Teil 2: Zusammenarbeit an der Schnittstelle Hausarzt/Spital
Enge und strukturierte Zusammenarbeit erforderlich

Teil 2: Zusammenarbeit an der Schnittstelle Hausarzt/Spital

Arbeitsalltag
Édition
2019/08
DOI:
https://doi.org/10.4414/phc-f.2019.10098
Prim Hosp Care Med Int Gen. 2019;19(08):257-259

Affiliations
a Hausarzt in Zürich und Partner von mediX zürich; b Hausarzt im Ruhestand, vormaliger Co-Chefredaktor Primary and Hospital Care, Buchautor

Publié le 31.07.2019

In Austrittsberichten von Spitälern werden wir Hausärztinnen und Hausärzte immer wieder gebeten, noch diese oder jene zusätzlichen Untersuchungen durchführen zu lassen, die während des Spitalaufenthaltes unterlassen wurden oder zur Nachkontrolle empfohlen werden. Diese scheinen jeweils eher auf die Krankheit ausgerichtet zu sein, als auf die Bedürfnisse der Patientinnen und Patienten – und schiessen nicht selten über das Ziel hinaus.

Eine kleine, aber komplexe Geschichte

Mein betagter, multimorbider Patient war im Spital, einmal mehr, da seine gesundheitliche Situation unter der herkömmlichen Behandlung und Betreuung erneut entgleist war. Bereits nach wenigen Tagen konnte er entlassen werden. Es geht ihm ordentlich gut. Er ist wieder imstande, zu Hause zu leben, selbständig in seinem Single-Haushalt mit regelmässiger Unterstützung durch die Familie und die Spitex.

Schnell geschriebene Anweisungen

Einige Tage später erhalte ich den Austrittsbericht mit zwei Seiten Diagnosen, fünf Seiten Text mit zwei Seiten über die Untersuchungsresultate, zwei Seiten zur Beurteilung und eine Viertelseite zum Procedere sowie vier Seiten mit aufgelisteten Laborresultaten und Untersuchungsbefunden. Neben durchaus sinnvollen Anweisungen im Abschnitt zum Procedere «wird der Hausarzt gebeten», noch diese oder jene weiteren Abklärungen zu veranlassen: Laboranalysen, bildgebende Untersuchungen oder sogar spezialärztliche Konsultationen und Untersuchungen. Ein erhebliches Programm, das bei meinem Patienten mit seinem fragilen Gesamtzustand und seiner leichten kognitiven Einschränkung nur mit grösstem Aufwand ambulant bewerkstelligt werden könnte.

Es stellen sich viele Fragen

Zwischen den Ansprüchen einer Krankheits-bezogenen Medizin im Austrittsbericht und meinen Vorstellungen über eine auf die persönlichen Bedürfnisse dieses gesundheitlich fragilen, betagten Mannes zugeschnittenen Medizin stelle ich mir beim Lesen dieser Anweisungen einige Fragen:
– Welcher Nutzen dürfte für meinen Patienten aus diesen zusätzlichen, wahrscheinlich nach irgendwelchen Guidelines ausgerichteten Untersuchungen resultieren?
– Wie ist es zu diesen Vorschlägen gekommen?
– Was hat die Kolleginnen und Kollegen im Spital dazu bewogen, diese nicht während der Hospitalisation durchzuführen?
– Gingen diese Untersuchungen unglücklicherweise vergessen?
– War es zu umständlich, diese aus medizinischer Sicht grundsätzlich zu erwägenden Vorschläge mit dem Patienten und seinen Angehörigen, im Kontext der gesundheitlichen Gesamtsituation und Lebensumstände, während des Spitalaufenthaltes zu besprechen?
– War es die fehlende Zeit im Rahmen der durch DRG vorgegebenen Hospitalisationsdauer?
– Oder waren es ökonomische Überlegungen, da die Kosten durch die DRG-Tagespauschale nicht gedeckt gewesen wären?
– Will sich «das Spital» mit diesen Vorschlägen vor allfälligen Unterlassungsklagen schützen?
– Wollen die Spitalärzte die Verantwortung auf den Hausarzt abwälzen?
– Wie stark verunsichere ich den Patienten und seine Familie, wenn ich diese vom Spital vorgeschlagenen Zusatzuntersuchungen nicht durchführe?
– Und last but not least: Was hat die Kolleginnen und Kollegen im Spital bewogen, mich nicht persönlich zu kontaktieren und die offenen Fragen gemeinsam mit mir zu besprechen?

Vor dem Handeln innehalten

Die Vorschläge stehen schwarz auf weiss geschrieben. Als Hausarzt kann ich sie in der Regel nicht einfach übergehen, ob sie mir selbst sinnvoll erscheinen oder nicht. Ich muss sie mit dem Patienten besprechen. Da die Situation komplex ist und der Patient die Entscheidung nicht alleine treffen will oder kann, lade ich seine Familie zu einer gemeinsamen Konsultation ein. Wir alle wollen das Beste für den betagten Mann. Die fachärztliche Meinung der Spitalärzt/-innen hat für uns alle einen hohen autoritären Stellenwert. So betrachten wir jeden einzelnen Untersuchungsvorschlag sorgfältig auf seinen Zusatznutzen für den Patienten in seiner Gesamtsituation und mit seinen Zielen. Wir wägen einen möglichen Nutzen auch gegen allfällige Risiken ab, die mit der Untersuchung verbunden sind. Und wir betrachten den logistischen Aufwand, den jede der ambulanten Untersuchungen für jeden von uns mit sich bringen würde. Da wir von keiner der im Bericht erwähnten Untersuchungen einen unmittelbaren zusätzlichen Nutzen für den Patienten erkennen können, unterlassene wir sie alle.

Den Patienten begleiten und beobachten

Wir machen uns auch Gedanken über die Ungewissheit und Unsicherheit, die bei jedem Entscheid, sei es Tun oder Lassen, weiterhin bestehen bleiben wird.
Weil wir die zukünftige Entwicklung nicht kennen, werden wir den Patienten weiterhin sorgfältig begleiten und betreuen. Wir erwägen präventive Massnahmen, wie wir einer nächsten Krise vorbeugen können. Wir legen Kriterien fest, anhand derer wir erkennen können, dass medizinischer Handlungsbedarf besteht. Wir vereinbaren, dass wir jederzeit erneut erwägen können, ob und wo wir die vorgeschlagenen Untersuchungen durchführen lassen wollen, falls die Situation es erfordern wird.
In der folgenden Zeit und in den folgenden Konsultationen sehen wir, dass es dem Patienten stabil gut geht. Er kann seinen Alltag bewältigen und sein Leben in seinem Sinn gestalten. Er ist zufrieden, wie es ist. Wir stellen fest, dass die bereitgestellten Hilfen genügen und besprechen situationsentsprechend immer wieder, wie es weiter gehen kann.
Anlässlich einer späteren Konsultation sind wir wieder einmal auf die Litanei von Untersuchungsvorschlägen im erwähnten Spitalbericht gestossen. Ich habe sie dem Patienten vorgelesen. Ich sah ihm an, dass er mir immer erstaunter zuhörte. Am Ende schüttelten wir beide schmunzelnd den Kopf. Wir waren uns einig, das alles hätte keinen Sinn für ihn gehabt.

Eine künftige Zusammenarbeit mit dem Spital planend vorwegnehmen

Zusammen mit dem Patienten und seiner Familie haben wir präventiv geklärt, was bei einer erneut notwendig werdenden Einweisung durch wen geschehen soll und wie das übernehmende Spital und die behandelnden Ärztinnen und Ärzte in den bisherigen Therapieprozess eingebunden werden können betreffend: Problemverständnis, Lösungsvorstellungen, vorhandene Ressourcen, unsere Erwartungen an die übernehmenden Behandelnden im Spital und an den Übergabeprozess am Ende des Spitalaufenthaltes. Kurz, wir haben geplant, wie eine konstruktive Zusammenarbeit mit dem Spital eingeleitet werden kann.

Appell zum Lehren und Lernen einer gemeinsamen Entscheidungsfindung

Zu meinem Hauarztberuf gehört diese Arbeit des Suchens nach einem für den Patienten in seinem Kontext angemessenen Weg auf einem Feld von Ungewissheit und Unsicherheit. Und ich bin jederzeit bereit, die Mitverantwortung für die zu treffenden Entscheide zu tragen.
Doch, mögen auch die Spitalärztinnen und -ärzte ­während der Hospitalisation sich die Zeit nehmen, mit dem Patienten und seinen Angehörigen zu sprechen. Mögen auch sie mit ihnen gemeinsam sorgfältig erwägen, welches die Behandlungsziele sind, wie weit man gehen will, was man dem Patienten zumuten darf. Mögen auch sie bei allen medizinischen Überlegungen und Verordnungen immer die Gesamtsituation des Patienten im Auge behalten, Mitverantwortung für Tun und Lassen übernehmen – und vor allem bei komplexen Situationen den Hausarzt/die Hausärztin in den Entscheidungsprozess mit einbeziehen.
Mögen wir Hausärztinnen und Hausärzte und Spital­ärzt/-innen auch während der Hospitalisationszeit eine gute und verbindliche Zusammenarbeit pflegen: Mit einem klaren, mit dem Patienten besprochenen hausärztlichen Behandlungsauftrag an das «Spital» bei der Einweisung, bei wichtigen Entscheidungen während des Spitalaufenthaltes sowie bei der Planung des Vorgehens beim Spitalaustritt. Eine gute Kommunikation insbesondere an den Schnittstellen ist eine gute Gewähr für angemessene Entscheidungen und Handlungsweisen sowie für die Prävention von Fehlern.
Diese Zusammenarbeit an den Schnittstellen zu lehren und zu lernen, gehört zentral zur Weiterbildung von ­allen Assistenzärztinnen und -ärzten, unabhängig ­davon, ob sie später Hausärzt/-innen oder Spezialärzt/
-innen sein werden. Und dafür stehen wir alle, Hausärzt/-innen, Lehrärzt/-innen sowie die weiterbildungsverantwortlichen Chefärztinnen und Oberärzte, in der Pflicht.
Herzlichen Dank an Peter Ryser, mit seiner jahrzehntelangen Erfahrung als Supervisor von Ärzten und Ärztinnen, für die kritische ­Gegenlektüre und die wertvollen Hinweise für eine lösungsorientierte Betrachtung.
Dr. med. Bruno Kissling
Facharzt für Allgemeine Innere Medizin FMH
Bern
bruno.kissling[at]live.com