Erwachen aus dem Corona-Blues
Nun braucht es Taten

Erwachen aus dem Corona-Blues

Editorial
Édition
2020/06
DOI:
https://doi.org/10.4414/phc-f.2020.10252
Prim Hosp Care Med Int Gen. 2020;20(06):188

Affiliations
Chefredaktor Primary and Hospital Care; Leiter Chronic Care, Institut für Hausarztmedizin, Zürich

Publié le 02.06.2020

Wir erwachen aus der Krise, in die uns das COVID-19-Virus getrieben hat, aus der Bedrohung, aus der physikalischen Distanziertheit, aus dem Blues im öffentlichen, sozialen und kulturellen Leben.

In diesen Tagen gehen die meisten Leute wieder zum Normalbetrieb über, und mit Ausnahme von Grossanlässen ist fast alles wieder erlaubt. Wir erwachen aus der Krise, in die uns das COVID-19-Virus getrieben hat, aus der Bedrohung, aus der physikalischen Distanziertheit, aus dem Blues im öffentlichen, sozialen und kulturellen Leben. Dieses Erwachen geht den einen zu langsam – Betriebe, Sozialwerke und Wirtschaftsbosse stöhnen schon seit langem gut hörbar – und den anderen zu rasch. Virologen warnen vor der nächsten grossen Infektionswelle.
Über die Pandemie ist dermassen viel gesagt und geschrieben worden, dass wir alle übersättigt sind mit News (oder Fake News) darüber. Sogar das Danke-Sagen an alle, die sich so bewundernswert eingesetzt haben, hat sich inzwischen (leider) abgenutzt. Ich könnte also hier aufhören zu schreiben. Aber es bleiben doch noch ein paar Denkanstösse übrig, wenn wir schon von Erwachen reden.
Dank des rechtzeitigen und umfassenden Lockdowns sind wir gerade so an der grossen Katastrophe vorbeigeschrammt, da können wir dankbar sein. Hätten sich Behörden und Bevölkerung zögerlicher und leichtsinniger verhalten, so rechnen uns Epidemiologen vor, hätten wir nun überfüllte Intensivstationen und Leichenhallen. Ein gewisses Mass an Angst und Befürchtungen, was uns drohen könnte, war also notwendig und hilfreich. Umso stossender, wenn Verschwörungstheoretiker und Populisten ihr Süppchen mit der Angst der Leute kochen. Dazu gesellen sich die Krisengewinner und die ewigen Meckerer, was alles falsch lief und läuft. So bekommt die Plattitüde «Die Krise als Chance» eine ganz andere Bedeutung: Die Chance, schräge Ansichten zu propagieren. Seid doch still, Leute.
Natürlich hätten wir optimaler vorbereitet sein können. Von einem 24 Millionen Euro schweren Paket ­namens «Prepare», das seit 2014 die Reaktionen der ­europäischen Staaten auf eine Pandemie koordinieren sollte, haben wir nicht wirklich viel gemerkt. Zu panisch und unkoordiniert waren die Aktionen der ­einzelnen europäischen Länder zwischen Après-Ski, naiver Ignoranz und Ausgangssperre, sobald COVID-19 bei ihnen aufgetaucht war. In der Schweiz wurde in den letzten Jahren ebenfalls ein Pandemieplan entwickelt, nur mit der konkreten Vorbereitung und Material­beschaffung haperte es. Aber trotz gelegentlichem Hin und Her hat der Staat und seine Vertreterinnen und Vertreter in meiner Wahrnehmung effizient auf die Pandemie reagiert, da gibt es nichts zu kritteln.
Über die Lehren, die sich aus der Pandemie 2020 ziehen lassen, wird sicher noch unendlich vieles gesagt und geschrieben werden. Schliesslich sind wir alle ­davon betroffen, im tieferen Sinn des Wortes. Wir wollen Perspektiven entwickeln, wie wir ein nächstes Mal noch besser mit einer solchen Krise umgehen können. Das betrifft keineswegs nur gesundheitliche Aspekte. Während der Krise wurden zum Beispiel Pflegende, Kassiererinnen und Kleinkindererzieherinnen als ­systemrelevante Berufsleute wahrgenommen, und sind trotzdem so unterbezahlt. Und: Über 80% der Menschen, die sich gegenüber einer Ansteckung exponiert und uns durch die Krise getragen ­haben, sind Frauen. Das war schon im Mittelalter während der Pest-Epidemien so – haben wir seither nichts dazugelernt? Ein weiteres «Oh, vielen Dank an euch, Ladies!» reicht da wirklich nicht aus. Da braucht es ­Taten.
Prof. Dr. med. Stefan ­Neuner-Jehle
MPH, Institut für ­Hausarztmedizin
Pestalozzistrasse 24
CH-8091 Zürich
Stefan.Neuner-Jehle[at]usz.ch