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Interview mit Stefan Markun zu «Diagnostic Reasoning»

«Reine Erfahrung führt nicht zum diagnostischen Expertenstatus»

DOI: https://doi.org/10.4414/phc-d.2023.10745
Veröffentlichung: 06.09.2023

Interview: Sascha Hardegger

Affiliations sind für diesen Artikel im PDF verfügbar.

Am 6. und 7. Juli 2023 hat die SGAIM im Kursaal in Bern die zweite Diagnostic Masterclass durchgeführt. Schwerpunktthema war unter anderem das «Diagnostic Reasoning». PD Dr. med. Stefan Markun, unter anderem Lehrbeauftragter an der Universität Zürich, hat ebenso am Anlass teilgenommen und fasst zusammen, was er aus der Masterclass mitgenommen hat.

Stefan Markun, was konkret verstehen Sie unter «Diagnostic Reasoning»?

Es handelt sich dabei um spezifische Denkprozesse und kognitive Instrumente in der Diagnostik. Ich denke unter anderem an Diagnose-Schemas, Problem-Repräsentationen oder priorisierte Differentialdiagnosen und deren gezielte Anwendung.

Einfach ausgedrückt handelt es sich dabei um das Anwenden einer Checkliste zu einer konkreten Fallstellung.

Nein. Checklisten können in der Diagnostik zwar in bestimmten Situationen hilfreich sein, aber in den meisten Fällen wären sie ineffizient. Beim «Diagnostic Reasoning» handelt es sich um eine meta-kognitive Disziplin. Es wird versucht, das eigene diagnostische Denken zu abstrahieren und bestimmte kognitive Instrumente sehr gezielt einzusetzen. Durch diese abstrahierte Betrachtung verstehen die Anwendenden ihre eigenen Denkprozesse sowie die eigenen Schwächen und Stärken besser. Dies wiederum führt zu einer steileren und längeren Lernkurve in der Kunst, Diagnosen zu stellen. Zusätzlich hilft die abstrahierte Betrachtung des diagnostischen Denkens aber auch, die gezogenen Schlüsse in Worten zu erklären. Dies ist besonders beim Teaching von Lernenden sehr hilfreich.

Professor Gurpreet Dhaliwal sowie Professor Denise Conner haben dies an der SGAIM-Diagnostic-Masterclass eindrücklich vor Augen geführt: Sie wenden ihr Diagnostic-Reasoning-Modell seit Jahren in der Klinik und im Teaching an. Und verstehen es hervorragend, auch bei erfahrenen Internistinnen und Internisten zahlreiche Aha-Erlebnisse auszulösen.

Was ist aus Ihrer Sicht die Herausforderung beim «Diagnostic Reasoning»?

Erfahrenen Internistinnen und Internisten sowie manchen Lernenden sind die Instrumente von «Diagnostic Reasoning» nicht unbekannt, wenn wir beispielsweise von «Differenzialdiagnose» sprechen. Bei selbstkritischer Betrachtung müssen wir uns jedoch eingestehen, dass wir oftmals mehrdeutige Begriffe verwenden. Beim Beispiel «Differenzialdiagnose» kann dies eine infrage kommende Diagnose bezeichnen, das allgemeine diagnostische Schema bei einem bestimmten Leitsymptom oder sogar den «Akt» an sich, Diagnostik zu betreiben. Solche Mehrdeutigkeiten stören die Kommunikation zwischen medizinischen Fachpersonen und sind besonders für Lernende verwirrend. Selbst habe ich zusätzlich bemerkt, dass ich für bestimmte Denkprozesse oder kognitive Instrumente von «Diagnostic Reasoning» gar keine Bezeichnung hatte. Oder es war mir vielleicht nicht bewusst, dass sich solche überhaupt abspielen. An der SGAIM Diagnostic Masterclass haben wir gelernt, uns multiplen Diagnostic-Reasoning-Instrumenten bewusst zu werden und diese mit einheitlichen Begriffen zu versehen. Für mich war speziell hilfreich zu erkennen, wie einzelne Instrumente zusammenspielen und wie sie sich gegenseitig optimal ergänzen.

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Führten mit Kompetenz und Charme durch die SGAIM-Diagnostic-Masterclass: Professor Gurpreet Dhaliwal sowie Professor Denise Connor.

© SGAIM

Können Sie konkret ein Instrument im «Diagnostic Reasoning» nennen?

Natürlich, beispielsweise die «Problem Representation». Diese bezeichnet den Eindruck, welche eine Fallpräsentation bei medizinischen Fachpersonen hinterlässt. Bei der Entstehung dieses Eindrucks werden bestimmte Informationen «herausgefiltert», die verbleibende Information strukturiert sowie gewichtet. Daraus wird bereits klar, dass die «Problem Representation» nicht passiv oder automatisch zustande kommen sollte, sondern unter Kontrolle der eigenen Denkprozesse. Denn: Beim Aufnehmen oder Auslassen von bestimmten Informationen kann es schnell zu einem falschen Framing kommen. Dieses kann die zukünftige Diagnostik negativ beeinflussen.

Bei der Strukturierung der Information ist zudem hilfreich, sich an eine bestimmte Ordnung zu halten. Diese erleichtert das Finden von möglichen Diagnosen in den weiteren Prozessschritten. Entscheidend ist, dass die «Problem Representation» in unseren Köpfen auch als etwas Flexibles verstanden wird. Es muss möglich sein, bei neuen Informationen Updates vorzunehmen. Einer der häufigsten systematischen Denkfehler ist das «Anchoring». Darunter versteht man das Versagen, von einer ursprünglich gestellten Verdachtsdiagnose abzukommen.

Gibt es weitere Instrumente nebst der von Ihnen genannten «Problem Representation»?

Durchaus. Unter anderem das «Disease / Illness Script». Es handelt sich dabei um das mentale Abbild einer Krankheit in den Köpfen von medizinischen Fachpersonen. Es ist eine Art Pendant zur «Problem Representation», die das Abbild einer Fallpräsentation darstellt. Das «Disease / Illness Script» stellt unsere Annahme dar, wie sich eine bestimmte Krankheit manifestieren müsste. Bei der Diagnostik versuchen wir intuitiv, eine vorhandene «Problem Representation» mit «Disease / Illness Scripts» in unseren Köpfen abzugleichen und so durch eine einfache Mustererkennung zur Diagnose zu gelangen. Beim «Diagnostic Reasoning» versuchen wir diesen Abgleich nicht intuitiv, sondern sehr explizit vorzunehmen und die Kontraste oder Übereinstimmungen präzise zu erkennen. Für diesen Abgleich ist es sinnvoll, «Disease / Illness Scripts» identisch zu ordnen, wie die «Problem Representation». Die Dozierenden schlagen eine Gruppierung in Epidemiologie (Alter, Geschlecht), Risikofaktoren (Begleitkrankheiten, Medikamente, etc.), Leitsymptome und Begleitsymptome sowie der zeitlichen Dynamik vor.

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Waren begeistert: Teilnehmerinnen und Teilnehmer der SGAIM-Diagnostic-Masterclass 2023.

© SGAIM

An der Masterclass ist immer wieder das «Diagnostic Schema» genannt worden. Um was handelt es sich dabei?

Für die Information in einer gegebenen «Problem Representation» existieren «Diagnostic Schemas». Nun sind wir bei einem Instrument angekommen, das einer Checkliste sehr nahekommt. «Diagnostic Schemas» sind eine systematische Betrachtung möglicher Diagnosen und können anatomisch geordnet sein. So beispielsweise bei Bauschmerzen in Quadranten oder nach Physiologie wie beim Nierenversagen in prä-/intra- oder postrenal oder nach Organsystemen beispielswiese bei Dyspnoe in der Atmung, im Kreislauf oder im metabolischen System. Die besten «Diagnostic Schemas» berücksichtigen ebenso die blinden Flecken: So sollten beispielsweise bei Bauchschmerzen systematisch immer auch extraabdominale Schmerzquellen erwogen werden.

Was ist das konkrete Ziel von alledem?

Professor Dhaliwal sowie Professor Connor vertreten die Auffassung, dass reine Erfahrung nicht zum diagnostischen Expertenstatus führt. Diesen erreicht man vielmehr dank meta-kognitiven Techniken wie «Diagnostic Reasoning», aber auch durch ein systematisches Follow-up von Patientinnen und Patienten. So stellt sich ein Lerneffekt aus Erfolgen und Misserfolgen ein. Diagnostik ist jedoch nur ein Teil der ärztlichen Tätigkeit und welche Priorität die Diagnostik hat, muss jede medizinische Fachperson entsprechend dem eigenen Aufgabengebiet selbst festlegen. Speziell die Innere Medizin ist jedoch häufig das «Backup» bei unklaren diagnostischen Situationen, weshalb es für Internistinnen und Internisten naheliegend ist, dem «Diagnostic Reasoning» eine hohe Priorität zu geben.

Zur Person

PD Dr. med. Stefan Markun ist Facharzt für AIM und Forschungsgruppenleiter des «FIRE-Projekts» am Institut für Hausarztmedizin in Zürich. Zudem ist Stefan Markun Lehrbeauftragter für das Humanmedizin-Studium an der Universität Zürich und an der ETH Zürich mit den Schwerpunkten Anamnesetechnik sowie «Diagnostic Reasoning». Selbst hegt er ein grosses Flair für Methoden des rationalen Denkens. Stefan Markun ist Gewinner des SGAIM-Teaching-Awards 2022.

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Korrespondenzadresse

Sascha Hardegger

Verantwortlicher Kommunikation/Marketing

Schweizerische Gesellschaft für Allgemeine Innere Medizin (SGAIM)

Monbijoustrasse 43

Postfach

CH-3001 Bern

sascha.hardegger[at]sgaim.ch

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