Verpasster Rollenwechsel
Vom zuhörenden zum handelnden Arzt

Verpasster Rollenwechsel

Reflexionen
Édition
2020/06
DOI:
https://doi.org/10.4414/phc-f.2020.10051
Prim Hosp Care Med Int Gen. 2020;20(06):215-216

Affiliations
Ehemaliger Redaktor PHC, pensionierter Hausarzt, Ziefen

Publié le 02.06.2020

Heute nehmen wir zunehmend Abstand von der Figur des autoritären Arztes, manchmal muss dieser Archetyp des wissenden Heilers aber wieder geweckt werden.

Heute nehmen wir zunehmend Abstand von der ­Figur des autoritären Arztes, manchmal muss dieser Archetyp des wissenden Heilers aber wieder geweckt werden. Dr. E. hielt viel von der Hypothese, dass der Patient oft weiss, was für ihn gut ist. Einer seiner Kollegen hat dazu eine hübsche Arbeit verfasst mit dem Titel «Der Arzt auf dem Sozius – tolerieren statt dirigieren» [1].
An jenem nasskalten Wintertag vor vielen Jahren war das Wartezimmer voller Grippepatientinnen und -patienten, und als er seinen Bekannten aus der damaligen Parallelklasse ins Sprechzimmer rief, fiel ihm sofort sein hochrotes Gesicht auf. Es zeigte sich eine heftige Rachenentzündung, der Allgemeinzustand war reduziert, aber das war normal in diesen Tagen. Die Leute kamen und gingen und waren nach ein paar Tagen mit Fieber und Abgeschlagenheit wieder auf den Beinen; die Influenza eben. Und doch war etwas anders. Um das Labor zu verordnen ging Dr. E. hinaus. Er brauchte etwas Distanz, weil sein Bauch meldete, dass etwas nicht stimmte. Sicher wäre es besser, den Kranken gleich einzuweisen.
Zurück im Sprechzimmer kam es zu einem dieser ­kurzen Gespräche, wie man sie unter alten Bekannten führt. Die vertrauten Worte und die abgedroschenen, beruhigenden Sprüche unter Männern, die Abmachung, der Patient könne sich jederzeit melden und das Antibiotikum gegen die im Test festgestellten Streptokokken, all dies böte genügend Sicherheit.
Am nächsten Morgen wurde der vorher noch gesunde Mann mit allen Zeichen eines septisch-toxischen Schocks todkrank in die Klinik gebracht, wo er dank der modernen wochenlangen intensiven ­Behandlung unbeschadet überlebte. Die Erholung allerdings benötigte Monate. Die Ehefrau hatte ein gewisses Verständnis für den Arzt, da sie am selben Abend ihren Mann noch einmal vergeblich zu überzeugen versuchte, ins Spital zu gehen. Der Betroffene selbst machte auch später nie Vorwürfe. Dem Arzt war aber sofort klar, dass er seinem Bauchgefühl hätte nachgeben müssen. Einen septisch-toxischen Schock sieht ein Praktiker zwar nur wenige Male. Aber auch ohne genaue Diagnose war offensichtlich, dass etwas nicht stimmte. Warum hatte er sich so täuschen lassen? Es gibt eben Momente, wo die Verantwortung ganz beim Arzt liegt und in diesem Fall hätte er die Führung nicht abgeben dürfen. Ein Rollenwechsel vom zuhörenden Arzt, der das shared decision making gerne pflegt, zum handelnden und «befehlenden» Arzt muss bei solch gefährlichen Verläufen rasch und entschieden erfolgen. Dies schützt nicht nur den Patienten, sondern auch den Arzt vor Katastrophen und (wir sind zwar nicht in den USA) auch vor möglichen juristischen Folgen.
Dr. med. Edy Riesen
Ehemaliger Redaktor PHC, pensionierter Hausarzt
Hauptstrasse 100
CH-4417 Ziefen
edy.riesen[at]gmx.ch
1 Litschgi L. Der Arzt auf dem Sozius – tolerieren statt dirigieren. ­PrimaryCare. 2012;12(01):7–10.