Oh, dieses Drama!
Immer wieder genial inszeniert von unserer eigenen Choreografin, der Erinnerung

Oh, dieses Drama!

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Édition
2018/11
DOI:
https://doi.org/10.4414/phc-f.2018.01698
Prim Hosp Care Med Int Gen. 2018;18(11):201-202

Affiliations
Chefredaktor; Leiter Chronic Care, Institut für Hausarztmedizin Zürich; Hausarzt in Zug

Publié le 13.06.2018

Kleine und grosse Dramen des Alltags, die uns berühren: Genau betrachtet sind es Geschichten, mit Leidenschaft und Hingabe erzählt oder durchlebt, an denen wir für kurze Momente teilhaben.

Wenn Sie durch die Stadt spazieren oder über den Dorfplatz, dann werden Sie auf Schritt und Tritt Zeuge von Dramen – vorausgesetzt, Sie sind aufmerksam und aufnahmebereit (oder wie es heute heisst: achtsam). Hier schluchzt ein Kind herzzerreissend, weil es seine ­Mutter aus den Augen verloren hat; dort verlieren sich zwei Verliebte in zartem Kuss aneinander, eine gefühlte Ewigkeit lang. Eine Hausecke weiter schreien sich zwei Teenager unerbittlich an, es geht um einen Verehrer, die Eifersucht kocht hoch. Im Tram dösen verkaterte Studenten vor sich hin – die letzte Nacht war wohl kurz – Seite an Seite mit einem leise vor sich hin brummelnden, verwahrlost gekleideten Mittfünziger, dessen graue Haare in alle Richtungen wuchern. Welche jahrelange Abwärtsspirale hat ihn wohl bis hierher geführt?
Die flüchtigen, manchmal nur einen Augenblick kurzen Begegnungen lassen viele Fragen offen, die Fantasie darf wild spekulieren, welche Geschichte hinter der Szene steht. Die emotionalen Kulminationspunkte all dieser individuellen Geschichten berühren uns, lassen uns für kurze Momente mitschwingen. Zur Kunstform erhoben führen sie uns in die Oper, wo uns Liebesintrigen aufwühlen und wo wir mit sterbenden Diven mitleiden. Die Dramaturgie eines Thrillers fesselt uns ans Sofa oder den Kinosessel. Den Meisterinnen des ­Faches, die ihre Auftritte im realen Leben dramatisch inszenieren, verleihen wir den ihnen gebührenden ­Titel: Drama Queen. Die (neidvolle?) Ironie in dieser ­Bezeichnung lässt erahnen, dass es auch ein Übermass an Drama gibt, wo man sich plötzlich Unaufgeregtheit und Langeweile wünscht.
Wenn wir auf das Drama unseres eigenen Lebens zurückblicken, dann haben wir eine geniale Choreo­grafin zur Seite: Die Erinnerung. Ein paar kleine Kunstgriffe unserer Neuronen, und schon wird die verpasste Gelegenheit zu weiser Voraussicht, der Riesenkrach zum harmlosen Wortgefecht, der bodenlose Liebeskummer zum leisen Bedauern. Unsere Erinnerung schreibt die Biogafie gnädig um, beleuchtet mit warmem Licht, was kalt und bitter war. So hilft sie uns, zuversichtlich in Gegenwart und Zukunft zu funktionieren, anstatt ständig mit der Vergangenheit zu hadern.
Dramen miterleben heisst am Leben beteiligt zu sein. Und so ist das narrative Element in der Sprechstunde eine Bereicherung für uns; die vielen Geschichten, die wir von unseren Patienten erzählt bekommen! Etliche echte Dramen sind darin eingestreut, die eine Opernhandlung oder den Plot eines Romans alt aussehen ­lassen. Es sind auch Geschenke unserer Patienten an uns. Sie öffnen uns eine Tür, geben uns vertrauensvoll ­einen Einblick in ihre Geschichten und ihre Gefühle.
Das letzte Drama, wenn der Tod naht. Wenn aus der ­Komödie eine Tragödie wird. Der dramatische Verlust eines geliebten Menschen als notwendiges Ende seiner Lebensgeschichte. Glücklich, wer unaufgeregt er­leben oder begleiten kann, wenn der letzte Vorhang fällt.
Dr. med. Stefan Neuner-Jehle,
MPH, Institut für ­Hausarztmedizin Zürich
Pestalozzistrasse 24
CH-8091 Zürich
Sneuner[at]bluewin.ch