Dozent für Psychosoziale Medizin an der Universität Bern und Dozent für Spiritual Care an der Universität Basel, Leiter Forschungsinstitut für Spiritualität und Gesundheit FISG und Ärztlicher Consultant in der Klinik SGM Langenthal
Das Credo von George L. Engel bekommt im Kontext von Spiritual Care neue Bedeutung. 42 Jahre nach der historischen Publikation Engels stellt sich erneut die Frage nach einer Erweiterung des medizinischen Modells. Auch die spirituelle Dimension soll berücksichtigt und in ein umfassendes Behandlungsmodell integriert werden.
Geht die Erfolgsgeschichte der «Psychosomatik» damit zu Ende? Ich meine Nein! Das biopsychosoziale Modell hat die Medizin nachhaltig verändert. Mit Recht weist Rolf Adler auf die Bedeutung des biopsychosozialen Ansatzes für das Verständnis des Schmerzes hin [2]. Zudem wird die biopsychosoziale Medizin an allen medizinischen Fakultäten gelehrt. Dies nicht nur als Zusatz, sondern an einigen Universitäten als Grundlage der gesamten Medizin. Dies soll und darf sich auch im Rahmen von Spiritual Care nicht ändern.
Die Notwendigkeit einer Erweiterung des biopsychosozialen Modells
Neuere Entwicklungen, zum Beispiel in der Palliativmedizin [3], fordern eine Erweiterung des biopsychosozialen Modells. Patienten suchen in existenziellen Krisen, zum Beispiel durch eine Krebserkrankung, nach erweiterten und alternativen Behandlungsmöglichkeiten. Sie ringen um Sinn, Halt, Identität und Hoffnung. Dabei greifen sie nicht selten auf religiöse Ressourcen zurück oder suchen Hilfe in spirituellen oder alternativen Praktiken.
Ein neuer Forschungszweig beschäftigt sich mit der Rolle von Religiosität und Spiritualität im Kontext von Gesundheit, Krankheit und Heilung. Eine wachsende Anzahl empirischer Studien belegt vielfältige Zusammenhänge [4]. Hausärzte bestätigen diesen Einfluss aufgrund ihrer klinischen Beobachtung [5]. Lässt sich damit die dualistische Sichtweise von materiell und immateriell, von immanent und transzendent aufrechterhalten? Kann die sinn- und identitätsstiftende Kraft religiöser und spiritueller Traditionen als Ressource in der Krankheitsbewältigung ausser Acht gelassen werden? Müssen angst-, schuld- und schambesetzte Gottesbilder nicht als Belastungsfaktoren identifiziert werden?
Trotz oder gerade wegen der fortschreitenden Säkularisierung scheint das Bedürfnis nach «Spiritualität» zu wachsen. Individualisierte Formen von Religion stehen dabei im Vordergrund. Religionssoziologische Untersuchungen [6] zeigen diesen Trend. Auch die Migration schafft neue Realitäten im Gesundheitswesen. Migranten aus anderen Kulturkreisen sind oft stärker in ihren religiösen Traditionen und Praktiken verwurzelt. Auch ihr Krankheits- und Heilungsverständnis ist davon beeinflusst. Lassen wir dies ausser Acht, so kann unsere Behandlung an den Betroffenen vorbeigehen oder religiöse Traditionen verletzen.
Ein Blick in die psychosomatische Fachliteratur
Renommierte psychosomatische Zeitschriften veröffentlichen zunehmend Beiträge zu Religiosität und Spiritualität. Hier nur zwei Beispiele aus der deutschsprachigen Literatur. Die Zeitschrift für Psychotherapie, Psychosomatik und medizinische Psychologie PPmP publizierte 2017 einen Artikel über «Religiöse/spirituelle Bedürfnisse und psychosoziale Belastungen bei Patienten mit malignen Melanomen» [7]. Die Studie fand, dass alle Malignom-Patienten spirituelle Bedürfnisse äusserten und diejenigen, die sich als religiös bezeichneten, eine geringere psychische Belastung aufwiesen. Dies wurde als Hinweis gedeutet, dass Religiosität eine wichtige Ressource in der Krankheitsbewältigung darstellt. Spirituelle Bedürfnisse sollen im Behandlungsprozess im Sinne eines integrativen Behandlungskonzepts sowohl von psychoonkologischer als auch von seelsorgerlicher Seite erfragt und berücksichtigt werden, dies das Fazit der Studie. Bereits 2004 veröffentlichte PPmP einen Beitrag zum Thema «Religiöse Einstellung und Krankheitserleben» [8].
Ein News Release der American Psychosomatic Society vom 7. März 2019 (im Rahmen des jährlichen Kongresses) befasste sich mit “Purpose in Life – An Overlooked Link for Why Religious People Live Longer”. Dabei ging es um die gut belegte, salutogene Wirkung eines religiösen Lebensstils, die in einer 18-jährigen, prospektiven Studie erneut belegt werden konnte. Als wichtiger Einflussfaktor erwies sich das Gefühl der Sinnhaftigkeit («Purpose in Life»), das sich aber nicht auf die religiösen Studienteilnehmer beschränkte.
Spiritual Care als neues Fachgebiet
Eckhard Frick, ehemaliger Lehrstuhlinhaber der Professur für Spiritual Care in München, definiert das neue Fachgebiet folgendermassen: «Spiritual Care bedeutet die gemeinsame Sorge für den kranken Menschen in all seinen Dimensionen, neben der physischen und psychosozialen auch in seiner spirituellen. Darauf hat sich die WHO seit der Charta von Bangkok für die gesamte Heilkunde verständigt. Medizin und Pflege anerkennen die spirituelle Dimension ihrer Patienten und erklären sich in spirituellen Dingen für mitzuständig, nicht alleine und nicht gegen die Kompetenzen von Seelsorge, Psychotherapie und Sozialer Arbeit, sondern in Zusammenarbeit mit diesen Gesundheitsberufen» [9].
Diese Definition entspricht dem erweiterten biopsychosozialen Modell, wie ich es in einer früheren Ausgabe von PrimaryCare dargestellt habe [10]. Dieses Modell konstituiert Religiosität als vierte Dimension im biopsychosozialen Modell (Abb. 1), aufbauend auf dem Konzept der Selbsttranszendenz von Viktor Frankl [11].
Simon Peng-Keller, Inhaber der neuen Professur für Spiritual Care an der theologischen Fakultät der Universität Zürich, spricht von einem neuen Forschungs-, Lehr- und Praxisfeld im Gesundheitswesen [13]. Spiritual Care verstehe sich als ganzheitlicher Behandlungsansatz: Patientinnen und Patienten sollen umfassend begleitet werden – auch hinsichtlich ihrer spirituellen Bedürfnisse. Dabei weite der Begriff «Spiritualität» den Blick über traditionelle Religionen hinaus und beziehe individuelle Sinnsuche mit ein. Medizinstudentinnen und -studenten haben im Rahmen der neuen Professur die Möglichkeit, Spiritual Care im Studium zu lernen [14].
Auch an anderen Universitäten wurden Aus- und Weiterbildungsangebote für Spiritual Care geschaffen. Dazu gehören der Masterstudiengang für Spiritual Care an der Universität Basel (Prof. Zeilhofer), ein CAS Spiritual Care an der Universität Zürich (Prof. Peng-Keller), ein CAS Spiritual Care (Prof. Noth) und ein Wahlpraktikum «Medizin und Spiritualität» (Dr. Hefti) an der Universität Bern, sowie die interdisziplinäre Plattform MS3 am Universitätsspital Lausanne (CHUV). Am Kantonsspital Aarau wurde eine 40%-Stelle eingerichtet, um Spiritual Care im Kontext dieses Zentrumspitals umzusetzen. In der Klinik SGM in Langenthal werden seit über 30 Jahren Assistenzärztinnen und -ärzte in praktischer Spiritual Care ausgebildet. Im Rahmen des Arbeitskreises Spiritual Care Schweiz (ASCS) wurde die «Spiritual Care Landschaft Schweiz» in einer Übersichtskarte zusammengefasst (Abb. 2).
«The Need for a New Medical Modell» – ein vorläufiges Fazit
Medizinische und gesellschaftliche Entwicklungen fordern eine Erweiterung des biopsychosozialen Modells [12]. In diesem Sinne erhält das Credo George L. Engels eine neue Bedeutung. Hausärztinnen und Hausärzte kennen den Einfluss von Religiosität und Spiritualität auf Gesundheit, Krankheit und Heilung aus ihrem Praxisalltag [5]. Die konkrete Integration von Spiritual Care in die Patientenbehandlung erfordert aber aktive Unterstützung und Schulung. Idealerweise beginnt diese bereits im Medizinstudium [14]. Die wachsende Anzahl qualifizierter Weiterbildungsangebote, wie in Abbildung 2 zusammengestellt, kann hierzu einen Beitrag leisten.
Umgekehrt muss Spiritual Care in den biopsychosozialen Kontext eingebettet werden, um den vielfältigen Wechselwirkungen mit biologischen und psychosozialen Faktoren Rechnung zu tragen (Abb. 1) und einen patientenzentrieten Zugang zu gewährleisten.
Correspondance
Dr. med. René Hefti Forschungsinstitut FISG Weissensteinstrasse 30 CH-4900 Langenthal rene.hefti[at]rish.ch
Literatur
1 George L. Engel. The Need for a New Medical Model: A Challenge for Biomedicine. Science, New Series, 1977;Vol.196:4286:129–36.
2 Rolf H. Adler. 2011. George L. Engel: Schmerz umfassend verstehen – der biopsychosoziale Ansatz zeigt den Weg. Verlag Hans Huber, Bern.
3 Saunders C (2006) Spiritual Pain. In: Clark D (Hg.) Cicely Saunders. Selected writings 1958–2004. Oxford: Oxford University Press. 317–321.
4 Harold G. Koenig, 2012. Handbook of Religion and Health. Oxford University Press.
5 Eglin M. (2018) Was glauben Ärzte und welchen Einfluss des Glaubens beobachten sie bei ihren Patienten? Masterarbeit Universität Basel.
6 Jörg Stolz, Judith Könemann, Mallory Schneuwly Purdie, Thomas Engelberger, Michael Krüggeler, 2014. Religion und Spiritualität in der Ich-Gesellschaft – Vier Gestalten des (Un-)Glaubens. Theologischer Verlag Zürich
7 A. Haussmann, N. Schäffeler, M. Hautzinger, B. Weyel, T. Eigentler, S. Zipfel, M. Teufel, 2017. Religiöse/spirituelle Bedürfnisse und psychosoziale Belastung von Patienten mit malignem Melanom. Psychother Psych Med 67(09/10): 413–9.
8 S. Tagay, M. Langkafel, W. Senf. Religiöse Einstellungen und Krankheitserleben. Psychother Psych Med 2004;54:(02).
9 E. Frick, 2011. Spiritual Care. Zur Debatte 11/1: 38–40.
10 R. Hefti. Spiritualität – die vierte Dimension oder der vergessene Faktor im biopsychosozialen Modell. PrimaryCare 2010;10(14):259–60.
11 V. E. Frankl. The Spiritual Dimension in Existential Analyses and Logotherapy. Journal of Individual Psychology 1959;15:159–64.
12 R. Hefti. The Extended Biopsychosocial Model – A Whole Person Approach to Psychosomatic Medicine. Psyche & Geloof 2013;24(2):119–30.
13 S. Peng-Keller. «Spiritual Care» im Werden. Spiritual Care 2017;6(2):175–81.
14 S. Peng-Keller, M. Argiro. Spiritual Care im Medizinstudium an der Universität Zürich. Spiritual Care 2017;6(2):261–3.