Eustress – Eupression – Euphorie: Eine Diagnose ist oft unwichtig – und das Leben alles!
Eine Diagnose ist oft unwichtig – und das Leben alles!

Eustress – Eupression – Euphorie: Eine Diagnose ist oft unwichtig – und das Leben alles!

Reflektieren
Édition
2016/19
DOI:
https://doi.org/10.4414/phc-f.2016.01355
Prim Hosp Care (fr). 2016;16(19):369-370

Affiliations
Redaktor Primary and Hospital Care

Publié le 12.10.2016

Einmal mehr lehrt mich einer meiner alten Freunde ­etwas. Es sei ihm einfach wohl, wenn er in der Sprechstunde unter einem leichten Druck stehe. So alle 15 Minuten und manchmal halt auch in kürzeren Abständen kommt ein anderer Patient, und noch einer und noch einer ... Die Konsultationen rollten wie die Wägelchen eines Zuges, sagt er, und die Zeit fliege vorbei. Wunderbar, das ist also mein Energiespender, den ich auch verspüre, aber dem ich nie so richtig nachging! Klar, das ist wahrscheinlich der Eustress, der Schuss Adernalin, der angenehme Kick und dann der Flow, der daraus entsteht?! Und daher auch der Vergleich mit den Junkies und der nicht einfache Entzug. Das Nikotin einer Zigarette – sagen uns die Experten – schiesse in sieben Sekunden ins Gehirn und sei damit schneller als intravenöses Heroin. Dem muss ich gleich beifügen, dass mir manche Patienten noch schneller «einfahren» als die erwähnten Substanzen. Von der Blutdruckkontrolle (einfach, dafür langweilig) bis zur bösen RQW am Finger (gerade am Limit für den Hausarzt, aber spannend) kann es zwanzig Sekunden dauern oder anders gesagt 6,5 Meter hinüber ins andere Sprechzimmer. Das ist das Lebenselixier des Landarztes, der gerne auf verschiedenen Hochzeiten tanzt, jedoch manchmal durchaus auch etwas darunter leidet. Aber es gibt bekanntlich nichts Gutes ohne einen anständigen Preis.
Ich nehme an, dass der Zimmermann beim Aufrichten des Dachstockes, der Bauer beim Kalbern, die Bergsteigerin an der Wand, der Advokat beim Plädoyer, die Hebamme bei der Geburt das gleiche angenehme Kribbeln verspüren. Dieser eigenartige Zustand, gerade noch im grünen bis orangen Bereich, wo das Leben pulsiert und der Körper ganz wenig vibriert. Oh, wie man sich an diese Lebensart gewöhnt, wo immer Überraschendes auf einem zukommen kann – und wie man sie vermissen wird. Das ist der Eustress, den viele Menschen nicht missen möchten und der das Arbeiten erleichtert. Darum spreche ich auch nicht so gerne von Stress bei meinen Patienten, sondern frage genau nach, wie sie den Beruf erleben. Das Problem ist nämlich nicht so sehr die Anzahl Stunden und oft auch nicht das Gebiet. Menschen können lange und ausdauernd arbeiten, wenn sie selbst bestimmen oder mitbestimmen können, wenn sie ein Ziel sehen, Anerkennung und Wertschätzung (der Lohn ist natürlich auch gemeint) erhalten. Das echte Problem ist die Menge an Ärger, unberechtigte Kritik, schlechte Stimmung am Arbeitsplatz, Leerlauf, Langeweile usw. Da muss sich der freiberufliche Arzt an der eigenen Nase nehmen, wenn er sich über solche Widrigkeiten beklagt. Liebe Kolleginnen und Kollegen, gestalten Sie sich Ihren ­Arbeitsplatz mit einer gehörigen Portion Eustress und organisieren Sie sich den Ärger weg. Nicht immer einfach, aber es geht um Ihr Leben in der Arbeit!
Frau M. C. ist seit einem halben Jahr Witwe. Sie sagt, dass sie heute weniger weine, aber ihren Mann immer noch unendlich vermisse. Sie sei oft traurig, denke aber gerne an die 56 Jahre Ehe zurück. Man habe sich gern gehabt und selten – dafür dann richtig – gestritten, und so sei man immer mehr zusammengewachsen. Sie habe ja gewusst, dass es für einen von ihnen einmal so kommen müsse. Wenn man sie gemäss einem Fragebogen für Depressionen befragen würde, hätte sie ein leichtes depressives Syndrom. Aber sie selbst sagt dem Hauarzt, sie sei nicht krank. Es sei doch normal, dass sie schlechter schlafe und weniger Appetit habe usw. «Irgendwie stimmt dieses Gefühl», meint sie: «Wie soll ich sonst Abschied nehmen von meinem Mann?» Der Hausarzt schaut sie an, wie sie so dasitzt und mit gesetzten Worten redet. Er denkt sich, dass die Leute manchmal weiser sind als die gelehrten Mediziner, und plötzlich kommt ihm unfreiwillig das Wort «Eupression» in den Sinn. Stimmt doch, Fr. M. C. ist auf ihre Art genauso depressiv, wie man es erwarten würde, und sie beansprucht für sich eine Zeit der Trauer. Er ist sich plötzlich sicher, dass diese kluge Frau eines Tages aufsteht und sagen kann, dass die Zeit der Trauer vorbei sei. Reinpfuschen mit einem Medikament wäre falsch, nachfragen darf man immer. Als die Beiden sich die Hand geben zum Abschied bedankt sich die Patientin beim Arzt, der dadurch fast etwas verlegen wird. Denn hier war eine weise und bescheidene Lehrmeisterin in die Sprechstunde gekommen. Sie liess ihren Lehrling zurück, der begriff, dass eine Diagnose oft unwichtig und das Leben alles ist!
In unserem Land tun wir uns schwer mit der Euphorie. Wenn ich den holländischen Teil unserer Familie anlässlich eines Fussballmatches jubeln sehe, beneide ich diese Eigenart der Niederländer. Es ist eine liebenswürdig, tolpatschige und überschwengliche Art des Feierns, fernab vom kriegerischen Getue der Hooligans. Von der süssen Torte Euphorie dürften auch wir manchmal ein kleines Stück abschneiden. Das gleiche Phänomen ist zu beobachten, wenn holländische Referenten auftreten mit ihrer ansteckenden Frischheit und Spontanität, und selbst aus den holländischen Studien geht eine Zuversicht hervor, wie wir sie selten aufbringen. Als Kenner der Szene kann ich Ihnen sagen, liebe Leserinnen und Leser, dass die berühmten holländischen Hausärzte unwesentlich anders sind als wir. Aber sie verkaufen sich besser und generieren eine Selbstzufriedenheit, die ich ihnen sehr gönne. Sie haben aber summa summarum die gleichen Troubles wie wir. Wenn ich zum Beispiel von ihnen hörte, wie gut sie depressive Patienten behandelten (Wonca 2006, Florenz), gleichzeitig aber weiss, dass ihre Sprechstundenzeit pro Patient manchmal nur acht Minuten beträgt, dann müssen sie entweder Übermenschen sein oder eine andere Wahrnehmung haben. Trotz dieser Stichelei betone ich gerne, dass ich den positiven Charakter der «Italiener des Nordens» immer wieder bewundere.
Wie wäre es also, wenn wir Schweizer die Euphorie ­etwas einüben würden? Ich kann mich manchmal ­richtig ärgern über meine Zurückhaltung im Umgang mit Patienten! Geht etwas gut, mache ich dem Patienten Komplimente. Misslingt es, nehme ich es auf meine Kappe. Zum Glück gibt es unter den Patienten immer wieder Euphoriker, die einem den Alltag versüssen. Bei denen ist immer alles besser, als es in Wirklichkeit ist, und sie lassen den Arzt gerne daran teilhaben. Eine solche Depotspritze mit fremdem Euphorikum hält manchmal ein, zwei Tage. Aber meine eigene Euphorikumdrüse leidet wohl unter einer genetischen Schwäche, die vom mittelständischen protestantischen Elternhaus herrührt, wo man davor warnte, zu euphorisch zu werden. «Absalom der Königssohn (das war der Playboy mit den langen Haaren hoch zu Ross) blibt am Bäumli hange, hätt er siine Eltere gfolgt, wer’s ihm nitt so gange». Solche Sprüchlein, so lächerlich sie sein mögen, sitzen tief. Aber ich verspreche hiermit hoch und heilig und oute mich damit ziemlich waghalsig, dass ich immer wieder einen Anlauf nehmen werde, die Euphorie zu üben. Ich überlasse selbstverständlich jeder und jedem den Kommentar und das Vorgehen im eigenen Fall, und verabschiede mich – für einmal leicht euphorisiert.
Dr. med. Edy Riesen
Facharzt für Allgemeinmedizin FMH
Hauptstrasse 100
CH-4417 Ziefen
edy.riesen[at]hin.ch