Alte Ideen in neuem Gewand
Wie setzen etablierte Gesundheitseinrichtungen, Startups und IT-Riesen Managed Care in den USA um?

Alte Ideen in neuem Gewand

Reflexionen
Édition
2019/06
DOI:
https://doi.org/10.4414/phc-f.2019.10050
Prim Hosp Care Med Int Gen. 2019;19(06):185-187

Affiliations
a Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Betriebs- und Regionalökonomie IBR an der Hochschule Luzern – Wirtschaft; b Stellvertretender medizinischer Leiter bei mediX zürich und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Hausarztmedizin Zürich

Publié le 05.06.2019

Kann die Schweiz etwas vom Gesundheitssystem der USA lernen, das noch teurer ist als das unsere? Lesen Sie hier den Erfahrungsbericht zur Studienreise mit dem Deutschen Bundesverband Managed Care e.V. / Forum Managed Care fmc nach San Francisco.

An der Stanford Universität in Kalifornien ist man sich bewusst: «Healthcare is like religion, it makes totally sense for those who are born into it, but not for the others» [1]. Dennoch kann einem auch das eigene ­Gesundheitswesen unverständlich bleiben. Warum beispielsweise hat das Schweizer Stimmvolk 2012 die Managed Care-Vorlage mit einem wuchtigen Nein abgelehnt? Integrierte Versorgungsnetzwerke setzen sich ja das legitime Ziel, eine bedarfsgerechte, qualitätsbasierte und kosteneffektive Versorgung zu garantieren. Wie soll das aber gehen, wenn wir die grundlegenden Instrumente dafür nicht nutzen, wie zum Beispiel politische Instrumente für eine bessere Qualität im Gesundheitswesen [2] oder tarifarische Anreize? Vor dem Hintergrund eines 86-Milliarden-Marktes [3], der rund 12% des Bruttoinlandproduktes [4] ausmacht, ist diese Lethargie erstaunlich. Auch in den USA sind die Gesundheitskosten hoch, und noch immer sind viele Amerikaner nicht versichert.

The American Way

Das amerikanische Gesundheitssystem gibt es nicht. Es existiert eine fast unerschöpfliche Anzahl an Gesundheitsdienstleistern und unterschiedlichen lokalen Organisationsformen. Im amerikanischen System können drei Märkte unterschieden werden:
a) die staatlichen Märkte Medicare (für Menschen ab 65 Jahren);
b) Medicaid (für Bedürftige);
c) der kommerzielle Markt.
Dem Staat kommt neben der Finanzierung von rund der Hälfte der Gesamtkosten vornehmlich die Rolle zu, Rahmenbedingungen zu gestalten und einzugreifen, wenn Marktmechanismen nicht funktionieren. Der wichtigste staatliche Eingriff in den letzten Jahren war der Patient Protection and ­Affordable Care Act (PPACA) [5]. Die zentralen Änderungen traten ab 2014 in Kraft: Zusätzliche rund 20 Millionen Amerikaner wurden seit der Einführung versichert [6]. Weitere Zahlen dazu: Rund 55% der Amerikaner sind über ihren Arbeitgeber versichert, während 36% eine Deckung über staatliche «Healthplans» haben (Medicare und Medicaid). Nur gerade 16,2% der Amerikaner kaufen ihre Versicherung «direkt» ein und noch immer ganze 8,8% der Amerikaner sind nicht versichert [7].

Daten sollen genutzt werden

In den USA hat der Datenschutz einen anderen Stellenwert als in Europa oder der Schweiz. Branchenspezifische Regelungen bilden die Grundlage, und ein Grossteil des Datenschutzes baut auf der Selbstverpflichtung der Unternehmen auf. Gerade im Gesundheitsbereich gibt es zwar Datenschutzregelungen, diese sind im Vergleich zur Schweiz bzw. EU jedoch sehr liberal ausgestaltet. Im Vordergrund der amerikanischen Regelungen steht nicht der Schutz der Persönlichkeit der «Datensubjekte», sondern die freie Verwertbarkeit der Daten als Wirtschaftsgut [8]. Dies zeigt sich beispielsweise beim Besuch des Start-ups Grand Rounds: Mit einer App bieten sie eine Orientierungshilfe durch den fragmentierten, amerikanischen Dschungel an Leistungserbringern an, basierend auf einem Algorithmus an definierten Qualitätskriterien. Dass diese Kriterien durch Abrechnungsdaten ergänzt werden, wäre in der Schweiz undenkbar.
Ebenso hat sich die Alphabet-Firma Verily (Google) der Datensammlung und Nutzung verschrieben, ihre Mission: «Make the world’s health data useful so that people enjoy healthier lives.» [9]. Mit dem Projekt «Baseline» lancierte Verily mit der Duke- und Stanford-Universität eine Kohortenstudie, die Gesundheitsdaten von ca. 10 000 Teilnehmern über einen Zeitraum von vier Jahren erfasst. So will Verily die Gesundheit der Menschen darstellen, um Erkenntnisse über den Übergang von Gesundheit zu Krankheit zu erhalten und Risiken für Krankheiten zu erkennen. Analoge Bestrebungen waren im letzten Herbst im Kanton Zürich zu beobachten – Gesundheitsdirektor Thomas Heiniger beantragte im Parlament 20 Millionen Franken für die Gesundheitsstudie «HoPP Zürich», die 20 000 Zürcherinnen und Zürcher über einen Zeitraum von 25 Jahren beobachten sollte, um mehr Aufschluss über den Verlauf von Krankheiten zu erhalten. Sie wurde vom Parlament abgelehnt [10].

Von Volume zu Value

Der Fokus wird in Amerika auf Qualität statt Quantität gelegt, und Patientenbedürfnisse standen bei allen besuchten Institutionen im Vordergrund. So besteht der Lohn bei Ärzten der Hill Physician Group zu zwei Dritteln aus einem Fixgehalt und das restliche Drittel wird über qualitätsorientierte Pay-for-Performance bezahlt. Auch bei Kaiser Permanente – dem Vorzeigebeispiel für eine Managed Care-Organisation – gibt es einen variablen Lohnbestandteil, der sich an der erbrachten Qualität orientiert. Eine Studie von HFMA und Humana (2018) zeigt, dass der Anteil der Krankenversicherungen, die value-based-Mechanismen nutzen, sich seit 2015 von 12 auf 24% vergrössert hat [11].
Ausserdem existiert seit 1994 in Kalifornien die Nonprofit-Organisation Integrated Healthcare Association IHA. Sie wird von einem 40-köpfigen Board von führenden Krankenversicherern, Ärztenetzwerken, Spitälern und Gesundheitssystemen sowie Repräsentanten von Käufern, Konsumenten, akademischen Personen und pharmazeutisch-technologischen Unternehmen geführt. Mit dem «Health Care Cost & Quality Atlas» schuf man ein Benchmark-Instrument, das regionale Unterschiede in klinischer Qualität, Jahreskosten und Auslastung der Spitäler publiziert. Anhand der Daten lassen sich nicht nur Organisationsformen vergleichen, sondern auch innovative (value-based) Vergütungsmodelle entwickeln [12]. Eine analoge Organisation für die Schweiz – ein Nationales Qualitätszentrum – wurde in politischen Diskussionen immer wieder in Frage gestellt [13].

Neuer Wein in alten Schläuchen?

Ein weiteres Zauberwort in Amerika: «Population Health», das fast alle Institutionen betonten. Im Grundsatz geht es darum, dass Gesundheit ganzheitlich betrachtet wird und der Fokus nicht nur auf der Krankheit liegt. In der Schweiz drehen sich die Diskussionen meist um Krankheit und kurative Medizin – gerade mit Blick auf die Gesundheitskosten, die zu rund 80% von nichtübertragbaren Krankheiten verursacht werden, stellt sich die Frage, ob dieser Fokus gerechtfertigt ist. Studien zeigen, dass das Gesundheitsversorgungssystem unsere Gesundheit höchstens zu 15% beeinflusst – zu 85% prägen Faktoren wie die Umwelt unser Verhalten und die Genetik unsere Gesundheit [14].
Zurück zu den USA: Organisationen, wie die Hill Physicians Group oder Alameda Hospitals managen die Versorgung ihrer Patientinnen und Patienten ganzheitlich. Der Fokus liegt dabei nicht nur auf der schulmedizinischen Behandlung, sondern geht weit darüber hinaus. Obdachlose Patienten beispielsweise werden erst mit Nahrung versorgt oder einem Bett, bevor sie die eigentliche Behandlung erhalten. Projekte wie City Block in New York denken diesen Ansatz noch weiter: «If it matters to you, it matters to us.» lautet ihr Slogan. Ihre Betreuungsteams – bestehend aus Grundversorgern, Sozialberaterinnen und Beratern für Gesundheitsverhalten – unterstützen die Betroffenen in allen gesundheitlichen Belangen und ihren täglichen Bedürfnissen. Eine Idee, die in der Schweiz von gewissen Dienstleistern innerhalb alternativer Versicherungsmodellen mit Steuerungsverantwortung teils auch schon umgesetzt wird, durch Case Manager auch bei den Krankenversicherern Fuss fasste, jedoch noch enorm ausbaufähig wäre. Hoffnung setzen viele Akteure in den Experimentierartikel, der von der Expertengruppe Kostendämpfung im Gesundheitswesen als Massnahme vorgeschlagen wurde. Doch reichen diese Bestrebungen aus?

Konklusion

Wir durften in den USA viele spannende, innovative Projekte kennenlernen und beobachten, dass der fragmentierte Markt per se kein Hemmschuh für Innovation ist, wenn der Qualitätswettbewerb spielt. Auch in der von den Kantonen geprägten Gesundheitsversorgung der Schweiz findet man innovative Ideen (zum Beispiel wird das Gesundheitszentrum Unterengadin als «Population Health System» bezeichnet [15]). Innovationen in den USA sind stark an den Bedürfnissen der Patientinnen und Patienten ausgerichtet. Ein direkter Vergleich ist aufgrund der unterschiedlichen Ausgestaltung der Systeme schwierig. Doch die Orientierung an den Bedürfnissen sowie der Fokus hin zu value (Qualität mit Bezug zum Preis) – im Sinne des Patienten und der Solidargemeinschaft – und die Gesundheit als Gesamtkomplex sind Konzepte, die vermehrt in die politischen Diskussionen hierzulande einfliessen könnten.
Die Reise wurde durch den BMC organisiert und durch Partnerorganisationen unterstützt. Partner waren: DGG – The Digital Health Group, fmc – Schweizer Forum für Integrierte Versorgung, Stiftung Münch sowie Zur Rose / Doc Morris. Die Kosten für die Organisation der Reise wurden vom BMC und seinen Partnern getragen. Die Reisekosten und die Kosten vor Ort erfolgten auf Selbstkostenbasis. Die Teilnehmer wurden im Rahmen eines Bewerbungsverfahrens mit Hilfe einer unabhängigen Jury ausgewählt.
Judith Dissler
Bireggstrasse 19
CH-6003 Luzern
judith.dissler[at]bluewin.ch
 1 Zitat von der Studienreise von Kevin A. Schulman, MD, Director of Industry Partnerships and Education, CERC, Stanford University.
 2 Beispielsweise das bundesrätliche Geschäft 15.083 KVG. Stärkung von Qualität und Wirtschaftlichkeit, das in der parlamentarischen Debatte höchst umstritten ist.
 3 Gemäss KOF-Progrnose der Gesundheitsausgaben 2017–2020.
 4 2016 betrugen die Kosten 12.2% des BIP (vgl. BFS, Kosten des Gesundheitswesens in Prozenten des BIP)
 5 Auch bekannt unter dem Namen Obamacare
 6 Uberoi, Namrata; Finegold, Kenneth; Gee, Emily (2016) Health Insurance Coverage and the Affordable Care act, 2010–2016.
 7 Barnett, Jessica C.; Berchick, Edward R. (2017) Health Insurance Coverage in the United States: 2016; United Status Census Bureua: 2017.
 8 Gutachten für eHealth Suisse, walderwyss rechtsanwälte, 19.01.2018, Based Care: Leading Population Health Initiatives
 9 www.verily.com
10 https://www.nzz.ch/zuerich/langzeitstudie-hopp-hebt-nicht-ab-ld.1300514
11 HFMA, Humana (2018) Health Leaders Cite Limited Ability to Share Clinical Information as Key obstacle to Value-Based Payment, https://www.hfma.org/Content.aspx?id=59416.
12 California Regional Health Care Cost & Quality Atlas: https://atlas.iha.org/
13 15.083 KVG. Stärkung von Qualität und Wirtschaftlichkeit
14 Dever G.E.A 1976, An epidemiological model for health policy analysis. Social Indicators Research 2 : 453-466.
15 Bilgeri, Anna-Sophia; Rüegg-Stürm, Johannes & Mitterlechner, Matthias (2018) The communicative constitution of population health systems. International Journal of Integrated Care, 18 (S2).