Studentische Reflexionen

Reflexionen
Édition
2021/09
DOI:
https://doi.org/10.4414/phc-f.2021.10412
Prim Hosp Care Med Int Gen. 2021;21(09):299-302

Affiliations
a Pensionierter Hausarzt, b Master-Studierende, Medizinische Fakultät, Universität Basel

Publié le 31.08.2021

Im Rahmen des Curriculums wird als «Reflective Writing-Forum» seit einigen Jahren ein Wahlpflichtprojekt angeboten, wo Studierende aus dem Wahlstudienjahr (2./3. Master-Studienjahr) über ihre ersten klinischen Erfahrungen reflektieren können. Das Forum bietet ihnen die Gelegenheit, sich mit ihrer Rolle und Identität als werdende Ärztin oder Ärzt intensiv auseinanderzusetzen und zu diskutieren. Wir präsentieren hier eine kleine Serie ausgewählter Texte aus dem Forum, die die Vielfalt und Kreativität der Beiträge spiegelt.

1. «Where are your soft skills, girl?»

Die Studentin reflektiert ihr Verhalten anlässlich einer ­Situation, in der ihr von der Ehefrau ­eines Patienten am Vortag seiner Operation verschiedene Fragen ­gestellt wurden. Sie ist sich bewusst, dass sie nicht alle Fakten zu den Fragen kennen konnte, findet aber, dass sie besser auf die Ehefrau hätte eingehen können, statt sich so schnell aus dem Patientenzimmer zurückgezogen zu haben. Mit einem Blick in die ­Zukunft formuliert sie Lernziele für sich selbst.
– Edy Riesen
An der Universität lernen wir, wie wir Patientengespräche führen können, welche Fragen in der Anamnese zu stellen sind und wie sich die exotischsten neurologischen Erkrankungen symptomatisch äussern. Wir ­hören von Medikamenten-Interaktionen und OP-Komplikationen, lernen Klassifikationen nach Rockwood oder GOLD auswendig und üben, Patientenaufnahmen an unsere Vorgesetzten zu übergeben. Viele davon sind hard facts, von denen das Medizinstudium nur so trieft und unsere Köpfe während der Lernphasen rauchen. Hard facts, die wir nun erstmals anwenden dürfen und die im klinischen Kontext plötzlich mehr Sinn ergeben.
Im Spital arbeitend wird mir aber auch bewusst: hard facts sind nur die halbe Miete. Sicherlich, etliche medizinische Grundlagen zu beherrschen, die nächsten ­diagnostischen Schritte einzuleiten und Befunde zu interpretieren sind unbedingte Voraussetzungen für unseren Beruf. Es ist jedoch noch einmal etwas ganz anderes, Befunde tatsächlich geschickt mitteilen zu können (Kommunikationstechniken sind schliesslich auch nur … Theorien), unter Zeitdruck zu arbeiten, Fragen zufriedenstellend zu beantworten oder ein Patientengespräch mangels Zeit frühzeitig beenden zu müssen. ­Etwas anderes, dem Patienten mit meinem Auftreten in kurzer Zeit Sicherheit und Aufgehobenheit zu vermitteln. Ich merke, dass es einen Unterschied ausmacht, mit welchem Nachdruck ich eine Bitte an die Pflege richte oder mit wie viel Bestimmtheit eine Frage beantwortet wird.
In eineinhalb Jahren, nach dem Staatsexamen und während meiner ersten Stelle als Assistenzärztin, werde ich, so hoffe ich, meine medizinischen Kompetenzen weiter gefestigt und vertieft haben. Ich werde der Ehefrau mit detaillierteren Informationen zum Eingriff dienen können, vielleicht einige Worte zur Anästhesie wiederholen, zu Häufig- und Wahrscheinlichkeiten, und möglicherweise werde ich in der OP assistieren.
Doch werde ich allein mit mehr Wissen der Ehefrau ihre Ängste nehmen können? Werden mir die medizinischen Kenntnisse allein die Unsicherheit nehmen? Ich bezweifle es.
Ich denke, dass meine Gefühle der Unsicherheit und mangelnden Kompetenz, die mich gerade immer wieder befallen, nicht einzig den fehlenden medizinischen Grundkenntnissen entspringen und durch kein Staatsexamen wettgemacht werden können. Nein, diese Gefühle sind mindestens so stark vom Umstand geprägt, vielen der Situationen des Klinikalltages jetzt, während des Wahlstudienjahres, zum allerersten Mal zu begegnen. Und der Umgang mit diesen Situationen, den kann ich aus keinem Textbuch erlernen. Ich muss ihn erleben, immer wieder. Ich muss lernen, und zwar in der Praxis, mich den Sorgen der Patient*innen zu stellen, lernen, mit welchen Worten ich schwierige Themen anspreche und auch, welche Themen vielleicht nicht zum aktuellen Gespräch gehörten. Lernen, Patient*innen zu unterbrechen, ohne dabei Missgunst zu ernten, lernen, mich bei der Pflege durchzusetzen und lernen, auch einmal keine Zeit zu haben. Die nächste Ehefrau werde ich bestimmt antreffen, oder es handelt sich dann um den Sohn oder die Mutter, ich werde Worte mit Bedacht wählen, mich unsicher fühlen, vielleicht scheitern.
Dafür ist das Wahlstudienjahr auch da, merke ich –nicht nur für all die hard facts, nein – denn darüber ­hinaus gibt es noch so einiges mehr zu erfahren ... Und beim nächsten Mal, das nehme ich mir fest vor, werde ich im Zimmer bleiben. – Anna Lena Affentranger

2. Träume und Vorstellungen

Nach einer kurzen Rückblende über frühere Berufswünsche wie Veterinärmedizin, Biochemie und Umweltwissenschaften ist die Studentin «ohne grosse Träume» im Medizinstudium angekommen. Wie ist es, Ärztin zu sein? Eine Reflexion über Auftreten, ­Unsicherheit und Fürsorge für Patient*innen.
Edy ­Riesen
Die Frage, wie ich mir Ärztinnen und Ärzte früher vorgestellt habe, finde ich schwierig zu beantworten, da ich schon viele von ihnen kennengelernt habe. Aber ich denke, es war ein Bild einer sehr souveränen Person, die alles im Griff hat (denn schliesslich geht es um Menschenleben), die Probleme für Menschen löst, die diese nicht selber lösen können. Dieses Bild hat sich im Wesentlichen gar nicht so sehr verändert. Nehmen wir zum Beispiel die Assistenzärzt*innen, mit denen ich bereits arbeiten durfte: Natürlich hatten sie nicht immer zu jeder Zeit einen genauen Plan, was, wann, wie und wo mit den Patient*innen geschieht. Es wurde, besonders bei den neuen Assistent*innen (ab Examen), viel mit den Oberärzt*innen Rücksprache gehalten, um die ­genaue Vorgehensweise zu besprechen. Vor den Patient*innen traten sie dann meist sehr souverän auf, sodass sie ihnen das Gefühl vermitteln konnten, alles im Griff zu haben, ohne dabei zu verheimlichen, dass sie sich Rat oder eine zweite Meinung holen mussten. Und genau das, glaube ich, ist etwas, das man erlernen und auch üben kann: souverän zu sein, ohne alles immer selbst und allein zu wissen.
Und so eine Ärztin kann ich mir vorstellen, zu sein. Eine, die nicht von Anfang an alles weiss, in ihrem ­Inneren vielleicht ein wenig unsicher oder auch ­chaotisch ist zu Beginn. Aber auch eine, die den Patient*innen das Gefühl vermitteln kann, dass sie gut aufgehoben sind in ihrer Obhut, und sie, wenn sie Hilfe braucht, sich diese auch einholt, zum Wohle der Patient*innen.
Wie gesagt, ich weiss bis jetzt nicht, ob ich eine Ärztin sein kann eines Tages, aber zumindest kann ich mir langsam vorstellen, irgendwann einmal eine zu sein. – Katalin Bhend
© Svyatoslav Lypynskyy | Dreamstime.com

3. Das Bauchgefühl

Szenario Notfallstation: Nachdem ein Patient nach ­einem Sturz auf den Kopf (vermeintlich ohne Risiko) am Vorabend nach Hause entlassen wurde, wurde er am nächsten Tag bewusstlos durch die Ambulanz eingeliefert. Die Studentin hatte von Beginn weg ein mulmiges Gefühl, dass sie nicht faktisch belegen konnte. Diese Geschichte führt zu einem Text über das Bauchgefühl. Der Beitrag endet mit einer Quintessenz für das zukünftige Berufsleben.
Edy Riesen
Wir haben neulich während meiner Unterassistenz in einem Notfallzentrum einen Patienten mit einer Riss-Quetsch-Wunde (RQW) entlassen. Schon bei der Entlassung hatte ich ein ungutes Bauchgefühl. Am nächsten Tag während meiner Spätschicht habe ich gesehen, dass der gleiche Patient vom Vortag wieder in einer Koje war, jetzt aber als ein medizinischer Fall gekennzeichnet wurde. Der Oberarzt ist zu mir ­gekommen: «Hey Marie, hast du gesehen, der Patient mit der RQW ist wieder hier.» Er wurde wieder mit der Sanität eingewiesen. Im Bericht stand, dass der Patient bewusstlos vor seiner Haustüre vorgefunden wurde mit einer schweren Elektrolytstörung und nun sofort auf die IPS verlegt werden muss. Aus dem Augenwinkel sehe ich ihn noch im selben blutverschmierten T-Shirt. Was weiter mit dem Patienten passiert ist und was die ­genaue Ursache für den Sturz war, habe ich leider nicht mehr mitbekommen. Mein Bauchgefühl hatte in dieser Situation Recht gehabt.
Das Bauchgefühl ist im Qualitätsmanagement nicht darstellbar und lässt sich nicht in Algorithmen pressen. Es ist etwas, das nicht wirklich fassbar ist, deswegen ist es schwierig, das Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmt, richtig einzuordnen.
Ich habe aus dieser Patientengeschichte gelernt, dass das Bauchgefühl oder intuitive Entschlüsse durch das Analysieren der Mimik, Gestik, Haltung und des Blickes des Gegenübers extrem wichtig sind, um die Situation innert eines Augenblickes richtig einschätzen zu können. Diese Eindrücke werden zu einem grösseren Teil im Unterbewusstsein und nur zu einem kleineren Teil kognitiv bewusst verarbeitet. All diese unterbewussten Informationen werden dann mit ähnlichen Situationen, die man im Vorfeld erlebt hat, abgeglichen und daraus entwickelt sich ein Alarmhinweis. Dann stellt sich aber die Frage, ob man genug kognitive Ressourcen hat, diesen Warnhinweis wahrzunehmen oder ob man in einem Tunnelblick ist und die Hinweise deswegen nicht beachtet.
Andererseits kann das Bauchgefühl zu vorschnellen Urteilen verleiten. Dann wird aus minimalen Informationen ein komplettes Charakterporträt gebastelt, was einen in die Irre führen kann. Aus Angst, etwas zu verpassen, kann das auch zur Überdiagnostik verleiten.
Ich denke, je mehr Erfahrungen man in einem Gebiet gesammelt hat, desto besser kann man sich auf das Bauchgefühl verlassen, aber genauso wichtig ist auch eine gute Menschenkenntnis, das genaue Beobachten und Zuhören. Ich finde auch wichtig, dass man das Bauchgefühl verbalisiert und begründet, denn man ­arbeitet immer in einem Team und kann sich abgleichen, aktiv Feedback einholen und einen Konsens bilden. Allerdings kann das dazu führen, dass das Bauchgefühl entkräftet wird. Ich denke jedoch, dass das Crew Ressource Management die Entscheidungsqualität verbessert.
Ich habe mir als Ziel gesetzt, dass ich in meiner Laufbahn als Ärztin durch das genaue Beobachten und ­Zuhören und mit meinen gesammelten Erfahrungen und meiner Empathie eine innere Stimme entwickle, die ich in der täglichen Praxis richtig nutzen kann und dass ich das Bauchgefühl auch im Team kommuniziere, damit man so gemeinsam den Patient*innen die bestmögliche Behandlung anbieten kann. – Marie Janscak

4. Ein Vierteljahrhundert – die Ärzte und ich

Nach einem Rückblick auf das eigene Leben, in dem die Medizin mit fünf und zehn Jahren noch keine Rolle spielte, löste ein Vortrag über Rechtsmedizin mit fünfzehn Jahren eine erste Faszination aus. Mit zwanzig Jahren, zu Beginn des Studiums war das Arztbild noch fast ideal. Im letzten Abschnitt des ­Textes schildert die nun 25-Jährige, wie sie sich der ­Realität immer mehr nähert. – Edy Riesen
25 Jahre: Heute mit einem Vierteljahrhundert auf dem Buckel sehe ich alles ein wenig nüchterner. Ärzte sind nun für mich nicht mehr Halbgötter in Weiss und schon gar nicht mehr allwissend. Ich bin immer noch fasziniert, vom breiten und vielseitigen Wissen und Können von Ärztinnen und Ärzten, aber nicht mehr so wie mit 15 Jahren. Ich habe im Wahlstudienjahr mitbekommen, dass auch ein erfahrener Arzt manchmal nicht mehr weiterweiss, dementsprechend habe ich den Satz «Schauen wir mal, keine Ahnung wie es weiter geht.» mehr als genug gehört. Auch habe ich beobachtet, das eine Notfallsituation meist mehr chaotisch als geordnet abläuft und nicht immer jeder weiss, was ­genau er tut.
Zusammengefasst konnten meine Erwartungen an den Arztberuf nur mässig erfüllt werden. Im 5. Studien­jahr habe ich nun schon ein ziemlich grosses Fachwissen und auch im OSCE habe ich mich nicht schlecht ­geschlagen, aber dennoch bin ich nicht allwissend und weise geworden, wie ich es mir im 1. Semester oder als 15-Jährige vorgestellt habe. Ich bin nun am Boden der Tatsachen angelangt und bin mir bewusst geworden, dass ein Arzt auch nur ein Mensch ist. Ein Mensch, der Fehler macht und wie ein Dozent anfangs des Studiums so schön sagte «verdammt ist, bis ans Ende des ­Lebens zu lernen». Und das ist gut so. Ich denke auch, dass es wichtig und richtig ist, an diesem Punkt anzugelangen und den Glanz und Glitzer des Arztberufes bei Seite zu wischen. Nur so kann man sich selbst eingestehen, dass man als Arzt nicht perfekt ist und auch Fehler passieren können. Nur so kann man stetig dazulernen und kritisch jeden einzelnen Patientenfall ­begutachten. Nur so kann man meines Erachtens ein guter Arzt werden. Ein guter Arzt, der weiss, was er kann und auch seine Grenzen kennt. – Laurence Martin
Dr. med. Edy Riesen
Ehemaliger Redaktor PHC,
pensionierter Hausarzt
Lupsingerstrasse 23
CH-4417 Ziefen
edy.riesen[at]gmx.ch