Durch Abwarten lösen sich viele Probleme von selbst

Geduld und Ungeduld - durch Abwarten lösen sich viele Probleme von selbst

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Édition
2017/04
DOI:
https://doi.org/10.4414/phc-f.2017.01356
Prim Hosp Care (fr). 2017;17(04):81-82

Affiliations
Redaktor Primary and Hospital Care

Publié le 22.02.2017

Sind Sie geduldig, liebe Leserin, lieber Leser? Ich behaupte jetzt einmal, dass die Geduld in unserem Leben – und damit in der Medizin – zu einem guten Teil verloren gegangen ist. Es stimmt natürlich auch, dass die Geduld nicht unter allen Umständen eine positive ­Eigenschaft ist. Eine nahe Verwandte ist die Trägheit und Faulheit, und manchmal ist Geduld auch eine ­Ausrede, wenn man etwas schon längst hätte anpacken müssen. Aber zurück in unsere Gesellschaft, wo wir aufgrund der vielen paradoxen Situationen schon einmal die Orientierung verlieren können. Vor wenigen Jahrzehnten noch raste man mit dem Auto ungebremst durchs Land auf der Jagd nach der Zeit, mit der man dann nicht viel Gescheites anzufangen wusste. Heute hat sich der Zeitfresser Auto zurück entwickelt zu einer Verlangsamungsmaschine, in der täglich abertausende von Menschen im Stau stehen. Die Lehre daraus: Die Ungeduld rächt sich irgendwann, wenn auch spät, und verlangt ihren Tribut in Form von ­Geduld!
Auch in der Medizin ist Geduld nicht mehr gefragt. Nach wenigen Tagen mit einer Erkältung kommen Menschen in die Sprechstunde weil sie «immer noch husten». Andere müssen unbedingt wieder zur Arbeit, oder ihre Chefs sind so ungeduldig, dass sie nach ­einem einzigen Tag Absenz ein Zeugnis brauchen; die Gelassenheit ist weg, und das überträgt sich auch auf uns Ärzte. Ich ertappe mich immer wieder dabei, dass ich die Ungeduld «empathisch» übernehme und Aktivitäten unternehme, anstatt die Patienten zur Geduld anzuhalten. Dass die Medizin zum Supermarkt verkommt, in dem Kranke schnell geflickt und ihre ­Störungen rasch behandelt, Gesunden noch bessere Gesundheit verschafft wird, Sportler wiederhergestellt werden, die Dunkelheit der Depressiven aufgehellt und Vorsorge ab der Stange angeboten wird – all dies haben wir Ärzte zusammen mit der Gesellschaft verursacht.
Mit den modernen sozialen Medien geht vielen Menschen die Fähigkeit verloren zu warten, auszuhalten und Unsicherheit ertragen zu können, da jede Stimmungsschwankung, jede Fieber­zacke, jeder kleine ­Unfall «real time» mitgeteilt und kommentiert wird. Während vor 50 Jahren wochenlang und vor 20 Jahren immerhin noch einige Tage abgewartet wurde, geht es heute keine Stunde mehr, ohne dass das «Gesundheitsbulletin» ausgetauscht werden muss. Als Gegenbewegung haben – verständlicherweise – Zenmeister, Klosterwochen und Mystiker Zulauf.
Schon vor vielen Jahren erzählten wir uns die Geschichte jenes Arztes, der sich mit typischer Ambivalenz darüber beklagte, dass er schon wieder wegen ­eines dringenden Falles nach dem Nachtessen in die Praxis hätte zurück eilen müssen. Auf die Frage eines befreundeten Kollegen, ob es denn wirklich nötig gewesen sei, soll er gesagt haben: «Gehen musst Du auf jeden Fall, denn es droht jederzeit die Spontanheilung.» Diese dumme Geschichte kommt mir immer wieder in den Sinn. Was würde passieren, wenn unsere Patienten länger warten müssten. Schweden und Holland zum Beispiel haben sehr gute nationale Gesundheitssysteme, wo man aber (wie ich aus vielen persönlichen Gesprächen weiss) manchmal Monate lang auf Hüftprothesen, Hörgeräte oder onkologische Abklärungen (!!) warten muss. Wenn man aber die generellen Indikatoren der Gesundheit misst, können sich diese Länder problemlos mit der Schweiz messen. Die Medizin, so lernen uns die Ökonomen, sei der einzige Markt, den man mit einem noch so grossen Angebot nie sättigen könne. Wenn wir also die erwähnten Länder zu Recht als Vorbilder nehmen, um die Gesundheitskosten etwas besser in den Griff zu bekommen, müssen wir uns bewusst sein, dass die Patienten mehr Geduld haben müssen – meist nicht zu ihrem Schaden. In der Wartezeit lösen sich nämlich viele banale Probleme von selbst, und schon dadurch entsteht ein ­Spareffekt. Unnötige Eingriffe und allfällige Schäden voreiliger Behandlungen und Operationen werden vermieden.
Aber zurück in den Mikrokosmos der Sprechstunde, in dem ich natürlich auch sündige und nicht immer ein guter Vertreter der angestrebten Slow Medicine bin. Muss denn immer alles schon gestern gemacht sein, wenn es heute, in drei Tagen oder zwei Wochen auch noch reicht? Wie wäre es, wenn wir kollektiv unseren Impetus herunterfahren, Gelassenheit verkörpern und Abwarten verordnen würden?
Ich weiss, es ist schwierig in einem Land, wo bald an jeder Ecke eine MRI-Gerät zur Verfügung steht, einem am Knie verletzten Hobbyläufer einen schnellen Scan zu verweigern. Aber dass solche Dinge bei uns fast ­reflexartig geschehen, mag einer der wesentlichen Unterschiede zu den Niederlanden oder Schweden sein, wo es ein, zwei Monate länger dauern kann, bis man in der Röhre landet. Es gibt die berühmte Ausrede von Kollegen, die behaupten, dass ein ungeduldiger Patient einfach den Arzt wechseln würde und irgendwo schon das bekäme, was er wolle. Aber vielleicht sind wir einfach zu wenig geschult, um zur Geduld anzuhalten? Bei den Antibiotika klappt dies (zumindest in der Nordwestschweiz) unterdessen gut. Viele Leute haben begriffen, welchen Unsinn wir bis anhin angestellt haben und immer noch anstellen mit der voreiligen und unnötigen Einnahme von Antibiotika.
Dieses Modell könnte man wahrscheinlich auch auf unnötige Labor- und Röntgenuntersuchungen übertragen. Es braucht dazu viel Information, fachliche ­Sicherheit (Autorität) und eine ­gewisse Raffinesse. Ein Beispiel dazu: Es passiert Ihnen sicher gelegentlich, dass jemand wegen Kopfschmerzen «in die Röhre» will. Sie sind nicht einverstanden, weil sie nach dem Ausschluss eines akuten Risikos nach den gängigen ­Regeln der Medizin keine Indikation sehen. Wie überzeugen Sie Ihren Patienten? Ich ­erzähle meinem Gegenüber gerne, wie bei solchen Untersuchungen Veränderungen gefunden werden können, von denen der Untersuchte lieber nie etwas gewusst hätte; kleine Zysten, Gefässvarianten oder unklare Befunde, bei denen man nicht unterscheiden kann zwischen benigne und maligne, zum Teil an Stellen, wo man gar nicht operieren kann. Es ist ein kleines Horrorkabinett. Soll oder besser darf man wirklich so konfrontativ offen sein? Aber es handelt sich dabei um reale Beispiele, ich ­erzähle keine Märchen. Von vielen Medikamenten kennen wir die Number Needed to Harm; bei den Untersuchungen kenne ich sie nicht, aber sie dürften auch beträchtlich sein. Eine solche Argumentation hilft ganz gut, und sie könnte ein Ansatz sein, um Patienten zu motivieren, auf offensichtlich unnötige Dinge zu verzichten. Wie heisst es auf den Zigarettenpackungen? Die Suchmaschine zeigt mir Varianten von «Rauchen gefährdet Ihre Gesundheit» bis zur knallharten Version «Rauchen tötet».
Entsprechend könnte ein Slogan lauten: «Hören Sie auf Ihren Arzt, wenn er zur Geduld mahnt. Zu frühe Abklärungen, Behandlungen und Operationen können Ihre Gesundheit ernsthaft gefährden».
Dr. med. Edy Riesen
Facharzt für
Allgemeinmedizin FMH
Hauptstrasse 100
CH-4417 Ziefen
edy.riesen[at]hin.ch