Gerinnungshemmende Medikamente im Vorfeld operativer Eingriffe
Weglassen, weiterführen oder modifizieren?

Gerinnungshemmende Medikamente im Vorfeld operativer Eingriffe

Fortbildung
Édition
2020/05
DOI:
https://doi.org/10.4414/phc-f.2020.10210
Prim Hosp Care Med Int Gen. 2020;20(05):174-177

Affiliations
Klinik für Anästhesiologie, Intensiv-, Rettungs- und Schmerzmedizin, Kantonsspital St. Gallen

Publié le 05.05.2020

Viele Patientinnen und Patienten, denen ein operativer Eingriff bevorsteht, nehmen gerinnungshemmende Medikamente ein. Täglich stellt sich somit die Frage, ob diese abgesetzt, unverändert weitergeführt oder durch andere Substanzen ersetzt werden sollen.

Einführung

Während viele chronisch eingenommene Medikamente auch perioperativ unverändert eingenommen werden dürfen oder gar sollen, gilt dieser Grundsatz bei gerinnungshemmenden Substanzen nicht. Da sie ein weites Indikationsspektrum aufweisen, stellt sich die Frage nach dem Weglassen, Weiterführen oder ­Modifizieren der gerinnungshemmenden Dauertherapie sehr häufig. Dabei gilt, das thrombotische bzw. thromboembolische Risiko, das durch das Weglassen der gerinnungshemmenden Medikation steigt, gegen das Risiko einer relevanten Blutung, die durch das ­Weiterführen dieser Medikation verursacht oder verstärkt wird, abzuwägen.
Die meisten Empfehlungen basieren nicht auf randomisierten klinischen Studien. Die Festlegung des peri­operativen Vorgehens ist immer eine individualisierte Entscheidung, und ihr muss ein strukturiertes, nachvollziehbares und interdisziplinär anerkanntes Vorgehen zugrunde liegen. Am Kantonsspital St. Gallen ist dieses in der sogenannten «Gerinnungskarte» fest­gehalten, die unter der Bezeichnung «Thromboseprophylaxe und periinterventionelle antithrombotische Therapie» [1] auf der entsprechenden Internetseite heruntergeladen werden kann (kssg.ch/fuer-zuweiser/services/hilfsmittel) und auch ein regelmässiges Update erfährt. Die Abbildungen in diesem Artikel sind dieser «Gerinnungskarte» [1] entnommen. Sie sind dementsprechend als lokale Empfehlung zu verstehen, haben aber weit über das Kantonsspital St. Gallen hinaus Verbreitung gefunden.

Thrombozytenaggregationshemmer

Thrombozytenaggregationshemmer werden breit und häufig bei praktisch allen Krankheiten des arteriosklerotischen Formenkreises eingesetzt. Die Wirkung auf die Thrombozytenfunktion ist je nach Präparat unterschiedlich ausgeprägt, sie hält aber bei fast allen Substanzen auch nach deren Absetzen über mehrere Tage an.
Ob perioperativ ein Thrombozytenaggregationshemmer weitergegeben oder abgesetzt werden soll oder ob sich ein komplexeres Vorgehen aufdrängt, lässt sich anhand der Abbildung 1 entscheiden. Dabei wird das zerebro- und kardiovaskuläre thromboembolische Risiko in drei Klassen eingeteilt, nämlich tief bis mittel, hoch und sehr hoch. Patientinnen und Patienten ohne manifeste arteriosklerotische Erkrankung gehören der tiefsten Risikoklasse an. In dieser Patientengruppe sollen alle antithrombozytären Medikamente im Vorfeld einer Operation oder Intervention abgesetzt werden. Zur höchsten Risikoklasse gehören hingegen Patienten mit einem in den letzten zwölf Monaten durchgemachten akuten Koronarsyndrom (unabhängig von der Art der Behandlung), solche mit Koronarinterventionen im Rahmen einer stabilen Krankheit in den letzten sechs Monaten und Patienten mit zerebro­vaskulären Ereignissen im letzten Monat. Diese Patientinnen und Patienten bedürfen einer ­genauen und ­individualisierten Risikoabschätzung, wobei die verschiedenen chirurgischen, anästhesio­logischen und kardiologischen Aspekte gegeneinander abgewogen werden. In der mittleren Risikoklasse finden sich ­Patienten mit dokumentierten arteriosklerotischen Erkrankungen ausserhalb der Zeitfenster der Hoch­risiko­gruppe. In ähnlicher Art und Weise werden die verschiedenen Eingriffe und Interventionen aufgrund der Gefähr­lichkeit von allfälligen Blutungskomplika­tionen in verschiedene Risikoklassen eingeteilt. Besonders gefährlich sind dabei intrakranielle Eingriffe, Eingriffe an der Leber und der Wirbelsäule sowie ­Biopsien an ­Leber, Niere oder Schilddrüse (Abb. 1).
Abbildung 1: Periinterventionelles Management bei Patienten mit Thrombozytenaggregationshemmung [1].

Vitamin K-Antagonisten und direkte bzw. «neue» orale Antikoagulantien

Medikamente, die die plasmatische Gerinnung hemmen wie Vitamin-K-Antagonisten (VKA) und direkte bzw. «neue» orale Antikoagulantien (DOAC bzw. NOAC), werden zur Prophylaxe und Therapie der venösen thromboembolischen Erkrankungen und der ­Prophylaxe von Thromboembolien im Rahmen eines Vorhofflimmerns eingesetzt. Ausserdem sind VKA ein fester Bestandteil der Therapie nach mechanischem Herzklappenersatz. Analog zum oben beschriebenen Vorgehen bei Thrombozytenaggregationshemmern geht es auch beim Einsatz von VKA bzw. NOAC um eine Nutzen-Risiko-Abwägung.

Vitamin-K-Antagonisten

Vitamin-K-Antagonisten (vor allem das in der Deutschschweiz weit verbreitete Phenprocoumon [Marcumar®]) haben eine lange Wirkzeit. Entsprechend muss im Idealfall ca. zwei Wochen vor dem Eingriff entschieden werden, ob die Therapie weitergeführt, unterbrochen oder gar überbrückt werden muss. Viele kleine Eingriffe können unter fortgesetzter VKA-Therapie durchgeführt werden, so zum Beispiel praktisch alle zahnärztlichen Eingriffe oder die Implantation von Herzschrittmachern. Dabei soll ein INR an der unteren therapeutischen Grenze, also in der Regel 2,0, angestrebt werden. Erlaubt die Grösse des Eingriffes keine Durchführung unter fortgesetzter VKA-Therapie, muss das Medikament frühzeitig, in der Regel rund sieben Tage vor dem geplanten Eingriff, abgesetzt werden. Normalisiert sich der INR spontan nicht wie erwartet, kann ein bis zwei Tage vor dem Eingriff eine kleine ­Dosis (1 bis 2 mg) Vitamin K verabreicht werden. Eine überbrückende Therapie mit anderen gerinnungshemmenden Substanzen («Bridging») ist nach heutigem Kenntnisstand nur bei Hochrisikopatienten notwendig [2–4]. Diese definieren sich beim Vorhofflimmern aufgrund des CHA2DS2-VASc-Scores [2, 5]. Wir verwenden eine Grenze ≥6. Ist eine überbrückende Therapie angezeigt, soll diese in aller Regel mit der subkutanen Verabreichung von niedermolekularen Heparinen in therapeutischen Dosen erfolgen. Diese werden bei ­einem INR unter 2 begonnen und 36 bis 24 Stunden vor der Intervention abgesetzt.
Auch Patientinnen und Patienten mit mechanischen Herzklappen werden je nach Klappenart, Klappenposition und Begleiterkrankungen verschiedenen Risikoklassen zugeteilt. Patienten nach einem mechanischen Mitralklappenersatz bedürfen immer einer über­brückenden Therapie, während diese bei Patienten mit einem mechanischen Aortenklappenersatz nur beim Vorliegen weiterer Ri­sikofaktoren (zum Beispiel eingeschränkte linksventrikuläre Auswurfsleistung, stattgehabtes thrombotisches Ereignis etc.) notwendig ist (Abb. 2) [4].
Abbildung 2: Periinterventionelles Management bei Patienten unter oraler Antikoagulation (OAK). Modifiziert nach [1].
Einer ebenso sorgfältigen Risikoabwägung bedürfen Patientinnen und Patienten, die im Rahmen eines malignen Leidens ein venöses thromboembolisches Ereignis erlitten haben. Grundsätzlich empfehlen wir, operative Eingriffe in den ersten drei Monaten nach tiefer Beinvenenthrombose oder Lungenembolie nicht durchzuführen. Dieses Zeitfenster kann aber bei ­onkologischen Eingriffen nicht eingehalten werden, weshalb es hier einer interdisziplinären Besprechung bedarf. Im Einzelfall muss ein Cava-Filter eingesetzt werden.
Bei allen Patientinnen und Patienten, welche die Hochrisiko-Kriterien nicht erfüllen, soll von einer über­brückenden Therapie abgesehen werden. Im ambulanten Setting erübrigt sich in diesen Situationen die prä­operative Gabe von niedermolekularen Heparinen vollständig. Trotz unklarer Datenlage verabreichen wir diesen Patienten unter stationären Bedingungen niedermolekulare ­Heparine in prophylaktischen Dosen, analog zu allen anderen postoperativen Patienten.

«Neue» bzw. direkte orale Antikoagulantien

Vor allem in der Behandlung des Vorhofflimmerns ­haben sich in den letzten Jahren die «neuen» oralen Antikoagulantien (NOAC) sehr stark etabliert [6]. Gegenüber den Vitamin-K-Antagonisten haben sie den Vorteil, mit weniger intrazerebralen Blutungen ver­gesellschaftet zu sein [7].
Alle zurzeit auf dem Markt erhältlichen Substanzen haben relativ kurze Wirkzeiten von einem halben bis maximal einem Tag. Ihre Elimination ist aber unterschiedlich stark von der Nierenfunktion abhängig, was vor allem beim Einsatz von Dabigatran (Pradaxa®) eine sorgfältige Überprüfung der Retentionsparameter notwendig macht. Abhängig von der Gefährlichkeit allfälliger Blutungskomplikationen und der Nierenfunktion werden die Medikamente dieser Gruppe im Regelfall zwei bis vier Tage präoperativ abgesetzt. Eine überbrückende Therapie ist nach heutigem Erkenntnisstand unnötig und soll nicht durchgeführt werden (Abb. 3) [2].
Abbildung 3: Periinterventionelles Management bei Patienten unter neuen oralen Antikoagulantien (NOAK) [1].
Prof. Dr. Miodrag Filipovic
Klinik für Anästhesiologie, Intensiv-, Rettungs- und Schmerzmedizin
Kantonsspital St. Gallen
CH-9007 St. Gallen
miodrag.filipovic[at]kssg.ch
1 Filipovic M, Korte W, Rickli H. Thromboseprophylaxe und periinterventionelle antithrombotische Therapie (https://www.kssg.ch/fuer-zuweiser/services/hilfsmittel). 2019.
2 Doherty JU, Gluckman TJ, Hucker WJ, Januzzi JL, Jr., Ortel TL, Saxonhouse SJ, et al. 2017 ACC Expert Consensus Decision Pathway for Periprocedural Management of Anticoagulation in Patients With Nonvalvular Atrial Fibrillation: A Report of the American College of Cardiology Clinical Expert Consensus Document Task Force. Journal of the American College of Cardiology 2017;69(7):871–98.
3 Douketis JD, Spyropoulos AC, Kaatz S, Becker RC, Caprini JA, Dunn AS, et al. Perioperative Bridging Anticoagulation in Patients with Atrial Fibrillation. N Engl J Med. 2015;373(9):823–33.
4 Tomaselli GF, Mahaffey KW, Cuker A, Dobesh PP, Doherty JU, Eikelboom JW, et al. 2017 ACC Expert Consensus Decision Pathway on Management of Bleeding in Patients on Oral Anticoagulants: A Report of the American College of Cardiology Task Force on Expert Consensus Decision Pathways. J Am Coll Cardiol. 2017;70(24):3042–67.
5 Lip GY, Nieuwlaat R, Pisters R, Lane DA, Crijns HJ. Refining clinical risk stratification for predicting stroke and thromboembolism in atrial fibrillation using a novel risk factor-based approach: the euro heart survey on atrial fibrillation. Chest. 2010;137(2):263–72.
6 Kirchhof P, Benussi S, Kotecha D, Ahlsson A, Atar D, Casadei B, et al. 2016 ESC Guidelines for the management of atrial fibrillation developed in collaboration with EACTS. Eur Heart J. 2016;37(38):2893–962.
7 Ruff CT, Giugliano RP, Braunwald E, Hoffman EB, Deenadayalu N, Ezekowitz MD, et al. Comparison of the efficacy and safety of new oral anticoagulants with warfarin in patients with atrial fibrillation: a meta-analysis of randomised trials. Lancet. 2014;383(9921):955–62.