Interaktive Pflege bei Demenz
Kommunikation mit schwer dementen Menschen

Interaktive Pflege bei Demenz

Arbeitsalltag
Édition
2019/02
DOI:
https://doi.org/10.4414/phc-f.2019.10023
Prim Hosp Care Med Int Gen. 2019;19(02):57-58

Affiliations
a dipl. Pflegefachfrau HF; b Facharzt für Allgemeine Innere Medizin FMH, ElfenauPraxis, Hausarzt Domicil Elfenau, Kompetenzzentrum für Demenz, Bern

Publié le 06.02.2019

Wenn Worte sich verlieren, die zeitliche Verankerung in der Lebensgeschichte sich auflöst und die Emotionen zum tragenden Element des Lebens werden, unterstützen oder ersetzen Validation und Kinästhetik die Worte. So können sich Pflegende und schwer demente Menschen in ihren sehr unterschiedlichen Welten verstehen.

Von der eigenen und der realen ­Wirklichkeit

Ich werde von der Pflegefachfrau Rita Beutler-Alessandrello in das Pflegeheim, das ich hausärztlich betreue, ­gerufen. Ein Bewohner, der infolge seiner demenziellen Entwicklung seit einiger Zeit kaum mehr schlucken kann und sich immer wieder verschluckt, liegt im Sterben – Pneumonie. Als ich am Abend ins Zimmer des Kranken komme, steht seine ebenfalls an Demenz erkrankte Ehefrau an seinem Bett, besorgt, froh, dass der Arzt kommt, und traurig. Mit ihrer reichen Lebenserfahrung versteht sie, dass der Bewohner bald sterben wird. Nur, der Sterbende ist für sie nicht ihr Ehemann. Er ist der Schwiegervater und sie sorgt sich, wie traurig es für ihre Schwiegermutter sein müsse. Sie habe es ihr noch nicht gesagt. Wie es wohl für sie sein müsse, denn sie verliere ihren einzigen Sohn. War der Sterbende jetzt gerade wieder ihr Ehemann? Sekunden später fragt sie uns besorgt, ob ihr Mann noch nicht nach Hause gekommen sei, sie erwarte ihn, er müsste jeden Moment da sein ... Ihr Blick und Tonfall zeigen ihre tiefe Besorgnis. Wir teilen ihre Gefühle von Sorge und Trauer und bestärken sie, dass wir dem Kranken helfen werden, damit er leicht sterben kann. Sollen wir darauf beharren, dass sie am Sterbebett ihres Ehemanns steht, dass er da ist und nicht kommen wird? Am kommenden Morgen war der Patient ruhig verstorben. Wir sprechen der Ehefrau unser herzliches Beileid aus, umarmen sie mit tröstenden Worten. Wir sehen, dass sie weiterhin zwischen den Welten pendelt. Wie und wann werden wir sie aus ihrer eigenen in die reale Wirklichkeit holen, damit sie verstehen kann, dass ihr Ehemann, mit dem sie so eng verbunden war, verstorben ist? Wir geben ihr Zeit dafür und werden sie behutsam dahin führen.

Wissen und Nichtwissen

Die von Dr. Kissling geschilderte Situation war sehr berührend. Als ich mit ihm das Zimmer des Bewohners betrat und ihn der Ehefrau als Arzt vorstellte, fragte sie, ob sie aus dem Zimmer gehen solle. Ein Zeichen, dass ihre Demenz noch nicht so weit fortgeschritten ist, denn Sprache und gesellschaftliche Normen sind noch sehr präsent. Ich sagte, wenn sie möchte, dürfe sie gerne im Zimmer bleiben, sie gehöre doch dazu. Während wir am Bett ihres Mannes standen, erzählte sie davon, wie verbunden sie waren und dass es sehr weh tut, wie es ihm jetzt gehe. In dem Moment sprach nichts dafür, dass sie ihn nicht als ihren Ehemann ­erkannte.
Dr. Kissling führte uns nach der Untersuchung des ­Patienten aus dem Zimmer und klärte die Ehefrau sehr behutsam darüber auf, dass ihr Ehemann sterben könnte. Sie reagierte traurig, aber auch gefasst und ­irgendwie schon wissend. Obwohl die Arztvisite aus traurigem Anlass stattfand, hatte die Situation durchaus auch etwas Helles und Würdiges in sich. Auf einmal erwähnte sie, dass der Sohn noch nicht da sei, der müsse doch auch Bescheid wissen. In dem Moment ging mir ein «Lämpchen auf», denn die beiden waren meines Wissens kinderlos.

Das Erleben gelten lassen

In anderen Momenten, wenn sie nach ihrem Mann fragte, hatte ich sie zu ihm in sein Zimmer geführt. Dann belehrte sie mich jeweils geduldig, dies sei nicht ihr Mann, sondern der Grossvater, und um völlige Klarheit zu schaffen ergänzte sie noch: «Mein Schwiegervater!»
Ich liess dann jeweils ihr Erleben gelten, da dies der Kernpunkt von Validation ist. Ein anderer Punkt ist mir ebenso wichtig: Das Eingehen auf das Erleben unserer dementen Bewohnerinnen und Bewohner heisst nicht, selber zu lügen. Um auf die Situation zurück zu kommen, war ich selber gerade verunsichert, ob meine Vermutung, sie sehe den Patienten jetzt als ihren Schwiegervater, stimme. Denn auf meine Frage am Rapport hatten meine Kolleginnen gesagt, sie habe ihn am Morgen als ihren Mann erkannt. Deshalb sagte ich ihr nun, ich sei gerade etwas verunsichert. Dies hier drin sei doch ihr Mann. Wie schon mehrmals klärte sie mich geduldig und sachlich auf: «Nein, das ist der Grossvater, mein Schwiegervater.» Und auch jetzt blieb die Frage im Raum stehen: «Wo steckt nur mein Mann?» – Also der Sohn des Schwiegervaters?
Die Frage ist nun, ob dies der Augenblick ist, um die Ehefrau beharrlich davon zu überzeugen, bzw. sie «in der Realität zu orientieren», dass der Patient im Zimmer ihr Mann sei. Zwei Dinge sprechen dagegen. Erstens: Falls sich die Ehefrau in eine frühere Zeit versetzt erlebt, ist es gar nicht möglich, sie in unsere Zeit zu ­holen: «Nein, mein Mann liegt nicht in einem Bett, mein Mann ist noch unterwegs.» Zweitens: Falls ich die Ehefrau gegen ihr «besseres Wissen» doch überzeugen könnte, dass der sterbende Patient ihr Mann sei, würde sie es sehr schnell wieder vergessen haben, und die Aufklärung mitsamt Trauer würde sich unnötig jedes Mal wiederholen.
In meiner für das Preisausschreiben (s. Kasten) eingereichten Arbeit (Abb. 1) beschreibe ich eine andere Frau. Sie war so weit zurückversetzt in ihrem (Er-)Leben, dass gegen Schluss nicht mehr nur ihre Eltern wieder «auferstanden» waren. Nein, sogar ihr Grossmueti lebte noch, und sie musste dann ganz dringend zu ihr nach Oberburg und fragte jeden, ob er oder sie ein Auto habe und sie hinfahren könne. Mein erster Gedanke war, als diese Frau gestorben war: «Jetzt ist sie bei ihrem Grossmueti in Ober-Ober-Oberburg angekommen.»
Abbildung 1: Die 2018 für den Esther Klein-Tarolli Preis ­eingereichte Arbeit.

Wenn die Sprache wegfällt

Die «Validation» ist sehr geeignet für die Kommunikation mit dementen Menschen im ersten und zweiten Stadium. In den fortgeschrittenen Stadien kommen mehr die «Kinästhetik» und die «Basale Stimulation» zum Zuge. Wenn die Sprache immer mehr wegfällt, wird eine neue Kommunikation immer wichtiger: Die Körpersprache über Berührung, Bewegung, verstärkte Mimik und Gestik. Wenn die Worte nicht mehr verstanden und umgesetzt werden können, funktioniert vieles mit taktiler Führung und mit Vorzeigen.
Das ist das Faszinierende an meiner täglichen Arbeit mit unseren dementen Bewohnerinnen und Bewohnern. Alle sind an einem «anderen Ort». Mit einem möglichst treffenden Mix aus verbaler und nonverbaler Sprache können wir Pflegenden sie verstehen und sie fühlen sich auch verstanden!

Zur Person

Rita Beutler-Alessandrello befasst sich mit interaktiver Pflege bei ­Demenz. Für ihre Publikation zu diesem Thema hat sie den Esther Klein-Tarolli Förderpreis 2018 (2. Platz) gewonnen.
In ihrem preisgekrönten Werk beschreibt sie die Pflege als inter­aktives Handeln zwischen dem zu pflegenden Menschen mit seiner Geschichte, seinen Eigenheiten und seinen körperlichen, geistigen und emotionalen Fähigkeiten, in seiner Welt und mit seinen persönlichen Bedürfnissen und der Pflegenden in ihrer Welt. Pflegen als Haltung, nicht blosses Tun. Zwei wichtige Instrumente dafür sind Validieren und Kinästhetik.
Dr. med. Bruno Kissling
Facharzt für Allgemeine Innere Medizin FMH
ElfenauPraxis
Hausarzt Domicil Elfenau
Kompetenzzentrum für ­Demenz
Elfenauweg 6
CH-3006 Bern