Verloren auf Lesbos
Bericht eines Arztes aus dem Flüchtlingslager Moria

Verloren auf Lesbos

Reflexionen
Édition
2019/05
DOI:
https://doi.org/10.4414/phc-f.2019.10054
Prim Hosp Care Med Int Gen. 2019;19(05):158-160

Affiliations
Assistenzarzt, für die britische Hilfsorganisation Team Kitrinos Arzt im Flüchtlingslager Moria auf Lesbos

Publié le 08.05.2019

In ganz Europa herrschte ein kalter Winter. Tausende Flüchtlinge harrten unter zum Teil misslichen Bedingungen in Lagern auf den griechischen Inseln aus. Traumatisiert, erkältet und gefangen im vor sich hinschleichenden Asylprozess warteten und warten sie immer noch auf eine bessere Zukunft.

Mustafa* kommt aus Afghanistan. Vor wenigen Wochen ist er in Moria angekommen. Seitdem plagen in oft stärkste Kopfschmerzen. Er schlage sich gegen den Kopf, nur das bringe Erleichterung. Nachts schläft er nur wenige Stunden. Auf seinem Telefon zeigt er mir Fotos von toten Körpern im Staub. Er halte das alles nicht mehr aus.
Wir Ärzte im Flüchtlingslager Moria auf Lesbos hören immer wieder solche Geschichten. Manchmal nur angedeutet auf dem Weg zur Ursachenfindung der chronischen Rückenschmerzen. Manchmal abgehackt unter Tränen. Die britische Hilfsorganisation Kitrinos betreibt im Zentrum des Camps eine Klinik zur medizinischen Grundversorgung. Sechs Tage pro Woche betreiben vier bis fünf Ärztinnen und Ärzte hier eine kleine Hausarztpraxis. Laboruntersuchungen stehen nur für spezielle Fälle zur Verfügung, und oft dauert es Wochen, bis Resultate zurückkommen. Röntgen gibt es nur auf Anfrage in den Kliniken in der Stadt. Fünf Zuweisungen pro Tag erlaubt das nahe gelegene Spital. Vor unserer Klinik warten Patientinnen und Patienten oft Stunden draussen in der Kälte auf ihre Konsultation. Trotzdem kommen manche immer wieder. Nichts scheint zu helfen. Viele Jugendliche tragen ­Spuren von Selbstverletzungen. Den Schmerz ihrer ­Geschichte können wir, wenn überhaupt, nur vorübergehend etwas lindern. Zu viel Zeit gibt es zum Nachdenken. Zu tief sind die Spuren des Krieges. Und Europa hat ihnen nur lange Warteschlangen und überfüllte Unterkünfte gegeben.
Abgebranntes Zelt im Flüchtlingslager Moria, Lesbos.
Nur neun Kilometer trennen die türkische Küste und Lesbos. Wer den gefährlichen Weg mit Gummibooten über den Golf von Edremit oder die Meerenge von Lesbos geschafft hat, betritt hier erstmals europäischen Boden. Das Flüchtlingslager Moria, wo ein grosser Teil dieser Menschen interniert wird, hat es dabei zu zweifelhafter Berühmtheit gebracht. Ursprünglich als Registrierungszentrum für durchreisende Flüchtlinge geplant und mit einer offiziellen Kapazität von 2000 bis 3000 Menschen, leben heute 5000 bis 7000 Flüchtlinge hier. Der zentrale Teil des Lagers besteht aus Schiffscontainer-artigen Baracken mit 20 bis 30 Betten. Es gibt geschützte Sektoren für unbegleitete Minderjährige und alleinreisende Frauen und deren Kinder. Ein Grossteil des Lagers erstreckt sich jedoch als Zeltstadt in die umliegenden Olivenhaine. Strom und damit die Heizungen fallen – bei Minustemperaturen – manchmal tagelang aus. Im inoffiziellen Teil des Lagers gibt es kaum Zugang zu warmem Wasser. In den überfüllten Containern und Zelten ist es laut, Tag und Nacht. Bei starkem Regen füllen sich die Zelte mit Wasser. Schlange stehen für Essensrationen dauert Stunden – drei mal am Tag. Kinder haben keinen Zugang zu regulärer Schulbildung. Immer wieder gibt es Brände. Menschenschmuggler und Drogenhändler leben im Camp. Gewalttätige Konflikte sind an der Tagesordnung.
Auf dem Höhepunkt der Flüchtlingsströme nach Europa 2015 blieben Neuankömmlinge nur für zwei bis drei Tage in den Lagern auf den griechischen Inseln. Dann reisten sie mittels Fähre weiter auf das griechische Festland, um von dort Richtung Westeuropa zu ­gelangen. Im Verlauf des Jahres 2016 schlossen sich ­jedoch die Grenzen innerhalb Europas und das EU-Türkei-Abkommen vom 18. März 2016 trat in Kraft. Seitdem wurden die türkischen Grenzkontrollen deutlich ausgebaut, und Flüchtlinge werden nach abgelehntem Asylantrag in die Türkei deportiert. All dies bedeutet, dass es ausser dem teuren Weg per Flugzeug kaum mehr Möglichkeiten gibt, nach Westeuropa zu kommen. Es heisst auch, dass neuankommende Flüchtlinge auf Lesbos nur noch in Griechenland Asyl beantragen können. Während die Zahl der Asylanträge in der EU und der Schweiz deutlich gesunken sind, sind sie in Griechenland seit 2015 explodiert. Das Asylsystem des durch die Austeritätspolitik ausgebluteten griechischen Staates ist völlig überlastet. Die Flüchtlinge verbringen Monate im Lager, manche, die wir treffen, sind seit zwei Jahren hier.
Die Fähre nach Athen und ein Schiff der griechischen Küstenwache im Hafen von Mytilini, Lesbos.
Die fünf Wochen im Flüchtlingslager Moria haben mir unglaublich viel gezeigt. Sei es «pain all over the body» als Ausdruck psychischer Beschwerden zu verstehen, oder Entscheidungen nicht am Computer mittels Laborparametern, Röntgen und CT-Bildern, sondern am Patienten zu fällen. Beeindruckend war, mit welcher Energie und welchem Enthusiasmus die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Kitrinos täglich für das Menschenrecht auf eine medizinische Versorgung kämpften. Vor allem aber durfte ich die Geschichten all dieser Menschen hören, die ich nie mehr vergessen werde.
Die Zeit auf Lesbos hat jedoch auch viele Fragen aufgeworfen. Immer weniger verstehe ich die aktuelle europäische und damit auch die Schweizer Flüchtlingspolitik, welche Tausende im Mittelmeer ertrinken lässt, Schutzbedürftige an den Aussengrenzen Europas einsperrt und Menschen auf der Suche nach Sicherheit auf eine lebensgefährliche Reise zwingt.
Schlafplatz in der Halle für Neuankommende im Flüchtlingslager Moria, Lesbos.
Immer unverständlicher erscheint mir, Flüchtlinge in Lagern zusammenzupferchen und ihnen jegliche Autonomie zu nehmen. Während die Zeit in all den ­Stunden beim endlosen Schlangestehen und in all den schlaflosen Nächten langsam vorbeizieht, reduziert sich das Leben dieser Menschen immer mehr auf das Schlimmste, was ihnen widerfahren ist. Das Trauma, dass ihre Familien zeriss, ihre Freunde tötete und ihr altes Leben schlagartig beendete. In der Spirale aus zerstörter Vergangenheit, gähnend leerer Gegenwart und unklarer Zukunft bleibt nur noch Angst, Hoffnungslosigkeit und Wut. Alle vergessen, wie viel Stärke, Wissen und Kraft hier schlummert. Warum verödet all dieses Potenzial in menschenunwürdigen Lagern? Warum nutzen wir all dieses brachliegende Können nicht? Das Wissen all dieser Ärzte, Lehrerinnen, Handwerker, Buchhalterinnen?
Die Schweiz ist eines der reichsten Länder der Welt. Mit diesem Reichtum kommt auch eine Verantwortung. Die Menschen aus Afghanistan, Somalia, Jemen oder Syrien emigrieren nicht auf der Suche nach einem besseren Leben. Sie fliehen vor Tod und Zerstörung in ihren zerfallenden Herkunftsländern. Konfrontiert mit dem Verlust von allem, was ihr Leben ausmachte, bleiben ihnen oft nur zwei Möglichkeiten: Ohne Perspektive in einem Flüchtlingslager in der Wüste auszuharren oder sich in die Hände Krimineller zu begeben – als illegale Arbeiter vor Ort oder illegale Reisende auf dem Weg nach Europa. Staaten wie Pakistan, Jordanien oder der Libanon haben Millionen von Schutzsuchenden aufgenommen. Warum helfen Schweizer Mittel nicht stärker, diese vergessenen Millionen Flüchtlinge in diese Staaten zu integrieren? Warum gibt kaum legale Wege nach Europa und in die Schweiz, die den Schwächsten und Verletzlichsten offen stehen – denen, die unseren Schutz am dringendsten benötigen?
Manuel Cina
Flurstrasse 38
CH-3014 Bern
manuel.cina[at]gmail.com