access_time Publié 27.07.2022

Uns Internist:innen dämmert es so langsam, aber dämmert es sonst auch?

M. Bernabeu-Wittel, Sevilla, Spanien
M. Holecki, Kattowitz, Polen
A. Tuttolomondo, Palermo, Italien
J. Chudek, Kattowitz, Polen
E. Battegay, Basel, Zürich, Schweiz

Uns Internist:innen dämmert es so langsam, aber dämmert es sonst auch?

27.07.2022

Eine multinationale Umfrage der European Federation of Internal Medicine zu Multimorbidität

Zusammenfassung der Publikation durch Prof. Dr. med. Edouard Battegay(1), FACP, Vertreter der SGAIM bei der Arbeitsgruppe Multimorbidität der European Federation of Internal Medicine

 

 

Im Laufe des Lebens sammeln Patient:innen stetig neue Leiden an und überleben diese dank sozialem und medizinischem Fortschritt, ohne sie vollständig loszuwerden. So nimmt die Prävalenz von Multimorbidität (MM), d.h. mehrerer gleichzeitig vorhandener Leiden, weltweit zu. Menschen kumulieren mehrere chronische und akute Leiden, von denen sich ein Teil bezüglich Massnahmen in die Quere geraten, zum Beispiel Hüftoperation trotz Antikoagulation bei Vorhofflimmern. MM ist zur häufigsten Patient:innenkonstellation sowohl in ambulanter als auch stationärer Versorgung geworden, insbesondere in der Inneren Medizin. Internist:innen sollten deshalb über Kompetenzen für eine umfassende (comprehensive), kontinuierliche (continuous) und koordinierte (coordinated) Versorgung multimorbider Patient:innen verfügen. Aber wie denken Europäische Internist:innen über die Versorgung multimorbider Patient:innen [1]?

Aus diesem Grund haben wir, die Arbeitsgruppe Multimorbidität der European Federation of Internal Medicine (EFIM), Gefühle und Gedanken Europäischer Internist:innen zu MM mittels einer Online-Umfrage untersucht (1). Diese Umfrage wurde im März und April 2021 von der EFIM und allen 35 angeschlossenen nationalen Gesellschaften durchgeführt, einschliesslich der Schweizerischen Gesellschaft für Allgemeine Innere Medizin (SGAIM). Zielpopulation waren alle den Mitgliedsgesellschaften angeschlossener Fachärzt:innen für Allgemeine Innere Medizin. Die vollständige Studie mit Details und Referenzen ist im «European Journal of Internal Medicine» als Letter to the Editor publiziert [1].

Insgesamt beantworteten 764 Internist:innen die Umfrage. Die meisten von ihnen arbeiteten in tertiären Krankenhäusern (53 %) oder sekundären Krankenhäusern (25,6 %). Ihr üblicher Arbeitsbereich waren Krankenstationen (31 %), ambulante Abteilungen (7 %) oder beides (41,4 %). Die Antwortenden widmeten sich hauptsächlich der Allgemeinen Inneren Medizin oder spezielleren medizinischen Bereichen wie Herz-Kreislauf-Medizin, Rheumatologie, Geriatrie und Palliativmedizin (37,6 %; 25 %; 19,1 % bzw. 16,4 %), und arbeiteten hauptsächlich in Spanien (42%), Frankreich (15,4%), Portugal (15,2%) oder Italien (7,6%).

Die Umfrage brachte vier Aspekte hervor:

  1. Die Befragten betonten den grossen Einfluss älterer Patient:innen mit mehreren schweren chronischen Krankheiten auf ihre tägliche klinische Tätigkeit. Die meisten Befragten waren eher mit Begriffen wie "Komorbidität" als mit "Multimorbidität" vertraut. Ein Grund dafür könnte der erst 2018 überarbeitete MESH-Begriff Multimorbidity sein. Dieser konzipiert Multimorbidität als «The complex interactions of several co-existing diseases».
  2. Die grösste Herausforderung bei der Behandlung von MM sahen die Antwortenden in Kontinuität und Organisation der Weiterversorgung nach Spitalentlassung oder ambulanter Konsultation, also in Koordination und Kontinuität der Versorgung. Überraschend oder vielleicht sogar erschreckend war dann doch, dass nur etwa 70 % der Befragten die Übereinstimmung von Patient:innenwünschen mit ärztlichen Massgaben überprüften. Eine umfassende geriatrische Bewertung depressiver Störungen führten die Befragten meist nur punktuell «nach klinischem Bedarf» durch. Eine grobe Bewertung von Funktionen durchzuführen gaben zwar fast 50 % der Befragten an, aber nur selten mit Hilfe validierter Instrumente. Trotz diesen kursorischen Bewertungen war der funktionelle und mentale Zustand der Patient:innen bei der klinischer Entscheidungsfindung der wichtigste Faktor, gefolgt von der prognostischen Stratifizierung (64,7 % bzw. 22 %). Diese Antworten zeigen, dass es bei der Versorgung dieser Patient:innen an objektivierbarer und vergleichbarer Einschätzung komplexer Situationen mangelt und man sich wahrscheinlich hauptsächlich auf das Bauchgefühl verlässt. Daher sollten die nützlichsten und praktischsten Interventionen zum Nutzen der Patienten mit MM besser in den Mainstream klinischer Tätigkeit eingebaut werden.
  3. Die Befragten beklagten, dass das Thema MM während ihres Studiums an der medizinischen Fakultät nicht gut oder nur teilweise behandelt wurde und dass seit dem Abschluss ihres Studiums dort keine Fortschritte erzielt worden seien. Die Umfrage förderte sehr ähnliche Antworten in Bezug auf die Weilterbildungsprogramme für Innere Medizin zu Tage. Die überwiegende Mehrheit der Befragten hätte in der Thematisierung von MM einen Nutzen gesehen, war jedoch darüber besorgt, dass viele ihrer Kolleg:innen diese Meinung nicht teilten. Diese Antworten zeigen kohärent, dass Multimorbidität aus der Perspektive der täglichen Praxis in aktueller Wissenschaft und Forschung noch nicht die Relevanz erhalten hat, die sie verdient und mit Unsicherheit verbunden ist.
  4. Und schliesslich waren die meisten Befragten Mittelmeeranrainer im Weitesten Sinn (Spanien, Portugal, Italien und Frankreich). Dies könnte unterschiedliche Gegebenheiten in den nationalen Gesundheitssystemen oder der klinischen Praxis der Inneren Medizin in den einzelnen Ländern widerspiegeln. Gleichzeitig könnte es aber auch auf ein unterschiedliches Bewusstsein national organisierter Internist:innen für Aktivitäten der European Federation of Internal Medicine hinweisen. Die SGAIM, eine der Gesellschaften mit den meisten Mitgliedern im Konstrukt EFIM, scheint diesbezüglich in Anbetracht eines weitestgehend noch kantonal und dispers organisierten Gesundheitssystem eher introvertiert orientiert. Die Umfrage wurde hierzulande nur von wenigen beantwortet, obwohl Vorstand und Generalsekretariat sich um Verteilung und Einholung von Antworten bemühten. Diese Studie weist wesentliche Einschränkungen auf. Es handelt sich um eine erste und hausgemachte Umfrage ohne validierte Instrumente, die auch nicht verfügbar gewesen wären, mit je nach Land verschiedenen und teilweise schlechten Responderraten. Dadurch ergibt sich, wie bereits oben erwähnt ein wesentlicher Selektionsbias, nicht zuletzt, weil Responder im Alltag möglicherweise eher mit Multimorbidität konfrontiert sind.

Hauptaussagen der Umfrage:

  • Es dämmert so langsam: Europäische Internist:innen sind der Meinung, dass die meisten ihrer Patient:innen an Multimorbidität (MM) leiden und dass dies in deren täglichen klinischen Arbeit eine wesentliche Rolle spielt. Sie bemängeln Defizite im Umgang mit MM. MM wurde und wird an den medizinischen Fakultäten und in internistischen Weiterbildungsprogrammen nicht ausreichend thematisiert.
  • Dämmert es sonst auch? Die Internist:innen bemerken mit einer gewissen Ängstlichkeit, dass MM andere Internist:innen oder Fachdisziplinen vielleicht weniger interessiert, als sie selbst.

 

(1)Edouard Battegay, Prof. Dr. med., FACP 
Tel: +41 61 305 14 66

Ärztliche Tätigkeit an der Merian Iselin Klinik, Basel edouard.battegay<script type="text/javascript">document.write('&#64;');</script>merianiselin.ch

Leiter International Center for Multimorbidity and Complexity in Medicine (ICMC), Universität Zürich, Universitätsspital Basel (Klinik für Psychosomatik), Merian Iselin Klinik, Schweiz edouard.battegay@uzh.ch

Gründer IntelliXESS AG: Medicine & Health Care at better Value e.battegay<script type="text/javascript">document.write('&#64;');</script>intellixess.ch

Literatur

 

[1] Perspectives of European internists on multimorbidity. A multinational survey. Bernabeu-Wittel M. et al., 2022, European Journal of Internal Medicine, doi.org/10.1016/j.ejim.2022.02.008

 

Bildnachweis:

© Andrey Popov | Dreamstime.com

 

M. Bernabeu-Wittel

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