access_time Publié 13.05.2020
Anders handeln geht nicht ohne auch anders zu denken
Dr. med. et Dr. scient. med. Jürg Eichhorn, Allgemeine Innere Medizin FMH Praxis für Allgemeine und Komplementärmedizin

Leserbriefe
Anders handeln geht nicht ohne auch anders zu denken
13.05.2020
Leserbrief zu "Gibt es ein Leben nach der Praxis" aus PHC 5 vom 6.5.2020.
Sehr geehrter Herr Professor Neuner
Und ja, ich habe ein Elektrobike, und ein neues Motorrad, und 3 grauenhaft stürmische Nächte auf der Queen Mary hinter mir, und...ich bin 71, und noch immer ohne Pillendose ...
15 Jahre Landarzt, 24 Jahre Komplementärmedizin (davon 1/3 klassische Medizin), jetzt noch 3 Halbtage in der Praxis. Soweit die Vorgeschichte.
2016 setzte mir meine Frau ein scharfes Messer - genannt Camper - an den Hals: "Entweder du machst etwas Gescheites oder ich zwinge dich zum Campen". Campen - vom Liegestuhl zum Bier und retour, der «Super Gau» schlechthin.
Eine Frage plagte mich seit fast einem Vierteljahrhundert, seit den ersten Tagen der Ausbildung zum Ernährungs- und Orthomolekularmediziner: Abendessen, mit und ohne Alkohol, wie ändern sich die Schlafparameter? Gibt es spezifische Muster? Infolge fehlender Langzeituntersuchungen lässt einem die Literatur hier buchstäblich im Regen stehen.
So startete ich im Oktober 2016 die regelmässige Schlafaufzeichnung mit einem Sleep-Tracker (860 protokollierte Nächte!) und realisierte schnell: Ich bin Praktiker und kein Wissenschaftler. Irgendwoher muss ich mir Wissen beschaffen. Zeitsprung, 1 Jahr später: Happy Landing in Triesen, als Student an der UFL - Universität Fürstentum Liechtenstein. 3 Jahre reine Wissenschaft, nur ideologisch reinste evidence based medicine, eine Katastrophe für mich als gläubigen Komplementärmediziner: «Aufgrund meiner Erfahrung bin ich der Meinung, dass...». Aber andererseits waren es 3 unheimlich bereichernde und sehr glückliche Jahre in der familiären Studentengemeinschaft. Weil mir die Sleep-Tracker Studie zu unwissenschaftlich vorkam, schaltete ich, mittlerweile 70, 40 Nächte ambulante Polysomnographie dazwischen, Nacht für Nacht verkabelt von Kopf bis Fuss. Kernfrage hier und zugleich auch Dissertationsthema: Wie ändert sich die nächtliche Herzfrequenz mit viel Nahrungs- bzw. Alkoholaufnahme, alleinig und in Kombination, im Vergleich zu dinner cancelling ohne Alkohol. Die Antwort erstaunt, weil so nicht erwartet!
Schliesslich, am 20 Februar 2020, die Verteidigung, gleichsam ein Take-Off in ein neues Leben, das Studium der Genetik. Beginn allerdings überlappend schon im Juni 2019: CAS - Genomisch-klinische Medizin, auch UFL, schwierig und äusserst spannend zugleich. Allein die Aufarbeitung der aktuellen Erkenntnisse zum Thema Biotransformation in einem Skript wird mich noch monatelang im Bann halten.
Fazit von in meinem Fall rund 4000 Arbeitsstunden:
-Glücksgefühle und Zufriedenheit, und immer noch auf Wolke 7 schwebend...
-Scharfgründiges Denken, viel differenzierter und analytischer als je zuvor.
-Sogar das Frischgedächtnis meldete sich in "alter Frische" zurück.
Nach 40 Jahren in der Praxis weiss ich sehr wohl um die Problematik der Pensionierung. Stereotyp stets dieselben Worte, ob Hilfsarbeiter, Handwerker, Studierter oder Manager: "So toll, ab Montag ist endlich Zeitungslesen und Wandern angesagt". Und stereotyp stets auch die Folgen: Nach 6 Monaten vor mir ein depressives Häufchen Elend ohne Perspektiven mit mittlerweile bereits deutlich cognitiven Einschränkungen!
Alle wissen es, aber fast niemand wagt danach zu handeln: «Legen Sie sich jetzt schon ein Hobby zu, etwas zwischen Bierdeckel sammeln und Studium, etwas, das Sie ab dem ersten Morgen der Pensionierung mit Begierde ausweiten können.
Ich bin wahrlich steinreich, das Erbe meiner Eltern. Noch im hohen Alter kraxelten sie mit Pickel und Schaufel in die Berge, durchwühlten den Sand in der Wüste Namibias, suchten und sammelten edle oder auch nur interessante Steine in der ganzen Welt, studierten die Geologie hinter den Fundstücken und mein Vater gab den Edelsteinen «seinen» Schliff. Zufriedenheit und Glück, gepaart mit viel Bewegung in der freien Natur. Etwas blieb ihnen dabei verwehrt: Krankheit. Dazu fehlte ihnen bis kurz vor dem Tod schlicht und einfach die Zeit!
Stellt sich letztlich noch die Frage nach der Sinnhaftigkeit dieser Zeilen. Anders handeln, geht nicht ohne auch anders zu denken.
So könnte diese meine Geschichte vielleicht für den einen oder anderen Kollegen oder Kollegin doch zu einem ernsthaften Denkanstoss gereichen, um das müde Hirn wieder neu zu formatieren.
Einen schönen Tag wünsche ich Ihnen.
Freundliche, kollegiale Grüsse
Jürg Eichhorn
Leserbrief zu "Gibt es ein Leben nach der Praxis" aus PHC 5 vom 6.5.2020.
Dr. med. et Dr. scient. med. Jürg Eichhorn
Allgemeine Innere Medizin FMH Praxis für Allgemeine und Komplementärmedizin
Traditionelle Chinesische Medizin ASA
Sportmedizin SGSM
Neuraltherapie SANTH & SRN
Manuelle Medizin SAMM
Ernährungsheilkunde SSAAMP
Orthomolekularmedizin SSAAMP
FXM - Mayr-Arzt (Diplom)
applied kinesiology ICAK-D & ICAK-A
CAS - Genomisch-klinische Medizin UFL
Bloggen Sie mit!
Wollen Sie auch einen Blogbeitrag publizieren? Dann schreiben Sie uns!
