Ein gutmütiger Koryphäenkiller
Wenn der Patient es besser weiss

Ein gutmütiger Koryphäenkiller

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Édition
2017/09
DOI:
https://doi.org/10.4414/phc-f.2017.01463
Prim Hosp Care (fr). 2017;17(09):185-186

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Publié le 10.05.2017

Der Begriff «Koryphäenkiller» wird normalerweise für Patienten gebraucht, die reihenweise Ärzte bei deren Versuch, eine Diagnose oder Therapie für ihr Leiden zu finden, «scheitern lassen». Es sind keine gern gesehenen Gäste! Auch die ewigen Besserwisser können uns masslos nerven. Aber es gibt ja auch diejenigen Menschen, die wirklich etwas gelernt oder begriffen haben und die Dir dann schliesslich etwas weitergeben können. Als ich vor einigen Jahren bei einem Freund im Bündnerland aushalf, weit oben im Tal auf den letzten Wiesen, wo die Bergbauern und Tourismusleute, die Garagisten und Zimmerleute zusammen mit den Besuchern und Aufenthaltern aus dem Unter- und Ausland eine spezielles Völklein gebildet haben, lernte ich, wie man im eigenen Land ein Hauch von Fremde verspüren kann. Die portugiesischen Hotelangestellten und Bauarbeiter sprachen am Empfang der Praxis mit den medizinischen Praxisassistentinnen ein müheloses (wenn vielleicht auch fehlerhaftes?) Rumantsch, und ich stand im eigenen Land hilflos wie ein Immigrant daneben.
Sie haben das Folgende wahrscheinlich auch schon in der einen oder anderen Form erlebt: Besucht eine serbische Familie aus der Romandie die Deutschschweiz und kommt wegen eines Notfalls zu Ihnen in die Praxis, können Sie – wenn Sie nicht gut sind – nicht mithalten mit deren flüssigem serbofranzösischem Mix. Gleiches geschieht auf medizinischem Gebiet, wenn ein intelligenter und erfahrener Typ-1-Diabetiker in die Praxis kommt. Der Mediziner tut in diesen Situationen gut daran, sich zurückzunehmen und dem Patienten den Lead zu überlassen. Oft lässt sich das Problem dann zusammen lösen. Der Arzt wird zum Co-Experten und ist auf den Patienten als Experten angewiesen. Man kann eine solche Konstellation gut akzeptieren, wenn es ein fairer Austausch ist. Kürzlich aber hat ­einer meiner langjährigen Patienten mit seiner Findigkeit meine Kollegen und mich ganz einfach in den Schatten gestellt.
Primo, der «Koryphäenkiller», ist ein gutmütiger ­Secondo mit einem lupenreinen Schwarzbubendialekt. Er zog sich vor vielen Jahren als Muratore bei ­einem Arbeitsunfall eine Halswirbelkörperfraktur zu, weswegen er nun invalid ist. Er hat immer wieder schlechte Tage und muss sich ins Bett legen. Sonst aber ist er – so oft es geht – mit seinem klapperigen Fiat-Pickup unterwegs und liefert Brennholz oder verrichtet Gartenarbeiten, um die Rente aufzubessern. Kürzlich musste er sich eine Diskushernie operieren lassen. Er hat seit langem eine Hypertonie, einen grenzwertigen Blutzucker und einen gewaltigen Pansen, den er wie ein Notvorrat stolz vor sich herschiebt. Ich habe manchmal das Gefühl, er braucht das Körperfett als Isolation gegen die Aussenwelt, die ihm so übel mitspielt.
Nun geschah es, dass er wegen einer ungemütlichen postoperativen Situation ins Universitätsspital verlegt werden musste, wo ihn die eifrigen Kardiologen nach Strich und Faden abklärten. Nichts gefunden, Fehl­alarm! Man verordnete aber trotzdem (defensive Medizin!?) eine Medikation, fast wie nach einem ­Infarkt mit – unter anderem – Acetylsalicylsäure (ASS, Aspirin®). Nach zwei ­Wochen kam es zu heftigen Kniebeschwerden, so dass Primo kaum mehr Treppen steigen konnte. Er wurde an die Rheumatologen überwiesen. Klinik, Labor, Röntgen, Ultraschall. Auch hier nichts – diagnostische Nullnummer! Grosses Rätseln und Schulterzucken. Ich erhielt bald danach ein Telefon von einem mir bekannten, pensionierten Kollegen, bei dem der Patient den Garten pflegt. Man müsse doch um Himmels willen etwas tun, man könne das nicht länger ansehen. Primo hätte sicher eine Arthritis und es gäbe doch diese phantastischen Biologics!
Primo wusste es besser. Aus seinem kleinen Strauss vom Medikamenten pflückte er (warum, weiss ich nicht) zielsicher Aspirin® heraus, setzte es ab, und – siehe da – seine Gelenksschwellungen und -schmerzen waren in wenigen Tagen wie weggeblasen. Er kam zu mir mit dem Bericht über diese Wunderheilung. Ich knurrte zuerst etwas von «unmöglich» und «ähä, jä so, moll luege ...», bis plötzlich der kleine Professor in meinem Hinterkopf anklopfte. Da hatte ich doch vor wenigen Wochen einen Vortrag über das ASS-Intoleranz-Syndrom gehört, von Prof. Dr. med. emer. Hanns-Wolf Baenkler, Universität Erlangen, einem der wenigen Experten auf diesem Gebiet im deutschsprachigen Raum. Könnte es doch eine Variante davon sein? Wir vereinbarten eine Re-Exposition, während der mich Primo Tag und Nacht erreichen konnte. Und es kam wie es kommen musste, oder noch besser. Primo entwickelte sofort wieder Kniegelenksergüsse und daneben ein Asthma bronchiale, so dass er die erste Nacht halb sitzend im Bett verbrachte. Ich konnte die Gelenksergüsse samt gefüllten Bakerzysten dokumentieren und die bronchiale Obstruktion bestätigen. Auch dieser erneute Spuk ging nach Absetzen der ASS innert zwei, drei Tagen vorbei.
Ich schrieb sofort an Prof. Baenkler, der umgehend per Mail antwortete: Ja, Gelenkssymptome seien ihm beim ASS-Intoleranz-Syndrom mehrfach gemeldet worden, aber seien leider schlecht dokumentiert. Das erst­malige Auftreten irgendwann im Erwachsenenalter sei aber sehr typisch. Asthma könne selbstverständlich dazu gehören.
Es gibt Menschen, denen man gerne gönnt, wenn sie recht haben. Der gute Primo strahlte mit seinem Hausarzt um die Wette. Letzterer konnte sich wenigstens auf die Fahne schreiben, gut zugehört, geglaubt und vertraut zu haben.
Dr. med. Edy Riesen
Facharzt für Allgemein­medizin FMH
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