Kein Algorithmus, keine Guidelines und keine Scores ersetzen die Beziehung
Die hausärztliche Grundversorgung ist auch in Zukunft notwendig und unersetzbar

Kein Algorithmus, keine Guidelines und keine Scores ersetzen die Beziehung

Themenschwerpunkt
Édition
2020/11
DOI:
https://doi.org/10.4414/phc-f.2020.10269
Prim Hosp Care Med Int Gen. 2020;20(11):349-351

Affiliations
Ehemaliger Hausarzt, Basel

Publié le 03.11.2020

Nach Abschluss meiner 31-jährigen Praxistätigkeit als Hausarzt habe ich das Bedürfnis, Veränderungen während dieser Zeit zu beschreiben und das Essentielle, das bleibt, zu reflektieren. Insbesondere hoffe ich, damit junge Ärztinnen und Ärzte zu ermutigen, sich für die Tätigkeit in der Grundversorgung zu entscheiden und Erkenntnisse zu vermitteln, die diesen Entscheid positiv beeinflussen können.

Klinische Ausbildung unabdingbar

Nie in Frage stand für mich, dass unabdingbare Voraussetzungen für eine erfolgreiche Hausarzttätigkeit eine gute medizinisch-klinische Grundausbildung, Weiterbildung und kontinuierliche Fortbildung sind. Dies bedeutet auch – insbesondere in der Tätigkeit als Grundversorger – Kenntnis der eigenen Grenzen zu haben und sich deren immer wieder bewusst zu sein, sowie die Bereitschaft zu haben, Unsicherheit zu zeigen und damit umzugehen [1].Enorm hilfreich für mich war dabei eine Gruppe von Hausärztinnen und Hausärzten, die sich über viele Jahre regelmässig traf und austauschte (Qualitätszirkel). Hauptthematik war medizinische Fortbildung, die relevant für uns Grundversorger war. Eingeleitet wurden die Treffen jeweils von einem critical incident reporting. Hier tauschten wir uns häufig auch über Unsicherheiten aus, die in der Grauzone zwischen richtig und falsch angesiedelt sind. Dabei entstand ein grosses Vertrauen in der Gruppe, das auch neu dazugestossene Kolleginnen und Kollegen rasch einschloss.

Beziehung und Respekt

Zusätzlich unabdingbare Voraussetzung für eine erfolgreiche Hausarzttätigkeit ist die Bereitschaft, den psychosozialen Belangen der Patientinnen und Patienten einen ­grossen Stellenwert beizumessen. Ich bin der festen Überzeugung, dass wir nur dadurch einer hilfesuchenden Person gerecht werden können. Das Besprechen von ­Alltagssorgen, Aussprechen von Anteilnahme, auf Wunsch beraten, allenfalls Zuwendung spenden – das alles sind wichtige und nicht wegzudenkende Teile unserer Arbeit (wenn dies auch von gewissen Kassen in Frage gestellt wird) [2]. Dies setzt die Bereitschaft voraus, eine Beziehung einzugehen, was wiederum bedeutet, dem Gegenüber eine respektvolle Haltung entgegenzubringen. Respekt bedeutet, sich für die Lebenssituation, die Haltung und das Krankheits- und Körper­konzept des Gegenübers zu interessieren und zu akzeptieren, dass diese oft nicht den ­eigenen entsprechen. Nicht nur Menschen mit Migrationshintergrund haben andere Krankheits- und Körperkonzepte als ich, auch bei Menschen in einer mit der meinigen vergleich­baren Lebenssituation kann dies beobachtet werden. Das Konzept der transkulturellen Kompetenz war dabei für mich sehr hilfreich [3]. Diese respektvolle Haltung und das individuelle Abwägen kann auch dazu führen, dass man in Konflikt mit Guidelines, Algorithmen oder Scores gerät. Um eine erfolgreiche Betreuung zu realisieren, muss der Respekt gegenüber der Person grösser als der Respekt gegenüber einer Guideline sein. Der Begriff der subjektiven Tatsache scheint mir diesen oft schwer auszuhaltenden Anteil unserer Tätigkeit hilfreich zu beschreiben [4]. Typisches Beispiel dafür ist die Fatigue und der ­Umgang damit. Balintgruppen waren mir eine grosse Hilfe bei immer wieder auftretenden Schwierigkeiten in diesem Bereich.

Notfallpraxen und Begleitung

Vielerorts entstanden in den letzten Jahren Walk-in- und Notfallpraxen, und die Notfallstationen der Spitäler beklagen eine übermässige Inanspruchnahme. Ein Teil dieser Entwicklung ist als Ausdruck von Angst und schwindender Kompetenz, mit einer harmlosen Störung umgehen zu können, zu sehen. Fraglos können derartige Institutionen klar umschriebene Probleme lösen, bei angstbedingten Störungen hingegen bieten Notfallbesuche oft lediglich vorübergehende Entlastung. Bei chronischen oder komplexen Leiden kann höchstens eine akute Verschlechterung angegangen werden. Die weitere Begleitung und Beratung hingegen ist dort nicht möglich. Dies kann nur in einer hausärztlichen Praxis dank einer oft langjährigen Arzt-Patienten-Beziehung gewährleistet werden.
Die Beziehung zu unseren Patientinnen und Patienten kann durch keine Notfallstation oder Walk-in Praxis ersetzt werden – sie bleibt das grundlegende und wohl wichtigste Therapeutikum der Grundversorgung.

Hausärztliche und spezialärztliche Versorgung

Seit Jahren nimmt die Zahl der jungen Hausärztinnen und Hausärzte nicht im notwendigen Mass zu. Das Verhältnis Grundversorger zu Spezialisten verschiebt sich immer weiter zu letzteren. Dies ist unter anderem Folge einer enormen Zunahme von Kenntnissen und Möglichkeiten. Die hohe Anzahl von Spezialistinnen und Spezialisten führt jedoch zu einer Fragmentierung der Medizin und damit auch der Behandlung. Folge davon kann eine Verzettelung der Verantwortung sein. Wenn niemand mehr die Gesamtschau über den Behandlungsprozess hat und sich dafür verantwortlich fühlt, ist die Gefahr von Fehl-, Unter- oder Überbehandlung gross [5]. So hilfreich und notwendig die Überweisung zu Abklärungen für unsere Patienten (und damit auch für uns Grundversorger) sind, so wichtig bleibt es, dass wir die Gesamtverantwortung behalten. Auch stellte ich in den letzten Jahren fest, dass ich häufiger mit Patienten zu tun hatte, die an «ihren unerfüllten Wünschen nach vollständiger Heilung oder ihren gescheiterten Lebensentwürfen» [6] litten. In diesen Situationen hilft ein Spezialist kaum weiter – es gilt, zusammen mit den Betroffenen diesen Lebensabschnitt zu gehen.

Schlussfolgerungen

Auch wenn der Zeitgeist die Tätigkeit und Bedeutung der hausärztlichen Grundversorgung eher in Frage stellt, ist für mich nach dem oben Ausgeführten die Hausarztmedizin auch in Zukunft die Basis der Gesundheitsversorgung. Nur wir Hausärztinnen und Hausärzte sind in der Lage, bei den zunehmend komplexeren Diagnostik- und Behandlungsmodalitäten, bei denen eine zunehmende Zahl von Beteiligten involviert ist, die Gesamtschau und damit den Überblick zu behalten und die Patienten entsprechend zu beraten und zu begleiten.
Im Laufe der Jahre traten bei mir an Stelle eines gewissen Aktivismus und des Gefühls, zu wissen, was zu tun sei, eher eine Zurückhaltung und ein Abwägen vor Anordnungen. Eine Diagnostik, eine Therapie, eine Einweisung bedeuten für die meisten Menschen mehr als ein administrativer Akt; sie sind ein Geschehen, das viele und oft starke Emotionen aufkommen lässt. Der Leitsatz «When nothing is the right thing to say» [7] fasst diese Haltung gut zusammen. Die Patientinnen und Patienten wollen nicht immer etwas verordnet oder angeordnet bekommen, sondern oft ist es für sie wichtig, dass sie ihr Anliegen deponieren können und wissen, dass es bei uns aufgehoben ist.
Neben allen medizinischen und psychosozialen Kompetenzen scheint mir eineGrundhaltung besonders wichtig zu sein: Denen eine Hilfe zu sein und den Rücken zu stärken, die es sonst nicht so einfach haben, sich durchzusetzen und zu ihren Rechten zu kommen. Diese Haltung des Engagements wird am Treffendsten mit dem englischen Begriff commitment bezeichnet. Commitment ist am ehesten im Bereiche der health ­advocacy, wie aus dem Lernzielkatalog für die Weiter­bildungsprogramme bekannt, anzusiedeln, geht aber ­darüberhinaus, indem es eine Haltung bezeichnet. Dabei geht es nicht darum, grenzenlos für die Patienten da zu sein. Sich abzugrenzen ist notwendig und wichtig. Es scheint mir jedoch, dass in den letzten Jahren der Entwicklung dieser Fähigkeit mehr Gewicht bei­gemessen wurde als der Fähigkeit, commitment zu ­zeigen.
Demgegenüber möchte ich abschliessend nochmals die zentrale Rolle der Beziehung zu unseren Patienten und des commitments ihnen gegenüber betonen. Die Fähigkeit, Beziehungen aufzubauen muss daher genauso erlernt und weiterentwickelt werden wie das stetige à jour sein im medizinisch-klinischen Bereich.
Dr. med. Daniel Gelzer
Facharzt für Allgemeine Innere Medizin
Efringerstrasse 96
CH-4057 Basel
d.gelzer[at]bluewin.ch
1 Langewitz W. Was bedeutet Psychosomatik ­in der Allgemein­medizin? Prim Hosp Care Allg Inn Med. 2019;19(08):225–7.
2 Adler RH. Gegen den Versuch, das Arzttum zu zerstören. Schweiz Ärzteztg. 2018;99(32):1036–8.
3 Langewitz W. Vortrag 2019.
4 Kunz L, Dominicé Dao M, Schuster S, Bonvin R, Biller-Andorno N, von Känel R, et al. Für eine qualitativ hochstehende Medizin? Swiss Med Forum. 2019;19(4748):775–80.
5 Balint M. The doctor, his patient, and the illness. 2nd ed. London: Pitman medical; 1964.
6 Bieri M. Der Zeitgeist als Ursache. Schweiz Ärzteztg. 2017;98(49):1661–3.
7 Morgan M. When nothing is the right thing to say. BMJ 2020; 368:m574.