sep 27;316(12):1319. PMID: 27380345.

10 Moffat P. Quality of life in patients with cancer. Int J Palliat Nurs. 2008 Jan;14(1):4. doi: 10.12968/ijpn.2008.14.1.28147. PMID: 18414326.

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