Was man durch Patientinnen und Patienten lernen kann

Frau Schräg und Frau Gerade

Reflexionen
Édition
2021/02
DOI:
https://doi.org/10.4414/phc-f.2021.10320
Prim Hosp Care Med Int Gen. 2021;21(02):64

Affiliations
Ehemaliger Redaktor PHC, pensionierter Hausarzt, Ziefen

Publié le 02.02.2021

Was man durch Patientinnen und Patienten lernen kann.

An Frau Schräg war alles schräg: Von ihrer Gestalt über ihre hängenden Gärten (sprich die alles verhüllenden Kleiderungetüme) samt Plastiktaschen und ausgetretenen Schuhen bis hin zu ihrem muffigen Geruch aus Harnstoff, Kernseife und Kölnisch Wasser. Auch ihre ­Intelligenz war in Schräglage. Wenn sie bei uns in der Praxis war, lief alles schief: Sie musste immer zu lange warten, die Blutentnahmen wurden verpatzt, das ­Laborröhrchen fiel zu Boden, die Salbe verursachte ein Ekzem, das Schmerzmittel eine Magenblutung. So ging das über viele Jahre.
Frau Gerade hingegen kam hoch erhobenen Hauptes daher, klug, elegant gekleidet und frisiert, eine Dame wie aus dem Ei gepellt. Ja gut, sie war sehr kritisch und anspruchsvoll. Unser Team funktionierte aber tadellos und obwohl es auch bei ihr einige Knacknüsse gab, konnten wir die meines Erachtens alle lösen und doch …
Es kommt immer alles anders, als man denkt. Eines ­Tages kam Frau Gerade nicht mehr und ward nie mehr gesehen. Via Secret Service unserer Praxisassistentinnen vernahmen wir, dass sie sich in eine Nachbars­praxis abgesetzt hatte. Offenbar hatten wir ihren Ansprüchen nicht mehr genügt?
Frau Schräg hingegen bekamen wir nicht los. Sie torkelte durchs nahe Einkaufszentrum wie eine Reklamesäule auf Beinen und quatschte jeden, der es (nicht) wissen wollte, an: «Jääää, so ein guter Doktor und so liebe Fröileins und immer alles so adrett, pünktlich und ohne Fehler.»
Die Lehre aus der Geschichte: Wir können Vieles falsch machen und man (in diesem Fall frau) vergibt uns alle unsere Verfehlungen. Oder aber: Man lässt uns wie eine heisse Kartoffel fallen, und niemand begreift ­warum.
Vielleicht hätten wir die elegante Frau Gerade auch mal tüchtig daneben piksen oder sie im Wartezimmer sitzen lassen sollen, uns etwas rar machen oder so? Aber genau genommen war Frau Gerade kein Verlust und Frau Schräg eine tolle Nummer, wenn man von den Geruchsemissionen einmal absah. Denn das muss man zugestehen: Das feine, teure Parfüm von Frau ­Gerade brachte immer einen Hauch von Frühling ins Sprechzimmer.
Dr. med. Edy Riesen
Ehemaliger Redaktor PHC, pensionierter Hausarzt
Hauptstrasse 100
CH-4417 Ziefen
edy.riesen[at]gmx.ch