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Der Hausarzt im Wandel der Zeit

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Édition
2016/17
DOI:
https://doi.org/10.4414/phc-f.2016.01377
Prim Hosp Care (fr). 2016;16(17):327-330

Affiliations
Facharzt für Allgemeine Medizin im Ruhestand, Interlaken

Publié le 14.09.2016

Die Geschichte einer über 100-jährigen Entwicklung der Hausarztmedizin zu ­skizzieren ist eine interessante Herausforderung. Es ist nicht leicht, einen Igel zu streicheln.

1. Die heroische Zeit nach 1900

Die meisten Hausärzte gingen nach ein bis zwei Jahren Weiterbildung (oft als Volontariat) in die Praxis: «learning by doing». Medizin, Praxis und Patienten standen diskussionslos im Zentrum, die Familie musste sich anpassen, die Arztfrauen durften (mussten) Kinder und Telefon hüten. Ärztinnen gab es praktisch keine, deshalb werden sie in der ersten Hälfte dieses Textes auch nicht erwähnt.
Mutige Ärzte operierten in der Praxis nicht nur Hernien, sondern auch mal ­einen Ileus oder eine Magenperforation.
Für eine Sectio gab es nur mütterliche Gründe. Ausserhalb der Touristensaison wirkte Dr. Oetiker aus Wengen in einem 200-Betten-Lazarett an der deutschen Front, Kriegschirurgie pur.
Standespolitische Diskussionen und Fortbildungen fanden vorwiegend am Sonntag statt, dabei kam auch der «gemütliche zweite Teil» nicht zu kurz [1–3].

2. Angst vor der Konkurrenz

Obschon in der Zwischenkriegszeit und bis lange nach dem zweiten Weltkrieg die Hausärzte bis zum Umfallen arbeiteten, war die Angst vor der Konkurrenz «normal».
Sowohl die Arbeit der Spezialisten im Spital als auch der Zuzug eines neuen Kollegen wurden nicht nur dankbar, sondern auch argwöhnisch beobachtet. Präsenz rund um die Uhr war der beste Schutz vor ­Konkurrenz und bei den meisten Ärzten üblich [1–3].

3. «Jedem Täli sis Spitäli»

1780 wurde der Bergbauernbub Jakob von Bergen (Guttannen an der Grimsel) von einem Hund ins Knie gebissen. Es kam zu einer Infektion und der Bub wurde fast 100 km weit mit einem Pferdewagen ins Inselspital nach Bern transportiert. Das Knie blieb steif, an Arbeit als Bergbauer war nicht zu denken. Doch die Ärzte sorgten dafür, dass «Köbi» Deutsch und Latein lernte, er konnte die Medizinschule in Strassbourg besuchen und wirkte später während Jahrzehnten als Schnitt- und Wundarzt in Meiringen. Talentschmiede vom Feinsten!
Dank initiativen, fachlich ausgezeichneten und erfahrenen Chirurgen und Internisten konnten Patienten bis weit in die Peripherie und in abgelegene Täler jeweils «modernen» Möglichkeiten entsprechend untersucht und behandelt werden. Das kleine Krankenhaus Meiringen beschaffte sich 1903, acht Jahre nach der ­ersten Röntgenaufnahme durch Conrad Röntgen, ein Röntgengerät.
Weitsichtige Politiker und die Bevölkerung wussten dies zu schätzen, und gerade kleine Spitäler wurden von Belegärzten sehr unterstützt. Sie bildeten gegen aussen eine einige kollegiale Front, waren aber gelegentlich unter sich zerstritten. Es «menschelet» eben überall ... [1–3].

4. Das erste Penicillin

Man wusste, dass «es» kommt, es war nur eine Frage der Zeit nach den grossen Kriegswirren. 1945 stand ­eines Tages ein GI der US-Army vor der Haustür, in der Hand eine Ampulle Penicillin, und sagte zu meinem Vater: «Hello Doc, give me a shot of Penicillin, my gun is running».
Bis Penicillin für Schweizer Patienten verfügbar war, dauerte es noch einige Zeit [1–3].

5. Täglich 50 Konsultationen 
und am Abend noch 15 Hausbesuche

Nach 1950 entschlossen sich immer mehr Ärzte für eine Weiterbildung zu einem Spezialarzttitel. Begeisternde Chefärzte und Spezialisten übertrugen ihr «feu sacré» auf ihre Mitarbeiter, aber auch finanzielle Aspekte spielten zunehmend eine Rolle.
«Aus der Sicht des Patienten ist die Gewissheit, dass sein Arzt jederzeit kommt, falls er ihn braucht, von erheblicher Bedeutung. Hausbesuch und Notfalldienst sind zwei Visitenkarten der Ärzte» [4].
Viele Ärzte zogen allerdings die Konzentration auf ein Fachgebiet und entsprechende spezialärztliche Fachkompetenz einer zwölfstündigen Sprechstunde und abendlichen Hausbesuchen vor. Ein Pionier hervorragender Hausärztetätigkeit war Gerhard Krüsi aus Küssnacht/ZH. Er hat das geniale Buch «Early signs of illness» von Ian R. McWhinney in die deutsche Sprache übersetzt und mit einem aktualisierten Literaturverzeichnis versehen (leider vergriffen) [1–3].

6. Die rapide zunehmende Zahl 
von Spezialisten

Die beängstigende Fragmentierung der Medizin rief nach Gegenmassnahmen. Walter Irniger aus Urnäsch hat mit viel Gespür und Hartnäckigkeit erreicht, dass die Hausärzte in der eidgenössischen Kommission für das neue Medizinalprüfungen-Gesetz vertreten waren [5] und dass an der Uni Bern ein Ordinariat für Hausarztmedizin geschaffen wurde (was dann noch 30 Jahre dauerte: «Nume nid gschprängt, aber geng e chli hü»).

7. Aus- Weiter- und Fortbildung durch ­Spezialisten und Hausärzte als Team garantiert Praxisnähe

Ein Pionier mit Durchhaltevermögen ist Tino Röthlisberger in Arosa. Er hat in seiner Praxis nicht nur 30 zukünftigen Hausärzten das Rüstzeug für ihre Praxis mitgegeben, er ist auch «Seele» des Aroser-Fortbildungskurses [6]. Im Laufe der Jahre hat sich die gemeinsame Vermittlung von Wissen und Können breit etabliert. Das Tutoriat beim Hausarzt gehört zum Ausbildungskonzept [7, 8].
Pragmatisches Ziel der Ausbildung ist, dass sich Kollegen auf einem Langstreckenflug nicht hinter der NZZ verstecken, wenn nach einem Arzt gerufen wird.

8. Frauen-Power

Seit einem Vierteljahrhundert ist klar, dass die Zeit der Medizin als Männerdomäne vorbei ist. Ohne Ärztinnen ist die Gesundheitsversorgung der Bevölkerung undenkbar. Dabei ist klar, dass viele Frauen auch eine Familie haben wollen, ihre Arbeit als Ärztin deshalb auf 40 oder 50% beschränken; ohne wenn und aber – und es funktioniert.
Es braucht einfach mehr Ärztinnen und Ärzte. Das kostet, aber die Schweiz als reiches Land hat das nötige Geld. Die Ärztinnen sind längst nicht mehr «die ewig Mitgemeinten», sie werden entscheiden, wohin unsere Medizin geht! Die Literatur der letzten Jahre zu diesem Thema ist immens (zum Beispiel [9, 22]).

9. Forschung in der Hausarztmedizin

Während die Lehre in der Praxis an allen medizinischen Fakultäten fest verankert ist, geht die Institutionalisierung der systematischen Forschung in der Praxis einen von Dornen gesäumten Weg. Begeisterte Hausärzte als Lehrerinnen und Lehrer sind nicht a ­priori auch gute Forscher, Ausnahmen bestätigen die Regel (Markus Gassner, Grabs; Gruppe um Wick [10]). Unterstützung durch Fachexperten in Methodik und Auswertung ist unerlässlich [11]. Die Institute für Hausarztmedizin bringen bezüglich Forschung sicher sehr viel, aber nicht jede Publikation ist Forschungsarbeit.

10. Mentoring für zukünftige Hausärzte

Wie in zahlreichen anderen Ländern gewinnt das Mentoring junger Ärztinnen und Ärzte durch erfahrene Kollegen auch bei uns rasch an Bedeutung [12, 13]. ­Besonders wichtig ist ein Mentoring durch erfahrene Hausärztinnen während der Weiterbildung, da das «Abspringen» in ein Spezialgebiet in dieser Ausbildungsphase besonders häufig ist.
Die Jungen Hausärztinnen und -ärzte Schweiz (JHaS) engagieren sich überzeugt.

11. Qualitätsentwicklung: 
Was ist ein guter Hausarzt?

Schon 1990 hat Alfred Hunziker [14] die Anforderungen an die Praxistauglichkeit des Hausarztes sehr gut zusammengefasst. Am Aroser Kurs 2002 haben Paul Brütsch et al. [15] mit «Der gute Hausarzt: wie wird er gut, wie bleibt er gut?» einen Schwerpunkt gesetzt. An der ausgezeichneten Synthese durch Bruno Kissling [16] hat sich kaum etwas geändert.

12. Ohne Hausärzte geht es nicht / 
Notfalldienst

Jeder Hausarzt, der in Pension geht, braucht zwei bis drei Nachfolgerinnen oder Nachfolger, die jeweils 30–60% arbeiten. Diese Zahl Hausärzte (und nicht Spezialisten) muss von den Universitäten ausgebildet, von den Politikern bewilligt und von der Bevölkerung bezahlt werden. Alles andere ist Augenwischerei.
Als ­Gegenleistung erwarte ich (als Dinosaurier-Hausarzt ...), dass diese jungen Kolleginnen und Kollegen den oft zu Unrecht verpönten Notfalldienst leisten.
Notfalldienst ist die Herausforderung der Hausarzt­tätigkeit. Er ist in 90% dankbar, zweckmässig und preisgünstig [17]. Das Sparpotential, verglichen mit Abklärung und Behandlung in der Spital-Notfallstation, ist enorm [18].

13. Woher nehmen wir die Hausärztinnen und Hausärzte der Zukunft?

Seit der hervorragenden Rede von Werner Bauer an der ­Arbeitstagung Nationale Gesundheitspolitik 2006 [19]sind wir nicht viel weiter. «Gut Ding will Weile haben»gilt ganz besonders in der Politik.
Die Präsidentin der JHaS Gabriela Rohrer ist völlig realistisch: «Es ist nicht möglich, dass wir in den nächsten zehn Jahren die 80% der Hausärzte, die dann pensioniert werden, aus dem Hut zaubern können» [20].

14. Die Worthülse «Versorgungssystem» 
muss zum Begriff werden

«Denn eben wo Begriffe fehlen, da stellt das Wort zur rechten Zeit sich ein» (J. W.Goethe).
Der Inhalt heisst mal «Skill mix» [21], mal «Interprofessionalität». Langsam realisiert die Ärzteschaft, vorab in Praxisgemeinschaften, die Vorteile, klar definierte Aufgaben an speziell geschulte MPA und Pflegefachpersonen zu delegieren. Das kostet, aber es lohnt sich.
Auch hier dürften die JHaS bezüglich Entwicklung ein gewichtiges Wort mitreden!

15. Was ich noch sagen wollte – 
und ein Wunsch für die Zukunft

«Work-life-balance»: ein unseliger Begriff. Arbeit ist nicht generell schlecht [22].
– Anderen Ländern Hausärzte zu entziehen, ist unfair, nach FMH-Präsident Jürg Schlup unethisch [23].
– Bologna: 80 Sorten Pasta (Universitäten) suchen die geeignete (gemeinsame) Sauce.
– Mut zur Lücke: Ja beim jederzeit abrufbaren Wissen. Nein bei den Skills (Notfallmedizin!).
– Immer mehr Betagte – immer weniger Menschen, die Zeit für sie haben. Digital gesteuerte Überwachung, Pflege und Streicheleinheiten von Senioren [24].
– Bedeutung der modernen Medien für die Medizin: Facebook und Twitter sind eine Pest!
– Meine Krankengeschichte und e-card: Wo bleibt die Vertraulichkeit? Bin ich im System?
– Aussteiger: Jeder Zehnte? Jede Fünfte? [25, 26]
Und mein Wunsch für die Zukunft: 1946 machte eine US-Dakota auf dem Gauligletscher (Berner Oberland) eine Bruchlandung. Die geniale Rettungsaktion von Flugwaffe, Bergführern, SAC und Freiwilligen war ­international eine Pionierleistung. Am 22.11.46 titelte die Times: «Swiss Performance: Teamwork – that’s what we need!» [27].
Dieses «Teamwork» wäre ein würdiges Motto für die Hausarztmedizin der nächsten zehn Jahre!
Benedikt Horn
Hausarzt i.R.
Marktgasse 66
CH-3800 Interlaken
dr.horn[at]tcnet.ch
 1 Horn B. 100 Jahre ärztlicher Bezirksverein Oberland (Interlaken 2013, mit zahlreichen Literaturangaben).
 2 Schläppi E. Von der Badestube zum Spitalzentrum – 100 Jahre Spital Interlaken. Interlaken: Schläfli und Maurer; 2004.
 3 Boschung U, Hrsg. Von der Geselligkeit zur Standespolitik –
200 Jahre Ärztegesellschaft des Kt. Bern. Ärztegesellschaft des
Kt. Bern 2008.
 4 Wiederkehr P. Die Stellung des Hausarztes in der medizinischen Grundversorgung und in der modernen Gesundheitspolitik. Schweiz Ärztezeitung. 1983;64(6):159–61.
 5 Irniger W. Parlamentarische Notintervention der SGAM zugunsten allgemeinmedizinischer Postulate für das neue Prüfungsreglement. Schweiz Ärztezeitung. 2001;82(7):354–8.
 6 Universität Bern: Laudatio des Rektors anlässlich der Verleihung Ehrendoktorates an Dr.med. Martin Röthlisberger. 2005.
 7 Hausarztmedizin an der Medizinischen Fakultät der Universität Bern. PrimaryCare. 2006;6(40-41):740.
 8 Bally K, et al. Die zukünftige Rolle der Hausarzt-Medizin in der universitären Ausbildung von Studierenden der Humanmedizin. Schweiz Ärztezeitung. 2000;81(2):86–8.
 9 Meier LL, Tschudi P, MeierCA, Zeller A. Vereinbarkeit von Arbeit und Privatleben bei den Schweizer Hausärzten. PrimaryCare. 2013;13(23):409–11.
10 Wick A, et al. Das Bild der Allgemeinpraxis. Schweiz Rundschau Med Prax. 1993;82(3):5–41.
11 Stalder H. Hausarzt und Forscher – ein Ding der (Un-) Möglichkeit? PrimaryCare. 2012;12(17):332.
12 Tandjung R, et al. Spezifische Weiterbildungsangebote für HA-Medizin in der Schweiz: Bestandesaufnahme verschiedener kantonaler Programme. Schweiz Rundschau Med Prax. 2013; 102:843–9.
13 Horn B. Mentoring beim HA. Arbeitspapier Medizinische Fakultät der Universität Bern, 2005.
14 Hunziker A. Die Praxistauglichkeit des Arztes. Schweiz ­Ärztezeitung. 1990;71:1623–5.
15 Brütsch P, Egli N, Horn B, Klauser C, Rindlisbacher B, Wirz U.
Der gute Hausarzt: wie wird er gut? Wie bleibt er gut?
PrimaryCare. 2003;3(14):245–51.
16 Kissling B. Was ist ein guter Hausarzt? PrimaryCare. 2002:2(7): 85–8.
17 Horn B. Eine Hausarztpraxis schliesst: Erfolglose Suche eines Nachfolgers. Was braucht es zur Motivation als Hausarzt?
Referat 2005.
18 Streuli R. Der «kleine Notfall» im grossen Spital.
Ther Umschau. 2015;72(1):5–7.
19 Bauer W. Die Hausärzte der Zukunft – wo nehmen wir sie her? Schweiz Ärztezeitung. 2007;88(10):429–34.
20 Das abenteuerliche Wirken einer Landärztin: Interview mit
Gabi Rohrer. Berner Oberländer, 26.9.2013, S. 3.
21 Jungi M. Skill-Mix in der HA-Praxis: neue Aufgaben der MPA. PrimaryCare. 2013;13(22):399.
22 Horn B. Chrampfe u läbe. Rede an der Diplomfeier der Medizinischen Fakultät der Universität Bern, 2012.
23 Kommen jetzt die Ärzte aus Osteuropa? 20 Minuten, 22.8.2016, S. 5. Internet: http://www.20min.ch/schweiz/news/story/10904683.
24 Balmer D. Wenn der Wäschekorb die Spitex ruft. Sonntagszeitung, 21.8.2016, S. 18–19.
25 Zentralvorstand FMH. Attraktivität der Profession Arzt stärken. Schweiz Ärztezeitung. 2016;97:1136–7.
26 Jeder fünfte Arzt wechselt den Beruf. NZZ am Sonntag, 13.9.2015.
27 Horn B. Teamwork, that’s, what we need. Ther Umschau. 2008;65(1):13–4.