Welche Spuren möchten wir hinterlassen?

Auf Spurensuche

Reflexionen
Édition
2021/07
DOI:
https://doi.org/10.4414/phc-f.2021.10362
Prim Hosp Care Med Int Gen. 2021;21(07):240

Affiliations
Chefredaktor Primary and Hospital Care; Leiter Chronic Care, Institut für Hausarztmedizin Zürich

Publié le 06.07.2021

Archäologen lesen aus Fragmenten und Mauerresten, wie vergangene Gemeinschaften lebten. Kriminologen spüren verräterische DNA-Spuren von Verbrechern auf. Infektionen hinterlassen in Form von Antikörpern Spuren in unserem Immunsystem. Kommen Sie mit auf eine Spurensuche.

An Spuren zu denken, hat so etwas herrlich beschwingtes und leichtfüssiges: Mit Schwung legen wir eine elegante Skispur in den frisch verschneiten Berghang, mit unbeschwerter Heiterkeit setzt der entspannte Strand­spaziergänger seine Fusspuren in den Sand, nur um sie von der nächsten Welle wieder verwischt zu sehen. Der übermütige Teenager hinterlässt eine gewagte Bremsspur auf dem Asphalt: «Seht her, was ich kann!»
Spuren finden sich auch in der Landschaft, wo früher Gletscher lagen und Flüsse rauschten. Spuren der Zeit, in Felsen oder in Gesichter gezeichnet, erzählen Geschichten über vergangene Ereignisse. In einem Gesicht können wir die Spuren von guten Lebensjahren lesen oder aber erlittene Sorgen, Ängste und Krankheiten. Manche versuchen, Spuren mit Schreiben zu hinterlassen, von Tagebüchern über Gedichte bis zu ­Romanen. Biografen suchen nach Spuren, um die ­Wesensart und die physische Präsenz einer Person aus der Vergangenheit zu erfassen. Spuren aus der Vergangenheit lassen uns auch in der Gegenwart nicht kalt, und Historiker machen diese Spurensuche zu ihrem Beruf, ihrer Berufung.
Spuren geben auch Sicherheit und Orientierung. Das haben wir schon als Kleinkinder gelernt: Mit einer Brotkrumenspur finden Hänsel und Gretel aus dem Wald wieder nach Hause. Theoretisch. Denn - caramba caracho! – hungrige Vögel haben gemeinerweise ihre Brotkrumen aufgepickt. Spuren können also wieder verschwinden. Hundertprozentige Sicherheit gibt es nicht, besser man lernt es früh.
Auf unserem Lebensweg sind wir geprägt von Menschen, die Spuren bei uns hinterlassen: Spuren der ­Erinnerung, der Wertschätzung oder der Ablehnung. Menschen, die uns Orientierung gaben, als Vorbilder oder auch als «Feindbilder». Ich bin heute noch denjenigen dankbar, die ich furchtbar fand – denn ich wusste seitdem, dass ich nie so werden wollte wie sie. Und auch wir hinterlassen unsere Spuren in den Menschen, denen wir begegnen. Naturgemäss verwischen sie später wieder: Wenn das Gedächtnis dieser Menschen undeutlicher wird oder sie sterben. Der Umgang mit anderen kommt mir wie eine gegenseitige Erosion vor: Man schleift sich gegenseitig die Kanten ab, bis man zu einem verträglichen Menschen geworden ist.
In unserer modernen Umgebung gibt es noch ganz andere Spuren, die wir ständig hinterlassen. Die Rede ist von der «fetten» Datenspur, gefüttert bei jedem Kauf, jedem Klick, jeder versandten Botschaft. Eine unheimliche Menge an Bits und Bytes, zu welchen Zwecken auch immer gesammelt, die unser Konsumverhalten abbilden. Sinnvoller wird die Datensammelwut im ­medizinischen Bereich. Zwar wehren sich viele da­gegen, zum gläsernen Patienten zu werden, auf Gruppen- oder Populationsebene ermöglichen kongregierte ­Daten aber Erkenntnisse, die wir ohne diese Zusammenführung nie hätten, zum Beispiel Register zu Krebserkrankungen, Myokardinfarkten, Organtransplantationen und seltenen Erkrankungen. Unsere Ängste kristallisieren sich um die Frage: Entstehen hier zu viele Spuren über uns? Und wer darf sie lesen? Wer darf die Geschichten lesen, die sie erzählen, und wer benutzt diese für eigene Zwecke? Franz Kafka hätte seine helle Freude an digitalen Spuren, wenn sie sich in irgendwelchen Datenspeichern vervielfachen.
Zum Schluss, im wahrsten Sinn des Wortes: Es scheint uns wichtig zu sein, dass wir Spuren hinterlassen, die nach unserem eigenen Tod weiterbestehen. Dass wir zeigen, etwas Bedeutsames geleistet zu haben. Oder, ausserhalb dieses Leistungsdruckes, einfach gelebt zu haben, ein unverwechselbarer Mensch gewesen zu sein. Ein Versuch, oder wohl eher eine Illusion, sich auf diese Weise ein kleines Stück Ewigkeit zu sichern? ­Ludwig Hasler, mein Lieblingsphilosoph, meint dazu lakonisch: «Es gibt ein Leben nach dem Tod. Aber muss es unbedingt mein eigenes sein?» Dieser Gedanke hat de­finitiv eine Spur in meinem Kopf hinterlassen.
Prof. Dr. med. ­Stefan ­Neuner-Jehle
MPH, Institut für ­Hausarztmedizin Zürich
Pestalozzistrasse 24
CH-8091 Zürich
stefan.neuner-jehle[at]usz.ch