Bekämpfung von Antibiotikaresistenzen in der Schweiz
Echtzeit-Resistenzstatistik

Bekämpfung von Antibiotikaresistenzen in der Schweiz

Fortbildung
Édition
2020/11
DOI:
https://doi.org/10.4414/phc-f.2020.10319
Prim Hosp Care Med Int Gen. 2020;20(11):352-355

Affiliations
a Schweizerisches Zentrum für Antibiotikaresistenzen (ANRESIS)1, Institut für Infektionskrankheiten, Universität Bern
b Departement für Allgemeine Innere Medizin, Inselspital, Universitätsspital Bern, Universität Bern
* Für das Core-Entwicklerteam: Brugger S.D., Frey P.M., Steiner F., van der Weg L.M.

Publié le 03.11.2020

Dank der neuen INFECT App mit Daten des Schweizerischen Zentrums für Anti­biotikaresistenzen erhalten Ärztinnen und Ärzte einen Überblick über die aktuelle Resistenzsituation und werden bei der Therapieauswahl unterstützt.

Multiresistente Bakterien kennen keine Landesgrenzen und wurden im Bericht «Biologische Risiken Schweiz» der eidgenössischen Fachkommission für biologische Sicherheit und Umwelt vom November 2019 als grösstes biologisches Sicherheitsrisiko in der Schweiz bezeichnet. Durch einen angemessenen Umgang mit Antibiotika kann allerdings die weitere Ver­breitung resistenter Bakterien verlangsamt werden. Die interaktive Applikation INFECT (INterface For Empirical antimicrobial ChemoTherapy), die vom Verein ­INFECT in Zusammenarbeit mit dem Schweizerischen Zentrum für Antibiotikaresistenzen (ANRESIS) und der Klinik für Allgemeine Innere Medizin des Inselspitals als Open-Source-Lösung entwickelt wurde, will mit seinen Echtzeit-Resistenzdaten einen Beitrag zur korrekten Antibiotikatherapie leisten.

Antibiotikaresistenzen – ein globales Problem

In Europa sterben jährlich über 30 000 Menschen durch Infektionen mit antibiotikaresistenten Bakterien [1]. Besonders betroffen sind schwerkranke und immungeschwächte Personen, und Personen mit vorgängigen Antibiotikatherapien. Infektionen mit resistenten Erregern machen den Einsatz von Reserveantibiotika oder die Kombination mehrerer Antibiotika gleich­zeitig notwendig. Die Behandlungskosten sind in solchen Fällen höher, nicht nur aufgrund der höheren ­Medikamentenkosten, sondern auch bedingt durch teure Isolationsmassnahmen und längere Hospitalisationsdauer. Kritisch wird es, wenn die Bakterien über Resistenzmechanismen gegen verschiedene Antibiotikaklassen verfügen, wobei man von multiresistenten Bakterien spricht. Ein Beispiel sind Extended Spectrum Betalactamase (ESBL) produzierende Escherichia coli: Invasive Infektionen mit diesen Erregern können oft nur durch Reserveantibiotika wie Carbapeneme behandelt werden. In Indien, Italien, Griechenland und Zypern werden, bedingt durch den vermehrten Einsatz von Carbapenemen als Reserveantibiotika, nun jedoch zunehmend Infektionen mit Carbapenem-resistenten Bakterien beobachtet, die kaum mehr behandelt werden können. Die resistenten Erreger kolonisieren oder infizieren Touristen und in besonderem Masse auch «Medizintouristen», die für günstigere Operationen in diese Länder reisen, und verbreiten sich somit über die ganze Welt.

One Health in der Strategie Antibiotika­resistenz Schweiz (StAR)

Neben der globalen Mobilität («One World»), spielen viele weitere Mechanismen in der Verbreitung der Antibiotikaresistenzen eine wichtige Rolle (Abb. 1). Deshalb haben sich 2015 das Bundesamt für Gesundheit (BAG) sowie weitere Bundesämter aus den Bereichen Lebensmittelsicherheit Landwirtschaft und Umwelt in der Strategie Antibiotikaresistenz Schweiz (StAR) zusammengeschlossen, um gemeinsam in einem «One Health»-Ansatz dieses wichtige Problem anzugehen. StAR definiert Handlungsfelder von der Überwachung über die Prävention bis hin zum sachgemässen Einsatz von Antibiotika, der Resistenzbekämpfung, Forschung und Entwicklung, Kooperation sowie der Information und Bildung. Dazu gehört das propagieren von Impfungen zur Verhütung von viralen und bakteriellen ­Infektionen, das Erarbeiten von Guidelines bezüglich Abgabe, Verschreibung und Anwendung von Antibiotika, das Unterstützen von Betrieben mit andauernd hohem Antibiotikaverbrauch zur Senkung dessen, Massnahmen zur Reduktion der Verbreitung in Lebensmittelketten und im Abwasser, das Optimieren von Betriebsabläufen in Tierhaltung sowie die Kooperation mit anderen Ländern und das Unterstützen von Entwicklungsländern im Bereich Antibiotikaresistenz. Die einzelnen Massnahmen sind im StAR-Strategie­dokument zu finden (star.admin.ch).
Abbildung 1: Ursachen und Übertragungswege von antibiotikaresistenten Bakterien [2].
1) Übertragung in Gesundheitseinrichtungen. 2) Übertragung von Menschen auf Tiere oder umgekehrt. 3) Kontamination von Lebensmitteln. 4) Verbreitung durch Tourismus und Lebensmittelimporte. 5) Übertragung in Gewässern. 6) Verbreitung durch das Ausbringen von Tierdünger (Gülle).
Nachdruck mit freundlicher Genehmigung von CiS (Communication in Science) und Schweizerische Eidgenossenschaft.
Auch in der Schweiz nehmen gewisse Antibiotika­resistenzen kontinuierlich zu, während bei gewissen Resistenzen aber auch ein gegenläufiger Trend beobachtet wird. Insgesamt rechnen wir in der Schweiz mit jährlich knapp 300 durch Antibiotikaresistenzen bedingten Todesfällen pro Jahr [3].
Für zahlenmässig am meisten dieser tödlichen Infektionen sind ESBL-produzierenden Escherichia coli verantwortlich, auch, da E. coli zu den häufigsten Infektionserregern gehören, sowohl im ambulanten, als auch im stationären Bereich (häufig wird die Resistenz gegenüber Cephalosporinen der dritten Generation, z.B. Ceftriaxon, als Surrogat für ESBL-Produktion verwendet, auch wenn in 5–10% dieser Isolate andere Resistenz­mechanismen wie z.B. AmpC vorliegen können). Diese ­Resistenz hat sich in den letzten zehn Jahren in etwa verzehnfacht (von 1% auf 10%), daneben ist bei E. coli aber auch die kontinuierliche Zunahme der Fluoroquinolon-Resistenz beunruhigend (Abb. 2), weshalb Fluroquinolone dementsprechend zurückhaltend und zum Beispiel für die unkomplizierte Zystitis nicht mehr eingesetzt werden sollten [4]. Während in der Schweiz Resistenzen bei gramnegativen Bakterien wie E. coli stark zunehmen, kann über einen Rückgang von Infektionen mit Methicillin-resistenten Staphylococcus aureus (MRSA) berichtet werden (Abb. 2). Diese Abnahme ist vor allem auf einen Rückgang der «Spital-MRSA» (hospital-aquired MRSA, HA-MRSA) zurückzuführen, wobei hier den erzielten Fortschritten in der Infektprävention, wie frühzeitiger Detektion und Isolation infizierter oder kolonialisierter Patienten sowie verbesserter Händehygiene, eine wichtige Rolle zukommt [5, 6].
Abbildung 2: Resistenztrends multiresistenter Mikroorganismen in der Schweiz (www.anresis.ch ). Dargestellt werden die [%] Anteile nicht empfindlicher Mikroorganismen ­(Linien) sowie die entsprechenden 95% Konfidenzintervalle (semitransparente ­Flächen) von Fluoroquinolonresistenten Escherichia coli (FQR- E.coli ), Extended-spectrum Cephalosporin-resistenten Escherichia coli (ESCR- E.coli , Surrogat für ESBL- E.coli ), Extended-spectrum Cephalosporin-resistenten Klebsiella pneumoniae (ESCR-KP, Surrogat für ESBL-KP), Penicillin-resistenten Streptococcus pneumoniae (PNSP) und Vancomycin-resistenten Enterokokken (VRE).
Erste Erfolge der Aufklärung und Präventionsmass­nahmen zeigen sich im abnehmenden Einsatz von Antibiotika im Veterinärwesen. Von 2014 bis 2017 konnte der Einsatz um 29% gesenkt werden, damit liegt die Schweiz in diesem Bereich im unteren europäischen Mittelfeld [7].
Detaillierte Analysen der wichtigsten Resistenztrends finden Sie in einem Swiss Medical Forum-Artikel [8] und im Swiss Antibiotic Resistance Report (anresis.ch/publication-category/anresis-publications).

Überwachung der Resistenzsituation in der Schweiz

Zur Überwachung der Resistenzsituation in der Schweiz wurde bereits in den Jahren 2000–2004 im Rahmen des nationalen Forschungsprojekts NRP49 eine repräsentative, schweizweite Datenbank zur Erfassung der Antibiotikaresistenzen und des Antibiotikakonsums aufgebaut. Diese Datenbank ist seither das zentrale ­Element des Schweizerischen Zentrums für Antibio­tikaresistenzen (ANRESIS) und damit auch ein zentrales Element von StAR und wird im Auftrag des BAG vom Institut für Infektionskrankheiten der Universität Bern weitergeführt.
ANRESIS sammelt und analysiert anonymisierte Resistenzdaten von 30 Mikrobiologielabors im Human- und neun Labors im Veterinärbereich. In der Humanmedizin liegt die Abdeckung im stationären Bereich bei knapp 90%; im ambulanten Bereich bei etwa 40%. Die aktualisierten Daten können jederzeit auf anresis.ch mittels interaktiver Datenbankabfrage abgerufen werden. Auf der Website sind zudem interaktive Grafiken der wichtigsten, Resistenzentwicklungen (Abb. 2) sowie alle ANRESIS Publikationen abrufbar.
Neben Resistenzdaten sammelt ANRESIS aggregierte Antibiotikaverbrauchsdaten von 70 Spitälern und über 1000 Apotheken. Die analysierten Daten werden in Form von Feedback- und Benchmarkreports an die Spitäler zurückgegeben. Sie ermöglichen das Erkennen von überproportionalem Antibiotikaverbrauch und helfen, Ziele für die lokalen Antibiotic Stewardship-Programme (s. Kasten) zu definieren.

Antibiotic Stewardship

Unter Antibiotic Stewardship wird das Optimieren der Verwendung und Verschreibung von Antibiotika verstanden, mit dem Ziel, die Entwicklung resistenter Bakterien zu vermindern [9]. Hauptelemente von Antibiotic Stewardship-Programmen sind:
• Analyse von Antibiotikaresistenztrends
• Implementieren von lokalen und nationalen Guidelines
• Prospektives Audit und Rückmeldungen
– Einschränkung in der Verordnung für Reserveantibiotika (z.B. nur nach Rücksprache mit Kaderarzt oder Infektiologe)
• Optimierung der Therapie
– Dauer nur so lange wie nötig
– Wechsel von intravenöser auf orale Applikation sobald als möglich
– Automatische Warnung, wenn sich das antibiotische Spektrum von mehreren Antibiotika überlappt
– Automatischer Therapiestopp nach 48-72 Stunden zur Reevaluation der Therapie anhand des mikrobiologischen Befundes
• Organisation in einem multidisziplinären Team aus den Bereichen Infektiologie, Mikrobiologie, Pharmazie und Pflege

INFECT zeigt die wichtigsten Resistenz­daten auf einen Blick

Mit den Zielen, Resistenzdaten übersichtlich und interaktiv darzustellen und damit insbesondere klinisch tätige Ärztinnen und Ärzte bei der Wahl einer optimalen antibiotischen Therapie zu unterstützen, wurde die Applikation INFECT entwickelt. Die App ist sowohl als Web-Version (infect.info) wie auch als mobile App («INFECT by anresis» im Google Play Store und Apple App Store) kostenlos verfügbar.
In einer Kreuztabelle sind für die häufigsten Bakterienspezies deren Empfindlichkeit gegenüber dem entsprechenden Antibiotikum angegeben (Abb 3). Farbverläufe von grün (100% Empfindlichkeit) nach hellrot (0% Empfindlichkeit) und Grösse der Punkte in Abhängigkeit der Anzahl Proben vereinfachen die Interpretation der Resistenzlage. Dank den Möglichkeiten nach Region, ambulant oder stationär entnommenen Proben sowie Altersklassen zu filtern, kann die Darstellung an spezifische Fragestellungen angepasst werden. Die Applikation erlaubt zudem, nach einzelnen Bakterienspezies, nach der Gram-Färbung, Form und Metabolismus der Bakterien, Antibiotikaklassen sowie nach einzelnen Wirkstoffen zu filtern. Die zugrundeliegenden Daten stammen von ANRESIS und werden monatlich aktualisiert.
Abbildung 3: Die App INFECT by anresis existiert als Web-Applikation (www.infect.info ) und als mobile App (Download via Google Play Store und Apple App Store). Sie zeigt die aktuellen Resistenzdaten (Punkte) und enthält nationale Guidelines (blaues Panel rechts) der Schweizerischen Gesellschaft für Infektiologie (SSI). Konfidenzintervall und Probeanzahl werden beim Anwählen der Punkte angezeigt (links unten).
Da gute Sensibilitätsdaten für eine Substanz nicht unbedingt eine gute Wahl in der klinischen Medizin implizieren, wurden zur besseren Anwendbarkeit – zum Beispiel auch in der Grundversorgung – und zur Optimierung der empirischen Therapien die nationalen Guidelines der Schweizerische Gesellschaft für Infektiologie (SSI) in die Applikation integriert (Abb. 3). Sie beschreiben Erst- und Zweitwahlantibiotika, sowie deren übliche Dosierungen und Anwendungsdauer bei Kindern und Erwachsenen. Beim Anwählen einer Guideline werden die relevanten Bakterien und die zur Therapie vorgeschlagenen Antibiotika hellblau markiert. SSI-Guidelines sind für die häufigsten bakteriellen Infektionskrankheiten verfügbar und werden kontinuierlich erweitert (ssi.guidelines.ch); neue SSI-Guidelines werden laufend in INFECT integriert (s. Kasten).

SSI Guidelines

Die Schweizerische Gesellschaft für Infektiologie (SSI) entwickelt und aktualisiert infektiologische Guidelines durch Evaluation internationaler Guidelines und deren Anpassung an die nationale Resistenzsituation und anderen spezifischen Bedingungen in der Schweiz. Jede Guideline wird durch ein individuelles Autorenteam geschrieben und revidiert und nach Möglichkeit mit den entsprechenden weiteren Fachgesellschaften abgestimmt. Bemerkungen zu SSI Guidelines, Vorschläge für zukünftige Guidelines oder auch die Mitarbeit an spezifischen Guidelines sind erwünscht und können der SSI direkt mitgeteilt werden.
Dank dem modularen Aufbau der Applikation kann diese nach Bedarf angepasst und erweitert werden. Seit kurzem steht zudem auch «INFECT VET by anresis», eine Version mit veterinärmedizinischen Daten zur Verfügung (vet.infect.info).
Die Applikation INFECT fördert somit einen optimierten Einsatz von Antibiotika und kann damit einen wichtigen Beitrag zur Verminderung von Antibiotikaresistenzen und zur Verbesserung der Patientensicherheit in der Schweiz leisten. Rückmeldungen zu INFECT sind jederzeit willkommen (E-Mail an info[at]infect.info) und leisten einen wertvollen Beitrag zur Weiterentwicklung der Applikation.

Fazit für die Praxis

• Antibiotikaresistenzen nehmen weltweit zu und führen zu erhöhter Morbidität, Mortalität und Kosten.
• Sachgemässer Einsatz von Antibiotika hilft die Entwicklung von Antibiotikaresistenzen zu vermindern.
• Das Schweizerische Zentrum für Antibiotikaresistenzen (ANRESIS) sammelt und analysiert Daten zur Resistenzsituation und zum Antibiotikaverbrauch in der Schweiz und stellt diese interessierten Personen in aggregierter Form zur Verfügung.
• Benchmarking- und Feedbackreports von ANRESIS sind ein wichtiges Element von ­Antibiotic Stewardship-Programmen.
• Die INFECT-Applikation stellt Resistenzdaten interaktiv dar und unterstützt mittels implementierter Guidelines Ärztinnen und Ärzte bei der optimalen Wahl der antibiotischen Therapie.
Luzia Renggli
PhD Studentin, Pharmazie
Friedbühlstrasse 51
CH-3010 Bern
luzia.renggli[at]ifik.unibe.ch
1 Cassini A, et al. Attributable deaths and disability-adjusted life-years caused by infections with antibiotic-resistant bacteria in the EU and the European Economic Area in 2015: a population-level modelling analysis. The Lancet Infectious Diseases. 2019;19(1):56–66.
3 Gasser M, et al. Attributable deaths and disability-adjusted life-years caused by infections with antibiotic-resistant bacteria in Switzerland. The Lancet Infectious Diseases. 2019;19(1):17–8.
4 SSI. Guidelines Harnwegsinfekte. 2020; Available from: https://ssi.guidelines.ch/guideline/2981#fn-11522-4.
5 Knight GM, EL Budd, JA Lindsay. Large mobile genetic elements carrying resistance genes that do not confer a fitness burden in healthcare-associated meticillin-resistant Staphylococcus aureus. Microbiology. 2013;159(Pt 8):1661–72.
6 Landelle C, K Marimuthu, S Harbarth. Infection control measures to decrease the burden of antimicrobial resistance in the critical care setting. Curr Opin Crit Care. 2014;20(5):499–506.
7 European Medicines Agency and E.S.o.V.A. Consumption. Sales of veterinary antimicrobial agents in 31 European countries in 2017. 2019; Available from: https://www.ema.europa.eu/en/documents/report/sales-veterinary-antimicrobial-agents-31-european-countries-2017_en.pdf.
8 Gasser M, J Schrenzel, A Kronenberg. Aktuelle Entwicklung der Antibiokaresistenzen in der Schweiz. Swiss Medical Forum. 2018(12.03.20).
9 CDC. The Core Elements of Hospital Antibiotic Stewardship Programs: 2019.pdf>. 2019 13.03.2020]; Available from: https://www.cdc.gov/antibiotic-use/core-elements/hospital.html.