Tarmed-­Positon 00.0140

Der Arzt und sein abwesend-anwesender Patient

Reflektieren
Édition
2016/17
DOI:
https://doi.org/10.4414/phc-f.2016.01347
Prim Hosp Care (fr). 2016;16(17):331-332

Affiliations
Hausarzt, Bern

Publié le 14.09.2016

Die Krankenkassen stellen auf den Arztrechnungen aus dem ambulanten und stationären Bereich eine ­Zunahme der Tarmed-Position «Ärztliche Leistung in Abwesenheit des Patienten» fest. Sie unterstellen der Ärzteschaft eine missbräuchliche Mengenausweitung. Der Patient ist jedoch ausserhalb der Konsultation anwesender als man denkt. Und ja, die Ärzte verrechnen diese – früher oft in Kulanz erbrachte – Leistung heute ­offenbar konsequenter. Dieser hausärztliche Bericht gibt einen Einblick hinter die Kulissen der Tarmed-­Positon 00.0140.

Zeugnisse und Berichte ohne Ende

Im Verlauf eines Sprechstundentages türmen sich ­verschiedenste Formulare. Sie betreffen meist Patientinnen und Patienten, die an diesem Tag nicht in der Sprechstunde waren. Die Spitex braucht eine ärztliche Unterschrift zur Bestätigung der Pflegestunden, die sie bei ihrer Bedarfsabklärung erhoben hat. Der Patient benötigt eine weitere Serie an Physiotherapie. Die ­Pa­tientin hat während der letzten Konsultation ver­gessen, dass sie wegen ihres Hausarztversicherungsmodells für die vom Hausarzt angeordnete spezialärztliche Abklärung eine Bestätigung für ihre Krankenkasse benötigt. Mit einem umständlichen ­Telefongespräch hat der alte Patient bei der Praxis­assistentin eine Erneuerung für sein abgelaufenes ­Medikamentenrezept bestellt. Als Hausarzt muss ich kontrollieren, ob das Resultat korrekt ausgefallen ist, bevor ich meine Unterschrift darauf setze. Die Apotheke hat eine Serie Dauerrezepte vorbereitet und per Fax zugestellt. Jedes einzelne benötigt einen Kontrollblick und eine Unterschrift. Das Betäubungsmittel­rezept muss mit zweifachem Durchschlag von Hand ausgefüllt werden. Die junge Frau hat ihr Arbeitsunfähigkeitszeugnis, das ich während der letzten Konsultation ausgestellt hatte, verloren und ich muss ihr ein neues schreiben. Die Krankenversicherung fragt nach, warum Frau Meier immer noch Physiotherapie benötigt. Mit meinem Zeugnis wird Herr Müller, der die ­öffentlichen Verkehrsmittel nur noch unter hoher Sturzgefahr benutzen kann, das Taxi künftig zum Behindertentransport-Tarif benutzen können. Mit meiner Bestätigung kann die Seniorin das Generalabonnement der SBB für die Zeitspanne, während der sie krank und nicht reisefähig war, sistieren. Der verletzte und vorübergehend sportunfähige junge Mann kann mit meinem Zeugnis die Laufzeit seines Fitnessstudioabonnements verlängern. Mit meiner ärztlichen Bestätigung kann der Rückenpa­tient an seinem Arbeitsplatz ein höhenverstellbares Schreibpult erhalten. Für die Kostenübernahme von Inkontinenzhilfen will die Krankenkasse wissen, wieviel Urin pro Tag die alte Frau tatsächlich verliert. Vor der Kataraktoperation verlangt der Augenchirurg ­einen ärztlichen Kurzbericht über den Gesundheitszustand, die Krankheitsdiagnosen und Medikamente des Patienten. Der Patient, der wegen akuter Erkrankung seine gebuchte Reise nicht antreten kann, braucht eine ärztliche Bestätigung. Für jeden Patienten im Pflegeheim muss die Hausärztin regelmässig die von den Pflegenden erfasste tarifrelevante Pflegestufe bestätigen und die ­Diagnoseliste überprüfen und ergänzen. Für den Kurzüberweisungsbericht an den Spezialisten gibt es keine andere Verrechnungsmöglichkeit als 00.0140, wenn der kurze und konzise Text weniger als elf Zeilen zählt. Austrittsberichte von Spitälern, Berichte von Spezialisten, Operationsberichte, Röntgenberichte und Laborresultate gelangen per Post, Fax oder Mail zur Hausärztin; in der Regel dann, wenn der Pa­tient nicht anwesend ist. Diese zu lesen, sorgfältig zu reflektieren und in die Krankengeschichte zu integrieren ist eine wichtige ärztliche Handlung. Ich beendige hier die Aufzählung. Sie ist nicht vollständig und die Zahl der 00.0140-relvanten Situationen wächst stetig weiter. Viele dieser ärztlichen Handlungen benötigen, einzeln gesehen, nicht viel Zeit. In der Summe aber fallen sie ganz schön ins Gewicht.

Interdisziplinäre und interprofessionelle Zusammenarbeit

Eine gute Zusammenarbeit zwischen allen an der ­Abklärung und Behandlung eines Patienten beteiligten Fachpersonen ist, im Interesse einer guten Qualität, ein unbestrittenes Erfordernis. Besonders wichtig ist sie bei unklaren und komplexen Situationen, in die gleichzeitig mehrere Ärztinnen und Ärzte verschiedener Fachrichtungen aus dem ambulanten und stationären Bereich sowie nichtärztliche Fachpersonen involviert sind. Erwähnt seien: Pflegefachpersonen von spitalexternen Betreuungsinstitutionen und Pflegeheimen, Apothekerinnen, Physiotherapeuten, Psychologen, Ernährungsberaterinnen, Laborfachpersonen, Sozialdienste, immer öfters Arbeitgeberinnen und ­Arbeitgeber, manchmal juristische Personen oder gar die Polizei – und nicht zuletzt die Familien der Patientinnen und Patienten.
Diese Kontakte finden telefonisch oder schriftlich per Post, Fax und Mail statt, aus Zeitgründen sowie wegen der unterschiedlichen Erreichbarkeit dieser Personengruppen in der Regel dann, wenn der betroffene Pa­tient nicht anwesend ist, nicht selten auch ausserhalb der Arbeitszeit.

Zunehmende Bedeutung der ärztlichen Leistungen in Abwesenheit des Patienten

Ärztliche Leistungen für Patienten, die nicht anwesend sind, hat es selbstverständlich schon immer gegeben. Mit der Zunahme an medizinischen Möglichkeiten, von multimorbiden Patienten mit komplexen Betreuungsanforderungen und mit der wachsenden Zahl von Menschen in körperlich, psychisch, kognitiv und sozial fragilen Zuständen, nimmt diese Art der ­Betreuung im Arbeitsalltag aller Ärzte stetig zu. Ohne diese Leistungen in Abwesenheit wäre eine gute Betreuung vieler Patientinnen und Patienten heute schlicht nicht mehr denkbar. Diese Realität bildet sich in der Zunahme der Tarmed-Position 00.0140 linear ab.
Die kontinuierliche Betreuung des Patienten über seine Anwesenheit in der Sprechstunde hinaus zeugt für die umfassende Verantwortung, welche die Ärztinnen und Ärzte für ihre Patientinnen und Patienten wahrnehmen, und für ihren Einsatz im Interesse einer integrierten Behandlung. Wollen die Krankenversicherer mit ihrer negativ konnotierten Kritik diese qualitätsrelevanten Bemühungen ernsthaft in Frage stellen?
Dr. med. Bruno Kissling
Hausarzt
ElfenauPraxis
Elfenauweg 52
CH-3006 Bern
bruno.kissling[at]hin.ch