«La médecine de genre requiert une compréhension globale»

Themenschwerpunkt
Édition
2022/07
DOI:
https://doi.org/10.4414/phc-f.2022.10538
Prim Hosp Care Med Int Gen. 2022;22(07):222-223

Publié le 06.07.2022

La médecine de genre a fait son entrée dans la formation universitaire. Le Dr méd. Dr sc. Stefan Gysin explique ce qui sera abordé dans le module obligatoire à choix prévu, qui débutera au semestre d'automne 2022, et pourquoi il est si important de sensibiliser les médecins de famille à ce thème.

Interview mit Stefan Gysin, Studiengangsleiter «Joint Medical Master» der Universitäten Luzern und Zürich

Zur Person

Dr. med. Dr. sc. Stefan Gysin arbeitet am Departement Gesundheitswissenschaften und Medizin der Universität Luzern als Studiengangsleiter des neuen «Joint Medical Master» der Universitäten Luzern und Zürich. Sein wissenschaftliches Doktorat schrieb er am Institut für Hausarztmedizin & Community Care Luzern zum Thema interprofessionelle Zusammenarbeit in der Grundversorgung mit einem Fokus auf die Rolle der Pflegeexpertin APN. Aktuell liegt sein Forschungsschwerpunkt auf der medizinischen und interprofessionellen Ausbildung.
Herr Gysin, dass die medizinische Versorgung von Frauen und Männern unterschiedlich ist, ist nichts Neues, wieso wird Gendermedizin erst jetzt in der Aus- und Weiterbildung thematisiert?
Die Aussage, dass es «nichts Neues» ist, kann man in Frage stellen. Ich denke, es ist nicht neu, dass man es auf dem Schirm hat, aber es ist neu, dass man versucht, das Thema explizit zu adressieren. Zum Beispiel hinterfragt man heute in der Pharmakotherapie Dosierungen, die sich auf ältere Studien beziehen, die nur mit Männern durchgeführt worden sind.
Ein weiteres Beispiel ist die Symptomatik bei einem Herzinfarkt, die in vielen Lehrbüchern heute immer noch mit dem Leitsymptom Druck auf der Brust beschrieben wird; es fasst sich jemand an die Brust, der zusätzlich Ausstrahlungen in den linken Arm hat. Dazu gibt es nun immer mehr Studien, dass das eben eine typische Männersymptomatik ist und es sich bei Frauen eher durch Unwohlsein, Oberbauchbeschwerden und teilweise auch durch Rückenschmerzen manifestiert. Diese Unterschiede haben explizite Konsequenzen in der klinischen Praxis, wenn eine Frau mit solchen diffusen Symptomen vorstellig wird und an ­alles Mögliche gedacht wird, aber eben nicht an einen Herzinfarkt.
Ein Grund, wieso es in der medizinischen Ausbildung nun stärker thematisiert wird, ist auch dass wir seit 2017 einen neuen eidgenössischen Lernzielkatalog bzw. Framework haben, PROFILES. Dieses Framework bildet seit letztem Jahr die Grundlage für das Staats­examen. In PROFILES hat es einige Kompetenzbereiche, welche die Gendermedizin explizit ansprechen.
Das bedeutet, Gendermedizin ist bereits in der aktuellen Version des schweizerischen Lernzielkataloges vorhanden?
Ja. Der jetzige Lernzielkatalog ist nicht mehr so aufgebaut wie der vorherige. Es hat nicht mehr jedes Fachgebiet wie Kardiologie, Nephrologie etc. zehn Lernziele, sondern es beschreibt die übergreifenden Kompetenzen, die die Studierenden am Ende ihrer Ausbildung bzw. zu Beginn ihrer Weiterbildung unter indirekter Supervision beherrschen sollten. Das kann man sich so vorstellen, dass man in der Lage ist, eine Anamnese durchzuführen, die alters- und gendergerecht ist. Dass man die Kompetenz besitzt, «Sex» und «Gender» zu berücksichtigen und im Alltag bei der Gesprächsführung, bei der Untersuchung und auch beim Erarbeiten von Differentialdiagnosen umsetzen kann.
Wird das Thema in den regulären Curricula an ­Schweizer Universitäten gelehrt? 
Da muss ich zwei Antworten dazu geben: Erstens gibt es sicher an einigen Universitäten einzelne Lehrveranstaltungen, die das Thema bereits konkret ansprechen, aber es gibt noch kein Gesamtkonzept. Im «Swiss Gender Health Network» sind die grossen Universitäten geschlossen dabei und man möchte schweizweit eine Art Muster-Curriculum für Gendermedizin entwickeln. Ein Konzept, das gewisse Vorgaben und eine Struktur gibt, welche Inhalte man den Studierenden wie beibringen möchte.
Zweitens haben wir in Luzern ein zusätzliches Projekt, das «GeHeMed» (Gender Health & Medicine) heisst. Es ist ein standortspezifisches Teilprojekt mit dem Ziel, ein Wahlpflichtmodul zu implementieren, in welchem die Studierenden eine Auswahl an verschiedenen ­Themen haben. Das Spezielle bei uns ist, dass es zu­sammen mit den Gesundheitswissenschaften durchgeführt wird, wodurch die ganze Thematik breiter angegangen wird. Denn «Gender» umfasst nicht nur das Geschlecht, sondern auch Kulturen, die aufeinandertreffen. Das hat nicht nur Implikationen für unsere zukünftigen Ärzt:innen, sondern für das gesamte Gesundheitssystem und dort kommen dann eben die Gesundheitswissenschaften dazu. Das konkrete Modul, das wir in Luzern angedacht haben, wird zum ersten Mal im kommenden Herbstsemester 2022 durchgeführt.
Was beinhaltet das Modul Gender Medicine an der Universität Luzern?
Es wird eine Einführung geben zu den Grundkonzepten der Gendermedizin, Themen wie Unterschiede des biologischen Geschlechts, das kulturelle Geschlecht, non-binäre Menschen und Implikationen auf die klinische Tätigkeit, von der Anamnese bis zu Untersuchungen. Was dabei neu und innovativ ist, ist den Fokus stärker auf den psychosozialen Kontext zu legen. Wir haben hier einige Themen im Kopf, unter anderem häusliche Gewalt. Klassisch ist die Gewalt vom Mann an die Frau eher von physischer Natur, aber umgekehrt ist es häufig eher die psychische, versteckte Gewalt, die aber genauso wichtig ist. Das versuche ich in unserer Projektgruppe einzubringen, dass wir auch Männer, also die jungen Studenten abholen müssen. Wenn es immer nur darauf abzielt, dass die Frau in der Opfer­rolle ist, könnte es kontraproduktiv sein. Ich glaube, es braucht Beispiele in beide Richtungen, die Ungleichheiten aufzeigen. Das Thema von Equality oder Equity, wie man im Englischen sagt, ist bei uns in der Gesundheitswissenschaft immer ein grosses Thema und passt dadurch gut rein.
Gibt es noch weitere Themen, die im Mittelpunkt stehen?

Bei uns stehen auch die kulturellen Aspekte im Mittelpunkt. Diese bieten eine gute Möglichkeit, in der die Studierenden selbst reflektieren können, wie sie ihre eigene Rolle sehen. Also im Sinn von: Möchten sie später Familie? Kann man Teilzeit arbeiten? Wie kann man das in der Hausarztmedizin vereinen? So adressiert man, wie die Studierenden die Zukunft des Gesundheitswesens sehen. Stichwort Gruppenpraxis und Teilzeitarbeit und auch hier wieder – es soll nicht nur für Frauen die Möglichkeit geben, Teilzeit zu arbeiten, sondern für beide Geschlechter, oder vielleicht sind es dann ja mehr als zwei Geschlechter. Hier kann die Hausarztmedizin eine Vorreiterrolle einnehmen, weil es doch auch mehr und mehr Gruppenpraxen gibt und dass das sehr attraktivitätssteigernd sein kann, wenn Leute merken, in der Hausarztmedizin habe ich die Möglichkeit, Teilzeit zu arbeiten und so meine Arbeit, meine Familie und meine Hobbies zu vereinen.
Was erhoffen Sie sich durch das Modul?
Mein Steckenpferd sind die Interprofessionalität und die interkulturellen Aspekte. Ich erhoffe mir durch das Modul, dass man über den Tellerrand hinausschauen kann. Unterschiede zwischen den Geschlechtern in medizinischen Belangen sind den meisten mittlerweile schon bewusst, aber wie viel mit dem Thema Gendermedizin und Gesundheit sonst noch zusammenhängt, weniger. So erhoffe ich mir, dass in unserem Departement mit der Konstellation von Medizin und Gesundheitswissenschaften den Studierenden ein ganzheitliches Verständnis der Thematik vermittelt werden kann.
Was sollte die Hausärzteschaft in Bezug auf die ­Gendermedizin unbedingt wissen?
Eine gute Frage. Ich denke, die Hausarztmedizin hat immer eine gewisse Sonderrolle, in dem Sinn, dass die Hausärzt:innen wahrscheinlich die engste Beziehung zu den Patient:innen haben. Sie sind häufig auch die erste Anlaufstelle und über die Jahre Vertrauenspersonen. Darum glaube ich, dass die ganze Gender-Thematik einen anderen Stellenwert hat, weil man als Hausärztin oder Hausarzt eine besondere Nähe zu den Patient:innen hat und dass sich die Leute auch trauen, so etwas anzusprechen. Darum ist die Sensibilisierung für dieses Thema bei der Hausärzteschaft fast noch wichtiger als im stationären Bereich, wo jemand eintritt und dann zwei Tage später wieder entlassen wird, und dann jahrelang nichts mehr mit der behandelnden Ärztin oder dem Arzt zu tun hat. Vieles spielt sich nicht nur auf der körperlichen Ebene ab, sondern auf der psychosozialen Ebene und dort sehe ich wie gesagt eine grosse Stärke, aber auch eine grosse Verantwortung bei der Hausarztmedizin.
Wie sehen Sie die Zukunft der Gendermedizin?
Ich denke, in Zukunft müsste das Thema longitudinal über das gesamte Curriculum verankert werden. Sprich, wenn man eine Vorlesung zum Thema Herzinfarkt oder Bauchschmerz besucht, dann sollte Gendermedizin immer miteinfliessen. Denn wenn man nur eine punktuelle Intervention hat im Sinne einer Vorlesung oder einem Wahlpflichtmodul, dann geht es relativ schnell wieder vergessen. Aber wenn es in jedem Thema und jedem Organsystem gestreift wird und explizit gemacht wird, was man beachten muss in Bezug auf Gender, dann hat man diese longitudinale Verankerung. Mittelfristig muss es das Ziel sein, dass es zur Norm wird und nicht speziell hervorgehoben werden muss.
Zum Abschluss bitten wir Sie um ein kurzes, prägnantes Statement zum Thema Gender Medicine, das Sie unserer Leserschaft mitgeben möchten.
Es ist wichtig, dass man versteht, dass die gesamte Gendermedizin mehr ist als nur die körperlichen Unterschiede zwischen Männern, Frauen und allen Geschlechtern, die es dazwischen gibt, nämlich dass es viele soziale und psychosoziale Implikationen hat bis hin zu kulturellen Unterschieden. Das ganzheitliche Verständnis, das den Menschen ins Zentrum rückt, ist das, was für mich Gendermedizin ausmacht.

Projektteam

Bei der Entwicklung und Durchführung des Moduls ist ein ganzes Projektteam mit Vertreterinnen und Vertretern aus Klinik und akademischer Ausbildung beteiligt. Dr. med. Dr. sc. Stefan Gysin ist primär für die Implementation des Moduls im Curriculum verantwortlich. Für die Ausarbeitung der Inhalte arbeitet das Departement Gesundheitswissenschaften und Medizin stark mit der Hirslanden Klinik St. Anna, Luzern, zusammen, primär mit Dr. med. Tanja Volm und Prof. Dr. med. Andreas Gutzeit.