Auf unserer Reise erhalten wir einen Einblick in die Grundversorgung in Guatemala und werden einmal mehr mit den kontroversen Fragen rund um die internationale Entwicklungszusammenarbeit konfrontiert.
Nach drei ermüdenden Assistenzjahren in den bürokratischen Spitälern der Schweiz haben wir uns auf eine Reise durch Mittel- und Südamerika begeben, die uns vom sozialistischen Kuba, durch den kapitalistischen Süden Mexikos, in die abgelegensten Dörfer in den guatemaltekischen Bergen, durch das touristische Paralleluniversum von Belize, über das gefürchtete El Salvador, weiter ins in der Zeit zurückgebliebene Bolivien und nach Peru führte. Dabei besuchten wir zwei aus der Schweiz koordinierte Projekte im Bereich der internationalen Entwicklungszusammenarbeit, Gesundheitseinrichtungen in den verschiedenen Ländern und hospitierten in einem Spital im Amazonasgebiet. Konfrontiert mit solchen Eindrücken kommt man nicht daran vorbei, sich einmal mehr mit den augenscheinlichen Unterschieden in der globalen Verteilung der Ressourcen und den kontroversen Fragen rund um die internationale Entwicklungszusammenarbeit auseinanderzusetzen.
Neue Hoffnung in Guatemala
Nach einem Monat in Kuba, dessen sogenannt sozialistisches System uns gleichermassen inspiriert wie desillusioniert zurücklässt, erreichen wir den Süden Mexikos, wo wir uns intensiv um das Erlernen der spanischen Sprache bemühen. Wir sind hoch motiviert, denn nur einen Monat später treffen wir zwei Schweizer Hausärzte des Vereins PRO INDÍGENA und reisen mit ihnen und einer Gruppe lokaler Mitarbeiter nach Chacula in Guatemala, nahe der mexikanischen Grenze. Das Dorf wurde in den 1990er-Jahren von Guatemaltek/-innen gegründet, die nach ihrer Flucht vom Bürgerkrieg in ihr Heimatland zurückgekehrt waren und trägt eigentlich den viel passenderen offiziellen Namen «Nueva Esperanza» (neue Hoffnung). Hier endet die asphaltierte Strasse und in der folgenden Woche verbringen wir viel unbequeme Zeit im Toyota Hilux der Organisation, um die teils auf fast 3000 m.ü.M. gelegenen Dörfer der Gegend zu besuchen. Häufig fahren wir im Schritttempo, da die Strasse dermassen viele Schlaglöcher hat und immer wieder staunen wir, welche Steigung ein solches Auto zu überwinden vermag. Die Menschen sind grösstenteils indigen (das heisst, sie stammen von den verschiedenen Ethnien der Mayas ab, die den Kontinent schon Jahrtausende vor dem Eintreffen der Spanier besiedelten), sprechen indigene Sprachen und häufig kaum Spanisch, leben von der Landwirtschaft oder migrieren in die USA.
Basismedizinische Versorgung
Von Chacula aus operiert das Team um Dr. Aquino, einem mexikanischen Arzt, der sich seit Jahrzehnten für die indigene Bevölkerung einsetzt. Eines der Hauptziele von PRO INDÍGENA ist die Unterstützung und Finanzierung des durch ihn geleiteten Netzwerkes von Gesundheitspromotor/-innen, Dentalpromotor/-innen und Hebammen (Abb. 2). Diese ehrenamtlich arbeitenden Personen, die hauptberuflich sonst anderen Tätigkeiten nachgehen (z.B. Landwirt/-in), erhalten regelmässig Schulungen, damit sie die häufigsten Krankheiten erkennen, behandeln und dadurch eine minimale medizinische Versorgung ihres Dorfes gewährleisten können. Derartige Strukturen werden in vielen ressourcenarmen Ländern angewandt, wo Ärztinnen und Ärzte rar sind.
Medizinische Probleme, die hier bestehen, sind nebst den üblichen Krankheiten wie Atemwegsinfekte, Durchfall- und Parasitenerkrankungen auch Mangelernährung (vielmehr durch unzureichende Nahrungsvielfalt als durch Kalorienmangel) sowie ungewollte Schwangerschaften bei Jugendlichen. Es kommt vor, dass Mädchen bereits mit 13–14 Jahren schwanger werden und in ihrem Leben bis zu zehn Kinder gebären.
Lernen bei Kerzenschein
Wenn es das Budget von PRO INDÍGENA zulässt, werden weitere Projekte finanziert. So gilt es aktuell verschiedene Gemeinden zu besuchen, die Unterstützung beim Bau einer Wasserversorgung wünschen. In einem der Dörfer versiegt zum Beispiel die Quelle in der Trockenzeit und dann muss man zu Fuss oder mit dem Esel zum Nachbarsdorf gehen, das eine Fussstunde entfernt ist, um Wasser zu holen. Als wir nach der Besprechung zum Essen eingeladen sind und an der braun-grünen Pfütze vorbei gehen, wo Frauen noch versuchen, das letzte Bisschen Wasser abzuschöpfen, um nicht wieder zwei Stunden marschieren zu müssen, vergeht uns etwas der Appetit. Es gibt Suppe.
Besonders beieindruckend ist aber, selbst unter diesen widrigen Bedingungen Menschen wie Juan zu treffen. Er ist ein junger Familienvater, der PRO INDÍGENA um ein Stipendium für das Krankenpfleger-Studium in der nächstgelegenen Stadt ersucht, die zwar in Luftlinie sehr nahe, aber trotzdem drei Autostunden entfernt liegt. Er legt bereits in der Morgendämmerung den Weg zur Wasserquelle zwei Mal zurück, denn die 80 Liter Wasser pro Tag, die er für Familie und Tiere benötigt, lassen sich nicht auf einmal tragen. Danach schlägt er Feuerholz, bestellt das Feld und versorgt die Tiere. Lernen muss er in der Nacht bei Kerzenlicht, für Schlaf bleibt wenig Zeit übrig. Es stimmt uns nachdenklich, zu sehen, wieviel geistiges Potential brach liegt, weil Menschen mehrere Stunden am Tag mit Tätigkeiten verbringen müssen, die bei uns kaum eine Sekunde daueren – wie das Öffnen und Schliessen des Wasserhahns zum Beispiel. Juan konnte das Stipendium zugesagt werden.
Tut man Gutes?
Die Bemühungen vieler Organisationen in der internationalen Entwicklungszusammenarbeit – mögen sie noch so edel, sinnvoll und unterstützenswert klingen – gilt es, kritisch zu hinterfragen. Stecken dahinter nicht oft persönliche, religiöse, politische oder wirtschaftliche Interessen? Und wenn ja: Inwiefern ist dies problematisch, wenn der Nutzen überwiegt? Nützen sie überhaupt oder schaden sie vielleicht sogar? Sollten wir uns überhaupt in die Angelegenheiten anderer Länder einmischen? Solche Fragen sind bei der Arbeit in diesem Bereich allgegenwärtig.
Dass Menschen das Leben erleichtert und ihnen ermöglicht wird, ihr Potential zu entfalten, wenn grundlegende Bedürfnisse wie eine Wasserversorgung sichergestellt werden, steht eigentlich ausser Frage. Doch auch hier steht man schnell vor der Gefahr einer postkolonialen Bevormundung im Sinne von: «Ich weiss schon, was für euch gut ist». PRO INDÍGENA begegnet diesem Problem, indem erstens sämtliche Aktivitäten vom Team vor Ort geplant und in Eigenregie durchgeführt werden. Und zweitens ausschliesslich Projekte unterstützt werden, die die Bevölkerung selbst hervorbringt. Möchte ein Dorf beispielsweise einen Wassertank bauen, muss ein detailliertes Gesuch mit genauer Auflistung aller Materialien und einem Bauplan vorgewiesen sowie der Tank (unter Anleitung eines lokalen Wasserbauingenieurs) selbst gebaut werden (Abb. 1). Die schweizerische Arbeit beschränkt sich zu einem Grossteil auf das Zurverfügungstellen der Gelder und die Supervision. Das stellt die Eigenmotivation und das Empowerment sicher, denn so mancher europäischer Brunnen ist in fernen Landen schon versiegt, da er gar nicht im Sinne der Bevölkerung war oder niemand gelernt hatte, ihn zu unterhalten.
Der Stellenwert der Medizin
Beachtlich ist auch die Arbeit der Dentalpromotor/-innen: In Workshops haben sie gelernt, Zähne zu ziehen, einfache Füllungen zu machen und teils sogar Prothesen anzufertigen. Dieses Jahr wollen sie mit mobiler Zahnarztausrüstung systematisch alle Schulkinder der Region untersuchen und behandeln (Abb. 3). Komplexer als solche technischen Fertigkeiten in Workshops zu erlernen, gestaltet sich die Ausbildung der Gesundheitspromotor/-innen, wo Menschen aus einem bildungsfernen Umfeld mit einer solch komplexen Materie wie der Medizin betraut werden müssen. Während die fachlichen Grundlagen für ihre präventive Arbeit relativ leicht vermittelt werden können, fehlt ihnen – in der Natur der Sache liegend – in der klinischen Tätigkeit häufig eine ausreichende Ausbildung in Anamnese und Untersuchung, sowie die Supervision durch eine erfahrene Fachkraft. Der allgemeinen Erwartung der Patient/-innen nachkommend, verschreiben sie gerne grosszügig Medikamente, wozu natürlich auch Antibiotika gehören. Diese kann man übrigens fast auf dem ganzen Kontinent rezeptfrei kaufen und tut dies nicht selten, indem man anstatt einer ganzen Packung, nur so viele einzelne Tabletten kauft, wie man halt gerade bezahlen kann – ein Albtraum in Anbetracht des globalen Resistenzproblems. Und wenn man die Promotor/-innen fragt, was ihnen für ihre Arbeit fehlt, meinen einige: Ein Ultraschall-Gerät, ein Röntgengerät, ein Labor, etc. Der Wunsch nach Medikation seitens der Patient/-innen und die Flucht in technische Hilfsmittel seitens der Behandelnden: Ein offenbar universelles Verhalten im Gesundheitswesen.
Doch auch wenn wir es als Ärztinnen und Ärzte nicht gerne hören, zeigt dieser Projektbesuch wieder einmal, dass es vielmehr grundlegende Dinge, wie eine funktionierende Wasserversorgung, Hygiene und ein gesunder Lebensstil, als die eigentliche medizinische Behandlung sind, die den entscheidenden Einfluss auf die Gesundheit der Menschen haben. Dort wie hier.
Danksagung
Wir danken Dr. med. Bernhard Grob, Dr. med. Daniel Widmer und dem lokalen Team herzlich, dass wir sie auf ihrer Supervisions-Reise begleiten durften.