Ein ganz gewöhnlicher Arzt hat eine ganz gewöhnliche Erkältung
Von männlichen kranken Wesen

Ein ganz gewöhnlicher Arzt hat eine ganz gewöhnliche Erkältung

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Édition
2017/03
DOI:
https://doi.org/10.4414/phc-f.2017.01458
Prim Hosp Care (fr). 2017;17(03):59-60

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Publié le 08.02.2017

Ach, wie leidet ein gewöhnlicher Doktor unter seiner eigenen Erkältung! Taschentuch um Taschentuch wandert in den Wäschekorb, der Kopf ist dumpf, die sonst sonore Stimme wechselt zwischen Falsett und Kettenrauchersound. Nächtliche Hustenanfälle lassen das Ehebett erbeben und zwingen ihn, um vier Uhr morgens heisse Milch mit Honig zu schlürfen. Werte ­Damen, für einmal heisst es nicht: Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird hier nur die männliche Form verwendet, die weibliche ist gleichermassen damit gemeint. Nein, hier sprechen wir explizit von männ­lichen kranken Wesen; denn wie mir eine meiner drei Töchter mit unverhohlener Genugtuung erklärte, gäbe es im Angelsächsischen ein Diktum, dass es ein Glück sei, dass die Frauen den Geburtsschmerz erführen, denn nur so könnten sie ahnen, wie sehr der Mann an einer Erkältung leide! Ja, natürlich, sie ist Krankenschwester, wie meine Frau auch, und die kennt man als unerbittliches Gegenüber, mitleidlos-sachlich und mit leicht spöttischem Blick das tägliche Krankenheitsbulletin des Vaters resp. Ehemanns entgegennehmend. Die Flucht in die Praxis hilft auch nicht, denn dort ist man dem Zynismus der Kundschaft ausgesetzt. So, so, den Doktor hat’s auch erwischt, aber, aber. Oder noch besser: Sie sollten aber zum Arzt gehen usw. Da sind sie, die genüsslichen Retourkutschen, die ich in meinem Elend gar nicht humorig finde. Ich murmle dann jeweils etwas davon, dass auch ein Pfarrer in die Hölle kommen könne, oder dass ich zweimal pro Saison auch etwas zu Gute hätte und derlei dumme Antworten. Insgeheim denke ich aber, dass ich sicher kränker sei als die Hälfte meiner – heute gar nicht so – lieben Patienten. Und so schleppe ich mich durch die Sprechstunde, krächzend und ungeduldig, und meine einzige Genugtuung ist, dass ich bei besonders schwierigen Chronophagen (die meist hypochondrisch sind) einen Mundschutz trage und darunter hervor – während ich meine Hände demonstrativ lange desinfiziere – mit dumpfer Stimme verlauten lasse, dass wir es heute kurz halten wollten. Die Ansteckungsgefahr hänge nämlich unter anderem von der Expositionsdauer mit Keimen ab. Das ist dann ein einsames Highlight eines tristen Vor­mittages. Ach, und die Therapien. Es gibt ja nichts Cochrane-würdiges, das wirklich hilft. Und doch will auch ich etwas schlucken. Also 3 × 30 Phytotröpfchen und einen Hustensirup für die Nacht, der mich Abstinenzler für ein paar Stunden regelrecht abmeldet. Heldenhaft verzichte ich auf ein Antibiotikum (das ja sowieso nichts nützen würde). Dafür nehme ich ab und zu ein Schmerzmittel gegen Kopf-, Hals- und Gliederschmerzen. Nicht einmal Fieber habe ich, was meinen erbärmlichen Zustand besser legitimieren würde. Die einzigen echt mitmenschlichen Wesen sind die guten MPAs, die aufgrund meines Falten- und Lidspaltenfaktors (das heisst, das Gesicht zerfurcht wie eine Wettertanne und winzige Augen) wissen, was es geschlagen hat. Ich darf zum Znüni nicht einmal den Kaffee selbst herauslassen – ihr Mitleid ist eine Wohltat!
Ich muss allerdings zugeben, dass sich im Laufe des Morgens mein Selbstmitleid aufzulösen beginnt. Wenn dieses negative Gefühl verschwindet, ist alles ­erträglicher. Nicht vergebens pflegte meine Frau an­gesichts eines Unwohlseins (seelisch oder körperlich?) jeweils zu sagen: «So, geh jetzt erstmal in die Sprechstunde, das hat Dir immer am besten geholfen. Dort kannst Du Deinen referentiellen gesundheitlichen Urmeter wieder einstellen und siehst, dass es anderen viel besch… geht als Dir.» So einer bin ich also? Eine Art «hypochondrischer Medicaholic» oder so ähnlich? Ich will jetzt nicht, dass Sie nun plötzlich kein Mitleid mehr mit mir haben, umso mehr als Sie wahrscheinlich auch Ärztin oder Arzt sind und die Situation zu Genüge kennen. ich hoffe wirklich auf viel Mitgefühl! Am Ende des Klageliedes sei, mit einem Glas heissen Holunders in der Hand, ein kleines Hoch auf die Erkältung gesungen mit der Frage, ob es nicht schön wäre, sich wieder einmal richtig in einen Infekt reinzuhängen, diese Sitzung und jenen Bericht sausen zu lassen, sich ins Schneckenhaus zu verkriechen, abends auf dem warmen Ofen zu liegen und zu spüren, dass es langsam – aber bitte nur ganz langsam – besser wird!
Dr. med. Edy Riesen
Facharzt für ­Allgemeinmedizin FMH
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CH-4417 Ziefen
edy.riesen[at]hin.ch