Aufbruch ist angesagt in der Behandlung von Menschen mit Multimorbidität
Bericht vom EGPRN-Kongress in Tampere, Finnland vom Mai 2019

Aufbruch ist angesagt in der Behandlung von Menschen mit Multimorbidität

Forschung
Édition
2019/08
DOI:
https://doi.org/10.4414/phc-f.2019.10100
Prim Hosp Care Med Int Gen. 2019;19(08):238-240

Affiliations
SGAIM-Delegierter des European General Practice Research Network (EGPRN), Berner Institut für Hausarzmedizin BIHAM

Publié le 31.07.2019

Ein Grossteil aller über 80-Jährigen nehmen regelmässig mehrere Medikamente ein und ihre Daten flossen anonymisiert in diese Statistiken ein.

Fallvignette

Die Patientin nimmt Platz, nachdem sie ihren Rollator geübt durch die Tür bis zu ihrem Stuhl gezirkelt hat. Sie setzt sich und macht dabei einen Gesichtsausdruck, der einem klar macht, dass der Weg vom Wartezimmer hierher mit Mühe und Schmerzen verbunden war. Gleichzeitig zeigt sich ein entspanntes Gesicht, als sie sich dann setzen kann. Sie ist eine Frau, die sich immer wieder durchs Leben beissen musste: Erst eine Lungenkrankheit, dann die Scheidung und schliesslich die Schmerzen im Rücken. Sie ist heute 82-jährig und lebt alleine in ihrem alten Haus. Sie verlässt es nicht viel öfters als dann, wenn sie ihren Hausarzt aufsucht, damit Blutdruck, Diabetes, Rückenschmerzen, Atemnot, Rheuma, Schulterschmerzen, geschwollene Beine und was sich sonst noch in ihrem Leben angesammelt hat, besprochen werden kann. Der Hausarzt kennt sie schon eine Weile und überlegt sich, wie er sie am besten unterstützten kann. Während der Sprechstunde werden die nächsten Schritte gemeinsam festgehalten und ein neuer Termin vereinbart. Stühle rücken und die Finger der Patientin suchen tastend nach ihrem Rollator. Aufbruch ist angesagt.
Fernab der Praxis sprechen zwei Forscherinnen von Instituten für Hausarztmedizin darüber, wie man Polypharmazie optimieren könnte, und sie schauen in ihre Computer. Sie haben Zugriff auf eine immer grösser werdende Datenbank von Hausarztpatientinnen und -patienten [2]. Geübt tippt die Datenbankmanagerin die Codes ein und wartet gespannt auf die Sanduhr auf ihrem Bildschirm. Das Resultat erstaunt nicht. Ein Grossteil aller über 80-Jährigen nehmen regelmässig mehrere Medikamente ein, darunter auch die Patientin am Rollator, auch ihre Daten flossen anonymisiert in diese Statistiken ein. Die Daten werden aufbereitet und an ein anderes Institut für Hausarztmedizin weitergeleitet. Dort wird versucht, den Hausärztinnen und -ärzten, basierend auf diesen Daten, eine Empfehlung zu liefern, wie die Polypharmazie ihrer Patient/-innen mit Multimorbidität verbessert werden könnte. Es haben knapp 40 Kolleg/-innen mitgemacht und in Rekordzeit schon fast 320 Patientinnen und Patienten rekrutieren können [3]. Jetzt ist das Forschungsteam bereit, eine randomisert-kontrollierte Studie durchzuführen. Aufbruch ist angesagt.
Die letzten Daten sind eingetroffen. Ein Professor für Hausarztmedizin in England, Prof. Bruce Guthrie, sinkt in seinen Sessel und schliesst die Augen. Das darf nicht wahr sein: Jahrelange Vorbereitung, unzählige Planungssitzungen, Schweiss und vielleicht auch Tränen und jetzt das. Seine Studie zur Verbesserung der Lebensqualität bei multimorbiden Menschen erbrachte nicht die erhofften Resultate [4]. Die Intervention in der Hälfte der >1500 Patient/-innen aus >30 Hausarztpraxen versuchte, Betreuung, Depression und Medikamente zu optimieren. Was sich darunter verbesserte war, dass die Patient/-innen sich besser betreut fühlten und dies ohne zusätzliche Kosten, aber leider eben kein Erfolg in Bezug auf die Lebensqualität. Woran das lag, wird er am EGPRN-Kongress gefragt (siehe Infobox). Er wurde als Hauptredner eingeladen, schliesslich war er auch Mitverfasser der englischen Richtlinien bei Multimorbidität [5]. Vielleicht waren es organisatorische Probleme, antwortet er. Nur gerade 50% der Patient/innen in der Behandlungsgruppe ­erhielten auch Termine, um die Intervention durchzuführen. Oder es lag an der Art wie Lebensqualität erhoben wurde, diese liess eine Verbesserung womöglich gar nicht erkennen. «Wir brauchen Messinstrumente, Outcomes», endete er, «welche speziell bei Menschen mit Multimorbidität verwendet werden können.» Er plant jetzt eine neue Studie, um herauszufinden, ob sich Verschreibungen von Medikamenten positiv beeinflussen lassen [6]. Aufbruch ist angesagt.
Die über 300 Zuhörer im Saal im finnischen Tampere sind beeindruckt von den Forderungen des Professors aus England nach einer stärkeren Hausarztmedizin und einer Forschung, die sich zum Ziel nimmt, das zu erforschen, was für Menschen mit Multimorbidität wichtig ist. Die Kongressteilnehmenden sind von überall her angereist. Mehr als 30 Länder sind vertreten und über 100 Präsentationen werden gezeigt. Da ist der Hausarzt und Forscher aus Portugal. Er hatte das Gefühl, dass Menschen mit Multimorbidität ihm heute viel mehr Arbeit bescheren als er früher hatte. Dann hat er gezählt und fand in seiner Gruppenpraxis: 23% seiner Patientinnen und Patienten haben komplexe Multimorbidität, und diese Menschen machen 63% seiner Sprechstundenzeit aus. Er macht jetzt ein PhD zu diesem Thema und möchte darin integrieren, wie junge Ärztinnen und Ärzte bei komplexer Multimorbidität am besten mit der eigenen Unsicherheit um­gehen. Das Votum einer forschenden Hausärztin aus Norwegen nimmt er auf und wird sich auch die Menschen ansehen, die es trotz Multimorbidität nicht in die Praxis schaffen. Er sagt später, dass dies über 160 Menschen seien. Es sind diese Menschen, welche die Forscherin aus England interessieren: Sie hat einen «treatment burden»-Fragebogen entwickelt und ­berichtet von den Schwierigkeiten dabei. Diesem Problem sind auch Schweizer Forscher/-innen in ihrem SAFMED-Projekt begegnet [1]. Der englische Professor sitzt mittlerweilen im Publikum und hört eine junge dänische Kollegin sprechen, wie sie in ihrem PhD versucht, Messinstrumente für Lebensqualität bei Menschen mit Multimorbidität zu entwickeln. Dafür besucht sie diese Menschen zu Hause und fragt sie, was Lebensqualität für sie bedeutet. Der Professor schreibt interessiert mit. Aufbruch ist angesagt.
EGPRN steht für European General Practice Research Network und gehört zu WONCA Europe. Jährlich finden in Europa zwei Kongresse statt, damit sich die Forschungsgruppe über gemeinsame Forschungsprojekte austauschen kann. Für die Schweiz gab es bereits mehrere solcher Projekte, die dann zusammen mit SAFMED, dem Verband der Institute für Hausarztmedizin, publiziert wurden [7–9]. Kongressbesucher/-innen sind aber nicht nur Delegierte für ihr Land, sondern auch sonst an Forschung interessierte Hausärzt/-innen. Soeben wurde eine slowenische Hausärztin und Professorin als Vorsitzende gewählt. Damit steht sie nicht alleine da. Es fällt auf, dass viele der Anwesenden Teilzeit als Professor/-innen und Teilzeit als Hausärzt/-innen arbeiten. Die vorgestellten Studien fallen deswegen ­besonders auf, weil sie praxisrelevant sind, und die ­Resultate immer unter dem Gesichtspunkt bewertet werden, was sie für die Praxis und die Patient/-innen bedeuteten. Weiter fällt auf, dass viele Junge teilnehmen, um, begleitet von ihren Supervisoren, ihre Projekte, PhD-Arbeiten oder auch nur Forschungsideen vorzustellen. Anders als bei üblichen Kongressen gibt es immer 15 minütige Diskussionsrunden, in denen kritisch aber familiär und konstruktiv Rückmeldungen gegeben werden. Nach drei Tagen endet der Kongress, und die Anwesenden reisen mit neuem Wissen, neuen Ideen, oft mit Einladungen für Kollaborationen und neuen Kontakten nach Hause. Der akademische Nachwuchs profitiert davon besonders. Aufbruch ist angesagt.
Die Patientin am Rollator und ihr Hausarzt sitzen sich wieder gegenüber. Welche Kongressinhalte haben den forschungsinteressierten Hausarzt in Bezug auf die ­Patientin weitergebracht? Er wird mit ihr den neuen «treatment burden»-Fragebogen ansprechen. Hausärzt­/­-innen schätzen die von ihnen verordneten Therapien und was sie für die Patient/-innen bedeuten nicht ­immer richtig ein, und er will das überprüfen. Er verstand, dass sich mit wenig Aufwand das Patienten­erlebnis verbessern lässt, und dies ohne höhere Kosten. Ob die Lebensqualität damit verbessert werden kann, bleibt aber noch zu beweisen, und neue Messinstrumente dazu müssen entwickelt werden. Menschen mit Multimorbidität sind nicht einfach nur komplex und brauchen viel Zeit. Die Zeit lässt sich auch nutzen, um die sozialen Unterstützungsmöglichkeiten zu verbessern. Weil der Hausarzt sich für optimale Hypertoniebehandlung bei älteren und gebrechlichen Menschen interessiert, bleibt ihm das Gespräch mit dem Kollegen aus England in Erinnerung. Als dieser die Multimorbiditätsrichtlinien schrieb, kämpfte er dafür, dass Zielwerte kritisch hinterfragt werden. Er fragte nämlich die Schreiber der Richtlinie, wie sich denn Studienresultate auf alle Menschen übertragen lassen, wenn man gar nicht alle in die Studien einschliesse. Wir brauchen zwei Dinge: Mehr von dem, was nützt und weniger von dem, was potenziell nicht nützt. Aufbruch ist angesagt.

Informationsbox

Alle vorgestellten und weiteren Projekte finden sich als Abstract-Buch online (www.egprn.org). Auf Twitter kann man sich ein paar Eindrücke verschaffen mit #EGPRNTampere. Lust teilzunehmen? EGPRN-Kongresse finden jeweils im Mai und Oktober statt. Teilnehmer/-innen, die gleichzeitig EGPRN-Mitglied sind, profitieren von 50% Rabatt auf den Kongress. Einzelmitgliedschaften für sechs Kongresse (d.h. drei Jahre) kosten 250 Euro. Institute können eine Institutsmitgliedschaft für sechs Kongresse à 800 Euro abschliessen und erhalten damit das Recht, zwei Kollegen pro Kongress mit 50% Rabatt auf den Eintritt zu delegieren.
Die nächsten drei Kongresse:
– Oktober 2019: Vigo, Spanien
– Mai 2020: Göteborg, Schweden
– Oktober 2020: Istanbul, Türkei
Mehr auf www.egprn.org.
Der Kongressbesuch wurde von der SGAIM finanziell unterstützt mit der Auflage, davon in Primary and Hospital Care zu berichten.
Prof. Dr. med. Sven Streit, PhD
Berner Institut für ­Hausarztmedizin (BIHAM)
Leiter Nachwuchsförderung und Vernetzung Hausärzte
Universität Bern
Mittelstrasse 43
CH-3012 Bern
sven.streit[at]biham.unibe.ch
 1 Herzig L, Zeller A, Pasquier J, Streit S, Neuner-Jehle S, Excoffier S, Haller DM. Burden of treatment in multimorbid patients: a cross-sectional study of patients’ and GPs’ assessments in primary care. In Revision. Abstract wird am Frühjahreskongress der SGAIM in Basel 2019 präsentiert.
 2 FIRE Projekt des Instituts für Hausarztmedizin Zürich. https://www.hausarztmedizin.uzh.ch/de/fire2.html. Neu 500 Hausärzte und 0,5 Millionen Patientendaten.
 3 Jungo KT, Löwe AL, Mantelli S, Meier R, Rodondi N, Streit S. Die OPTICA-Studie. Prim Hosp Care. 2018;18(06):100–2.
 4 Salisbury C, Man MS, Bower P, et al. Management of multimorbidity using a patient-centred care model: a pragmatic cluster-randomised trial of the 3D approach. Lancet. 2018;392(10141):41–50.
 5 NICE Guideline [NG56]. Multimorbidity: clinical assessment and management. https://www.nice.org.uk/guidance/ng56.
 6 IMPPP trial: www.bristol.ac.uk/primaryhealthcare/researchthemes/imppp/.
 7 Streit S, Verschoor M, Rodondi N, et al. Variation in GP decisions on antihypertensive treatment in oldest-old and frail individuals across 29 countries. BMC Geriatrics. 2017;17(1):93.
 8 Streit S, Gussekloo J, Burman RA, et al. Burden of cardiovascular disease across 29 countries associated with GPs’ decision to treat hypertension in oldest-old. Scandinavian Journal of Primary Health Care. 2018;36(1):89–98.
 9 van der Ploeg M, Streit S, Achterberg WP, et al. Patient Characteristics and General Practitioners’ Advice to Stop Statins in Oldest-Old Patients: a Survey Study Across 30 Countries. Journal of General Internal Medicine. 2019; doi.org/10.1007/s11606-018-4795-x.