Die Märchenerzählerin
Ich leide, also bin ich

Die Märchenerzählerin

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Édition
2018/17
DOI:
https://doi.org/10.4414/phc-f.2018.01807
Prim Hosp Care Med Int Gen. 2018;18(17):309-310

Affiliations
Ehemaliger Redaktor PHC, pensionierter Hausarzt, Ziefen BL

Publié le 12.09.2018

Man sollte sich selbst nicht zu ernst nehmen. Aber manche Patienten kann man auch nicht ganz ernst nehmen. Da hilft eine Prise Humor und Gelassenheit und auch immer wieder der nötige Respekt vor dem Gegenüber.

Frau M. ist eine virtuose Erzählerin. Sie lässt mich schon ein halbes Leben lang teilhaben an ihren Seitensprüngen bei diversen Therapeutinnen und Therapeuten, und es ist mir nie ganz klar, ob sie mich damit provozieren oder meine Toleranz testen will, aber wahrscheinlich ist keines von beidem der Fall. Wir Ärzte, das muss man einfach zugeben, kommen mit ­ihren Symptomen nicht zurecht und es ist legitim, dass sie sich ihren Weg sucht, der nur teilweise durch Zusatzversicherungen vergütet wird. In all den Jahren haben sich Therapeutinnen, Naturärzte und auch Kolleginnen und Kollegen mit Homöopathie, Traditioneller Chinesischer Medizin, Oligotherapien, Bioresonanz und vielem Weiteren an ihr bereichert. Es muss sie Zehntausende von Franken gekostet haben. Schon lange glaube ich nicht mehr daran, dass die alternativen Methoden so kostengünstig sind, wie immer behauptet wird. Da sie die Patienten selbst berappen, tauchen sie in keiner Statistik auf! Nun gut, Fr. M. kann durchaus Erfolge vorweisen und muss sich nun alle vierzehn Tage nicht nur zur Coiffeuse, sondern auch zu ihrer Therapeutin begeben, wo die Stunde lumpige Fr. 110.– kostet. Aber man leistet sich ja sonst nichts, und die Migräne komme nur noch alle drei statt alle zwei Wochen, die Allergie auf Weizen sei beinahe ausgependelt und selbst der Ehemann sei pflegeleichter geworden.
Liebe Leserinnen und Leser, meine Kolumne rutscht in die Schräglage, und dabei will ich gar keine Glosse schreiben, sondern nur von der unüberblickbaren Therapieszene im Schatten berichten. Über Mackie Messer in der Dreigroschenoper heisst es: «Denn die einen sind im Dunkeln und die andern sind im Licht. Und man siehet die im Lichte, die im Dunkeln sieht man nicht.» [1] Darum höre ich wohl einfach nichts von alle dem, was dort in die Hosen geht (entschuldigen Sie den groben Ausdruck). Es gibt natürlich niemand gerne zu, dass er Tausende von Franken ausgibt und es passiert nichts. Aber wenn es bessert, wehe, dann wird es dem einfachen Medizinmann unter die Nase gerieben, durchaus mit Anstand aber – oder täusche ich mich? – doch leicht maliziös. Ja, aber Herr Doktor, dass man all die Jahre nicht herausgefunden hat, dass es eine Weizen­allergie ist. Kollege Rumpelbauch brauchte da nur eine ausführliche Anamnese und eine Blutanalyse (in Deutschland) für 870 Franken und schon hatten wir den Bösewicht. Als alter mit allen Wassern gewaschener Praktiker habe ich schon die verschiedensten Hypes überlebt, angefangen von Phosphat in der Schokolade über die Kuhmilch, die Farbstoffe in der Ernährung, das Amalgam und vieles andere mehr. Momentan sind wir nun also in der Endzeit des Weizens angelangt, wo sich wieder einmal alle Probleme wunderbar lösen lassen mit der Behauptung, der Weizen sei an (fast) allem schuld. Nebenbei bemerkt esse auch ich gerne Dinkel, Roggen und andere Körner. Dass es Patienten gibt, die unter ihrer Zöliakie leiden, ist ein anderes Kapitel – aber es sind plötzlich Unmengen von Leuten, die Weizen nicht vertragen!
Die liebe Frau M. ist nicht nur eine meisterhafte Erzählerin, nein, sie erfindet unermüdlich neue Krankheiten, die sie in ihre medizinischen Vexierbilder einbaut. Ihre Symptome verhelfen ihr paradoxerweise zu ­einem besseren Lebensgefühl: «Ich leide, also bin ich». Nur ist die Aufklärung an ihr vorbei gegangen, oder sie hat nie ­etwas davon gehört? Alle chemischen und physikalischen Gesetze und die Resultate seriöser medizinischer Forschung kollabieren angesichts eines Kistchens mit ein paar elektronischen Schaltungen, Drähtchen angehängt an zwei Platten. Diese Methode löst auch bei mir eine ganz besondere Resonanz aus, nämlich die Befürchtung, dass wir oder zumindest ein Teil von uns wieder in Richtung Mittelalter zurück driften, wo Geister und Mythen alles beherrschen.
Nun scheint es aber so zu sein, dass neben dem Maschinchen eine durchaus sensible Therapeutin (vielleicht ist sie einfach nur schlau) sitzt, und ihr gelingt es ganz offensichtlich, Frau M. zu packen. Bei ihr fühlt sie sich verstanden, weil dort nicht nur ihre Symptome behandelt werden (wie sie sagt), sondern sie ganzheitlich durchtherapiert wird; bis auf den Grund ihres Portemonnaies (wie ich behaupte). Was so viel kostet, muss auch gut sein!
Ja, da sitzen wir zwei also nun und sind ganz friedlich. Wie zwei Staatschefs, die sich diplomatisch anlächeln und sich eigentlich lieber verbales Gift geben würden. Wir haben schon lange einen Waffenstillstand vereinbart. Der Deal lautet, dass ich der Patientin jeweils fünf Minuten Zeit einräume, um ein weiteres Kapitelchen aus ihrem Fortsetzungsroman «Die lebenslange Heilung der Dolores M.» vorzutragen, und dass ich dann möglichst sachlich (hoffe ich) ihre aktuelle Version aus meiner Optik kommentiere. Dann tragen wir sozusagen zusammen in ihr Dossier ein, dass ich sie getreulich medizinisch informiert habe. Und manchmal – ja wirklich! – gelingt es mir, der Patientin eine schulmedizinische Behandlung angedeihen zu lassen; denn die clevere Frau weiss eigentlich ganz gut, wann sie den alten Onkel Doktor braucht!
Dr. med. Edy Riesen
Facharzt für Allgemeinmedizin FMH
Hauptstrasse 100
CH-4417 Ziefen
edy.riesen[at]gmx.ch
1 Die Moritat von Mackie Messer, Die Dreigroschenoper, Bertolt Brecht, Kurt Weill, 1928.