access_time veröffentlicht 11.04.2022

Nicht aufgeben bei seltenen Erkrankungen

Lena Gerber
Caio Victor Sousa
Beat Knechtle

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Nicht aufgeben bei seltenen Erkrankungen

11.04.2022

PRIMARY AND HOSPITAL CARE – ALLGEMEINE INNERE MEDIZIN DOI: 10.4414/phc-d.2022.20066 Epub ahead of print

Der Patient in unserem Fallbericht stellte sich erstmals 2004 aufgrund belastungsabhängiger Muskelschmerzen bei seinem Hausarzt vor. Es folgten über die Jahre viele Untersuchungen und diagnostische Irrwege bis die tatsächliche Ursache dank der Beharrlichkeit des Patienten und seines Hausarztes gefunden wurde.

Erstkonsultation

Anamnese

Der Patient stellte sich erstmals 2004 im Alter von 39 Jahren aufgrund belastungsabhängiger Muskelschmerzen  bei seinem Hausarzt vor. Der Patient klagte über Schmerzen und rasche Ermüdbarkeit der Beinmuskulatur, die durch Belastung stärker würden. Diese bestünden bereits seit seiner Kindheit. Der Schmerzcharakter sei vor allem brennend/reissend, teilweise muskelkaterähnlich, verbunden mit einem Schwächegefühl in den Beinen. Häufig habe er das Gefühl von «1000 Nadelstichen an den Beinen», ausserdem bestehe eine Wärmeintoleranz. Nach dem Gehen habe er stets Schmerzen in den Waden. Nach jedem Karate-Training in der Jugend sei er völlig erschöpft gewesen. Auch im Berufsalltag als gelernter Automechaniker seien die Schmerzen belastend und führten rasch zu einer allgemeinen Ermüdung. Kardial werden keine Beschwerden angegeben, ebenfalls wird keine Atemnot in Ruhe erwähnt. Insgesamt fühle sich der Patient nicht trainiert und komme abgesehen von den limitierenden Muskelschmerzen auch rasch ausser Atem. Libido und Erektion seien eingeschränkt.

Sozialanamnese: Der Patient ist gebürtiger Kroate, lebt aber seit vielen Jahren in der Schweiz. Ursprünglich war er Automechaniker, aufgrund der Schmerzen in den Beinen kam es aber zu einem Wechsel des Arbeitsplatzes. Er ist mit einer Landsfrau (keine Konsanguinität) verheiratet; sie haben eine gemeinsame gesunde Tochter, die jedoch seit dem sechsten Lebensjahr ebenfalls häufig über Beinschmerzen klage und körperlich sehr rasch erschöpft sei.

Familienanamnese: Der Vater des Patienten habe ähnliche Beschwerden seit etwa ab dem 40. Lebensjahr gehabt. Er sei im Alter von 60 Jahren an einem Herz­infarkt verstorben. Der Bruder des Vaters habe sich aufgrund von Schmerzen beim Gehen immer nur drinnen aufgehalten und das Zurücklegen weiter Strecken zu Fuss gemieden. Der Bruder des Patienten (Jg. 1968), habe ebenfalls etwas müde Beinmuskeln, habe sich jedoch nie untersuchen lassen. Ein weiterer Bruder sei kurz nach der Geburt, eine weitere Schwester bereits im ersten Lebensjahr verstorben, in beiden Fällen sei die Ursache unklar.

Klinische Untersuchung

In der klinischen Untersuchung fanden sich keine Auffälligkeiten, der internistische Status war bland. Insbesondere zeigten sich ein normaler Muskeltonus sowie eine unauffällige Muskeltrophik. Laboranalytisch fiel eine leicht erhöhte Kreatinkinase (CK) von 194 U/l (Referenzwert Männer <170 U/l [1]) auf, bei ansonsten unauffälligen Blutwerten. Ein Urinstatus war unauffällig. Nach CT-grafischem Ausschluss einer Spinalkanalstenose als Ursache der Beschwerden erfolgte die Zuweisung zu den unterschiedlichen Spezialdisziplinen.

Kommentar

Belastungsabhängige Muskelschmerzen und -ermüdung sowie eine auffällige Familienanamnese lassen primär an eine Myopathie denken. Einen Überblick über Differenzialdiagnosen bei Muskelschmerzen zeigt Tabelle 1. Bei den geschilderten Beschwerden stehen primär neuro­logische Ursachen, einschliesslich möglicher Stoffwechselstörungen, oder eine Erkrankung aus dem rheumatoidem Formenkreis im Fokus.

Tabelle 1

Abklärung und Verlauf von 2004 bis 2020

Wiederholte neurologische Untersuchungen

Mehrfach wiederholte, detaillierte neurologische Untersuchungen (2004, 2006, 2007, 2008, 2010, 2013, 2017, 2018, 2019, 2020) von niedergelassenen Spezialisten ­sowie Spitalneurologen waren unauffällig. Im Neuro­status präsentierte sich stets ein wacher, allseits ­orientierter Patient, ohne Sprach- oder Sprechstörung. Kognition im Gespräch unauffällig. Hirnnerven unauffällig. In der Untersuchung der Motorik und Koordination waren keine Faszikulationen oder myotonen Reaktionen sichtbar. Finger-Nase-Versuch und Knie-Hacke-Versuch beidseits symmetrisch, Eudiadochokinese beidseits, Fingerspiel flüssig. Motorik der oberen und unteren Extremität ebenfalls unauffällig, keine Atrophien sichtbar, Einzelkraftprüfung an allen Extremitäten symmetrisch M5/5. Sensibilität unauffällig. Reflexe (BSR, TSR, RPR, PSR und ASR) rechts/links symmetrisch, mittellebhaft auslösbar. Babinski beidseits negativ, keine Fusskloni. Stand unauffällig, aufrechte Körperhaltung, sicherer Stand ohne Falltendenz im Romberg. Normalgang unauffällig, Zehenspitzen- und Fersengang ohne Absinken beidseits, Strichgang sicher. Aufrichten aus der Hocke möglich.

Wiederholt durchgeführte elektroneuromyografische Untersuchungen waren ebenfalls normal, so dass anhand der Untersuchungen keine Hinweise auf eine neuro- oder myogene Systemerkrankung respektive Zeichen einer neuromuskulären Überleitungsstörung vorlagen.

Mittels spezifischer Belastungstests, SATET (engl. Sub-anaerobic Treshold Exercise Test) oder NIFET (engl. Non-ischemic Forearm Test), konnte ein signifikanter Anstieg des Laktatspiegels nachgewiesen werden, welcher noch unterhalb des Cut-offs für eine Mitochondriopathie (5,0 mmol/l) lag. Insofern fand sich kein Hinweis für eine zugrundeliegende Mitochondriopathie.

Wiederholte rheumatologische Untersuchungen

Klinische Untersuchung (2006, 2010, 2014, 2018) unauffällig, dabei insbesondere negative Tenderpoints zur Diagnostizierung eines Fibromyalgiesyndroms sowie blander Gelenkstatus ohne Nachweis florider Syno­vitiden oder Tendosynovitiden. Im Laborscreening ­zeigten sich wiederholt eine Erhöhung der CK bei ­normalen Werten bezüglich ASAT (Aspartat-Aminotransferase) und Aldolase sowie unauffälligem Urinstatus. Antinukleäre Antikörper und Antikörper gegen Skelettmuskulatur waren negativ. Eine Bildgebung der Oberschenkelmuskulatur (MRI) ergab keinen Hinweis auf das Vorliegen einer Myositis.

Angiologische Untersuchung

Die angiologische Untersuchung (2006) zeigte un­auffällige arterielle Verschlussdrücke sowie blande Segmentoszillografie und Duplexsonografie. Eine vaskuläre Genese konnte somit ebenfalls ausgeschlossen werden.

Muskelbiopsie

Die Biopsie des Musculus vastus lateralis (2006) ergab einen Normalbefund: keine Glykogenanreicherung, keine Neutralfette, enzymhistochemische Nachweise mit normaler Aktivität (COX, NADH, SDH, Myo­adenylatdeaminase, Glykogenphosphorylase, Phosphofructokinase), kein Amyloid nachweisbar, keine entzündlichen Infiltrate oder Veränderungen. Dementsprechend kein Hinweis auf eine mitochondriale bzw. metabolische Myopathie.

Ausführliche laboranalytische Untersuchungen

Ein Differenzialblutbild war zu jeder Zeit unauffällig, die Blutsenkungsgeschwindigkeit ebenfalls. Laborchemisch fiel während des gesamten Abklärungszeitraums (2004–2019) wiederholt eine leicht bis deutlich erhöhte Kreatinkinase (Abb. 1) unklarer Ätiologie auf, bei ansonsten unauffälligen Laborparametern, insbesondere unauffälligem C-reaktivem Protein (CRP). Massive Erhöhungen der CK im Sinne einer Rhabdomyolyse konnten jedoch nie gemessen werden.

In der CK-Elektrophorese zur weiteren Differenzierung der CK-Isoenzyme – Skelettmuskel (MM), Myokard (MB) und aus dem ZNS stammende Form (BB) – beziehungsweise zum Ausschluss von atypischen CK-Variationen (z.B. Makro-CK), zeigte sich ein Normalbefund [1].

Die rheumatologischen Antikörper waren, wie bereits oben beschrieben, negativ.

Abbildung 1

Stoffwechseldiagnostik

Bei der Stoffwechseldiagnostik (2008, 2017) konnte eine Organoazidopathie oder Fettsäureoxidations­störung mittels Acylcarnitin-Profil ausgeschlossen werden. Eine Enzym-Testung (α-1,4-Glukosidase) auf Morbus Pompe, eine lysosomale Speicherkrankheit, war ebenfalls unauffällig.

Endokrinologische Untersuchung

Die endokrinologische Untersuchung (2013) ergab keinen Hinweis auf eine primäre Nebenniereninsuffizienz. Bei positiven Schilddrüsen-Auto-Antikörpern (thyreoidale Peroxidase-AK, Thyreoglobulin-AK) lag jederzeit eine euthyreote Stoffwechsellage vor. Hinweise für einen endokrinologischen Zusammenhang mit der Grunderkrankung gibt es nicht.

 

Molekulargenetische Untersuchungen

Molekulargenetische Untersuchungen 2009 und 2014

CPT2-Genetik (CPT2: Carnitin-Palmitoyltransferase II): negativ – es liegt kein Mangel an Carnitin-Palmitoyltransferase II vor. Bei einem CPT2-Mangel handelt es sich um eine angeborene Stoffwechselkrankheit mit gestörter mitochondrialer Oxidation der langkettigen Fettsäuren (LCFA). Eine genetische Untersuchung (Gene KCNE1, KCNJ2 und KCNQ3) bezüglich des Vorliegens einer autosomal-dominant vererbten Kaliumkanalerkrankung mit ­belastungsabhängigen Muskelschmerzen bei unauffälligen Kaliumwerten (Differenzialdiagnose Andersen-Syndrom) wurde 2014 von der Krankenkasse aufgrund fehlender WZW-Kriterien (Wirtschaftlichkeit, Zweckmässigkeit und Wirksamkeit) abgelehnt.

Kommentar

Die grosse Anzahl an neuen sowie wiederholten Untersuchungen zeigen die forcierte Ursachensuche des Hausarztes. Die vom Patienten über alle Jahre absolut konsistent geschilderten Beschwerden, der offensichtliche Leidensdruck sowie auch die grosse eigene Motivation des Patienten, eine Diagnose zu finden, waren die Gründe für den Hausarzt, über Jahre die Ursachensuche zu forcieren.

Weiterer Verlauf

Je mehr frustrane Abklärungen es gab, desto mehr fühlte sich der Patient unverstanden. 2009 wurden die Beschwerden des Patienten bei weiterhin fehlenden handfesten Befunden am ehesten auf eine somatoforme Störung zurückgeführt. Der Patient entwickelte eine rezidivierende depressive Störung, weswegen er psychiatrisch betreut wurde. Bezüglich der Schmerzen erfolgte aufgrund der Diagnose einer chronischen Schmerzstörung mit psychischen und somatischen Faktoren (ICD-10: F45.41) eine multimodale Schmerztherapie. In diesem Rahmen wurden diverse Versuche mit verschiedenen Antidepressiva gestartet, jedoch ohne Erfolg.

Kommentar

Somatoforme Störungen werden international mit einer Prävalenz von 9–20% der Allgemeinbevölkerung angegeben, in Hausarztpraxen werden 16–32 % der Konsultationen durch somatoforme Störungen verursacht [2]. Für die Diagnose einer somatoformen Schmerzstörung (F45.4) muss über eine Dauer von mindestens sechs Monaten ein anhaltender und belastender Schmerz in einem Körperteil vorhanden sein, welcher nicht ausreichend durch eine organische Ursache geklärt werden kann [3].

Weitere molekulargenetische Untersuchung 2020

Die Tatsache, dass die Beschwerden über viele Jahre konsistent geschildert wurden sowie die auffällige Familienanamnese, stützen den Verdacht einer genetischen Erkrankung, insbesondere einer hereditären Myopathie, als Ursache der Beschwerden. Nach 15 Jahren vergeblicher Ursachensuche erfolgte 2019 ein erneuter Antrag auf Kostenübernahme für eine weitere molekulargenetische Untersuchung. Nach positiver Kostengutsprache konnte eine Myopathie-Panel-­Untersuchung (Pos.-Nr. 2860.2) durchgeführt werden. Hierbei erfolgte der Nachweis einer heterozygoten, wahrscheinlich pathogenen Variante im SLC16A1-Gen, welche am ehesten ursächlich für die klinischen Beschwerden des Patienten ist. Es wurden zwei weitere heterozygote Varianten im FKRP-Gen (wahrscheinlich pathogen) sowie im TTN-Gen (unklarer Signifikanz) ­gefunden, welche jedoch beide nicht als krankheitsverursachend gesehen wurden.

Diagnose

Myopathie durch einen Laktat-Transporter-Defekt bei Deletion im SLC16A1-Gen mit Erstmanifestation wahrscheinlich in der frühen Jugend.

Definition

Bei einer metabolischen Myopathie aufgrund eines Laktat-Transporter-Defekts handelt es sich um eine sehr seltene metabolische Myopathie, welche durch Muskelkrämpfe und/oder Muskelsteifheit nach Be­lastung (insbesondere während Wärmeexposition), ­mögliche Rhabdomyolyse und Myoglobinurie nach mus­kulärer Beanspruchung sowie eine Erhöhung der Kreatinkinase charakterisiert ist [4]. Angaben zur Prävalenz sind bis dato nicht bekannt. Ursache ist eine pathogene Mutation im SLC16A1-Gen, welche unter anderem zu einem Defekt im Monocarboxlyat-Transporter 1 (MTC1) führt.

Beim Monocarboxylat-Transporter 1 (MTC1) (Gen: SLC16A1) handelt es sich um ein integrales Protein der Zellmembran, welches den Transport verschiedener Monocarbonsäuren wie Laktat, Pyruvat und Keton­körper aus den Zellen heraus katalysiert. Der rasche Austausch der Substrate spielt eine wichtige Rolle im Kohlenhydrat-, Aminosäuren- und Fettstoffwechsel. Insbesondere der Transport von Laktat aus Muskelzellen unter anaeroben Bedingungen und aus Erythrozyten ist unentbehrlich, um das Zellinnere nicht zu übersäuern [5, 6].

Das katalysierte Membrantransport-Gleichgewicht lautet [7]:

Monocarboxylat (innen) + H+ (innen) → Monocarboxylat (aussen) + H+ (aussen)

Pathogene Mutationen im SLC16A1-Gen beim Menschen können zu Laktat-Transporter-Defekten in Muskeln und Erythrozyten führen, so dass es zu einer ­metabolischen Myopathie kommt. Bei ausgeprägten Formen kann dies zu schweren Ketoazidosen führen, sowie zu einer Unfähigkeit, Muskeln extrem zu beanspruchen. Dabei sind häufig das Myoglobin und die Kreatinkinase im Blut erhöht [8].

Seltene Krankheit

Die vorliegende, heterozygote, wahrscheinlich pathogene Variante im SLC16A1-Gen ist sehr selten. Erstmals wurde diese von Merezhinskaya N et al. im Jahr 2000 beschrieben. Die Erkrankung wird unter der Kategorie «Seltene Krankheiten» im Orphanet geführt [4, 9].

Kommentar

Orphanet ist eine Datenbank, die das Wissen um seltene Krankheiten sammelt und erweitert, um so die Diagnose, Versorgung und Behandlung von Patienten mit seltenen Krankheiten zu verbessern. Die Datenbank wurde im Jahr 1997 in Frankreich von INSERM (Französisch nationales Institut für Gesundheit und medizinische Forschung) gegründet. Im Jahr 2020 wurde Orphanet zu einem europaweiten Projekt. Seitdem erfolgt die Unterstützung durch Fördermittel der Europäischen Kommission. Heute besteht Orphanet aus einem Konsortium von 40 Partnerländern aus Europa und weiteren Mitgliedern um den Globus. Insgesamt lassen sich mittlerweile Informationen über mehr als 6000 seltene Krankheiten in der Datenbank finden [10, 11].

Gemäss europäischer Definition der «Seltenen Krankheiten», die auf der Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über Arzneimittel für seltene Leiden (1999) basiert, ist eine Krankheit dann als «selten» einzustufen, wenn weniger als einer von 2000 Menschen in der Europäischen Bevölkerung von dieser Krankheit betroffen ist [12]. Weltweit sind mehr als 6000 verschiedene seltene Erkrankungen bekannt, ca. 80% dieser seltenen Krankheiten sind auf einen Gendefekt zurückzuführen [12]. In der Schweiz gibt es praktisch keine epidemiologischen Daten über seltene Krankheiten. Die Prävalenz in der Schweiz wird auf ca. 500 000 bis 600 000 geschätzt, was ca. fünf Prozent der Schweizer Bevölkerung beträfe. Hierbei handelt es sich ­lediglich um eine Schätzung, angelehnt an die Prävalenz der Anzahl an Personen mit einer seltenen Krankheit auf der Basis der Daten von Orphanet, übertragen auf die Schweizer Bevölkerung [13, 14].

Angaben zur Prävalenz einer heterozygoten Mutation/zu Mutationen im SLC16A1-Gen gibt es bisher nicht.

Mutation im SLC16A1-Gen

Pathogene Mutationen in diesem Gen führen zu Laktat-Transporter-Defekten in Muskelzellen und Erythrozyten und damit zu einer metabolischen Myopathie. Die klinische Präsentation besteht gemäss weniger beschriebener Fälle vornehmlich in belastungsabhängigen muskulären Beschwerden, vergleichbar mit denen des Patienten [9, 15]. Rhabdomyolysen und Myoglobinurie sind ebenso beschrieben, wurden bei dem Patienten jedoch bislang nicht beobachtet [9].

Ein Defekt in einem Laktat-Transporter wurde erstmals 1986 von Fishbein postuliert [16]. Mitte der 1990er Jahre konnten die ersten Monocarboxlyat-Transporter sowie deren Lokalisation auf dem Gen SCL16A1 in der menschlichen DNA beschrieben werden [17].

Therapie

Eine kausale Therapie für Patienten mit einem Laktat-Transporter-Defekt bei Deletion im SLC16A1-Gen gibt es bisher noch nicht. Ein leichtes Ausdauer- und Krafttraining innerhalb der Belastungsgrenze ist möglich und auch sinnvoll, zum Beispiel im Rahmen von regelmässigem Aquafitness oder ähnlichem. Dabei spielt die Auftriebskraft des Wassers und die dadurch erleichterten Bewegungen eine wichtige Rolle. Nicht zu vernachlässigen ist der dadurch psychisch günstige Einfluss. Die symptomatische Behandlung mit einer gut angepassten Analgesie, Physiotherapie und/oder regelmässiger medizinischer Massage sollte auch nach Ermessen des Patienten erfolgen.Möglicherweise hilft dem Patient bereits das Wissen, dass es eine konkrete Krankheitsursache gibt und dass er eine bestätigte Diagnose bekommen hat. Auch hier ist die psychologische Komponente der Bedeutung einer gesicherten Diagnose nicht zu unterschätzen.

Konklusion

Verlauf

Der hier vorgestellte Patient musste von der Erstvorstellung bei seinem Hausarzt bis zur Diagnosestellung 16 Jahre warten. Dass sich nun schlussendlich eine ­Diagnose fand, ist sicher dem Fortschritt der medi­zinischen respektive genetischen Forschung zu ver­danken. Dennoch lohnte sich die Beharrlichkeit des Patienten und des Hausarztes bezüglich Abklärung und Ursachenfindung der Muskelbeschwerden. Nach zahlreichen unauffälligen Untersuchungen und diagnostischen Befunden wurde nach fünf Jahren frustraner Abklärung der Verdacht einer somatoformen Schmerzstörung geäussert und als weitere Arbeitsdiagnose geführt. Verschiedene Zentren äusserten sich im Verlauf gegen weitere Myopathie-Abklärungen, weitere genetische Abklärungen ohne klinisch-neurologische wegweisende Zusatzbefunde wurden als nicht sinnvoll bewertet. Aufgrund der persistierenden Beschwerden und des Leidensdrucks des Patienten, der sich zunehmend unverstanden fühlte, erfolgte die Anbindung an eine psychiatrische Klinik. Dort wurde eine chronifizierte Schmerzstörung sowie eine depressive Störung diagnostiziert, wobei keine Besserung unter antidepressiver Medikation eintrat.

Kommentar

Nicht selten werden Patienten, bei denen körperliche Beschwerden ohne ein erkennbares organisches Korrelat vorliegen, in der Praxis als Simulanten etikettiert, oder es werden Verlegenheitsdiagnosen wie etwa «psychovegetative Beschwerden», «Mamma Mia-Syndrom», «Mittelmeer-Syndrom» oder Ähnliches gestellt und die somatischen Beschwerden nicht ernst genommen [18].

Der Begriff des «Mittelmeer-Syndroms» zielt neben der häufig generalisierten Schmerzsymptomatik und teilweise diffusen Symptompräsentation vor allem auf eine vermeintlich erhöhte Somatisierungsneigung bei Personen aus dem Mittelmeerraum ab. Dabei wird impliziert, dass Patienten aus dem Mittelmeerraum in erhöhtem Masse zur Somatisierung psychosozialer Konflikte neigen [19].

Aus der Fachliteratur geht hervor, dass implizite Assoziationen in der klinischen Praxis subtile, aber signifikante Auswirkungen auf die Diagnose, Behandlungsentscheidungen und Patientenbetreuung haben [20].

Bedeutung für den Patienten

Die Thematik der impliziten Einstellung aufgrund der nur schwer fassbaren Symptomatik, fehlender klinischer Korrelate sowie vermutlich auch seiner Herkunft (Kroatien) spielte bei diesem Patienten eine relevante Rolle, was dazu führte, die Diagnose einer somatoformen Schmerzstörung zu stellen und eine lange Zeit aufrecht zu erhalten.

Nach einem sehr langen und aufwendigen Weg zur Diagnose konnte mit dem Nachweis des Laktat-Transporter-Defekts respektive der Mutation im SLC16A1-Gen, den Beschwerden des Patienten zumindest ein Name gegeben werden, die Diagnose war gefunden. Dies hat bei aktuell eingeschränkten und bislang nur symptomatischen Therapiemöglichkeiten zwar keine direkte therapeutische Konsequenz, jedoch ist es für betroffene Patienten mit seltenen Krankheiten generell eine grosse Erleichterung und eminent wichtig, einen Namen für die Krankheit zu haben. Dies nimmt zumindest einen Teil der Ungewissheit, Hoffnungslosigkeit und des Gefühls, nicht verstanden oder gar als Simulant bewertet zu werden.

Der Patient kennt nun die Ursache seiner Beschwerden und ist sicher, dass er sich weder die muskuläre Ermüdbarkeit noch die Schmerzen einbildet. Dies ist eine gute Basis, gesundheitsbewusst und vernünftig mit den Einschränkungen und Erschwernissen zu leben und damit umzugehen.

Neben der persönlichen Erleichterung für den Patienten, dass eine Diagnose gefunden werden konnte und seine Beschwerden so im Rahmen der Krankheitsdiagnose akzeptiert werden, hatte die Diagnosefindung noch weitere Folgen: Bereits im Jahr 2008 erfolgte aufgrund der Muskelschmerzen und -ermüdbarkeit erstmals eine IV- Anmeldung. Diese wurde aufgrund der vorliegenden Berichte abgelehnt, der Patient hatte weder Anspruch auf eine Rente noch auf berufliche Massnahmen. Dies hatte zur Folge, dass der Patient über Jahre hinweg nur zu 50% arbeitete und dauerhaft eine 50%-ige Arbeitsunfähigkeit vom Hausarzt attestiert bekam. Sobald nach genetischer Abklärung die Diagnose bekannt war, erhielt der Patient innert kürzester Zeit eine 50%-ige IV-Rente. Dabei zeigt sich, welch folgenschwere Bedeutung eine Krankheit ohne Diagnose, respektive eine Krankheit mit Diagnose hat.

Take-home message

  • Bei einer metabolischen Myopathie aufgrund eines Laktat-Transporter-Defekts handelt es sich um eine sehr seltene metabolische Myopathie, welche durch eine rasche Ermüdbarkeit der Muskulatur, Muskelkrämpfe und/oder Muskelsteifheit nach Belastung, mögliche Rhabdomyolyse und Myoglobinurie nach muskulärer Beanspruchung sowie eine Erhöhung der Kreatinkinase charakterisiert ist.
  • Die Ursache ist eine pathogene Mutation im SLC16A1-Gen, welche unter anderem zu einem Defekt im Monocarboxlyat-Transporter 1 (MTC1) führt.
  • Trotz der Symptome (Muskelschmerzen, rasche muskuläre Ermüdung) und der erhöhten CK, können neurologische Untersuchungen (EMNG, spezifische Belastungstests, inkl. Muskelbiopsie) komplett unauffällig sein.
  • Nicht alle Patienten inklusive Personen mit Migrationshintergrund leiden bei primär unklaren Beschwerden an einer Fibromyalgie oder einer Schmerzstörung mit psychischen und somatischen Faktoren.
  • Bei seltenen Erkrankungen lohnen sich die Beharrlichkeit des Patienten und des Hausarztes sowie eine forcierte Ursachensuche.

Literatur

1.    Laborlexikon: CK Facharztwissen für alle! 20.01.2021. www.laborlexikon.ch/Lexikon/Infoframe/c/CK.htm. Accessed 31 Jan 2021.

2.    Henningsen P, Hartkamp N, Loew T, Sack M, Scheidt CE, Rudolf G. Somatoforme Störungen: Leitlinien und Quellentexte. Stuttgart: Schattauer; 2002.

3.    DIMDI - ICD-10-WHO Version 2019. 15.09.2020. www.dimdi.de/static/de/klassifikationen/icd/icd-10-who/kode-suche/htmlamtl2019/block-f40-f48.htm. Accessed 10 Apr 2021.

4.    Orphanet: Search a disease. 31.01.2021. www.orpha.net/consor4.01/www/cgi-bin/Disease_Search.php. Accessed 31 Jan 2021.

5.    Halestrap AP, Meredith D. The SLC16 gene family-from monocarboxylate transporters (MCTs) to aromatic amino acid transporters and beyond. Pflugers Arch. 2004;447:619–28. doi:10.1007/s00424-003-1067-2.

6.    Poole RC, Halestrap AP. Transport of lactate and other monocarboxylates across mammalian plasma membranes. Am J Physiol. 1993;264:C761-82. doi:10.1152/ajpcell.1993.264.4.C761.

7.    Transporter Classification Database.

8.    SLC16A1 - Monocarboxylate transporter 1 - Homo sapiens (Human) - SLC16A1 gene & protein. 02.12.2020. www.uniprot.org/uniprot/P53985. Accessed 31 Jan 2021.

9.    Merezhinskaya N, Fishbein WN, Davis JI, Foellmer JW. Mutations in MCT1 cDNA in patients with symptomatic deficiency in lactate transport. Muscle Nerve. 2000;23:90–7. doi:10.1002/(sici)1097-4598(200001)23:1<90::aid-mus12>3.0.co;2-m.

10.    Orphanet. 31.01.2021. www.orpha.net/consor/cgi-bin/index.php. Accessed 31 Jan 2021.

11.    Nguengang Wakap S, Lambert DM, Olry A, Rodwell C, Gueydan C, Lanneau V, et al. Estimating cumulative point prevalence of rare diseases: analysis of the Orphanet database. Eur J Hum Genet. 2020;28:165–73. doi:10.1038/s41431-019-0508-0.

12.    Was ist eine seltene Erkrankung? 31.01.2021. www.eurordis.org/de/content/was-ist-eine-seltene-krankheit. Accessed 31 Jan 2021.

13.    BAG. Nationales Konzept Seltene Krankheiten.

14.    Statistische Daten Allianz Seltener Krankheiten Schweiz. 31.01.2021. www.proraris.ch/de/statistische-daten-22.html. Accessed 31 Jan 2021.

15.    Fishbein WN. Metabolic myopathy due to lactate transporter defect. (Abstract). Neurology. 1989:258.

16.    Fishbein WN. Lactate transporter defect: a new disease of muscle. Science. 1986;234:1254–6. doi:10.1126/science.3775384.

17.    Garcia CK, Li X, Luna J, Francke U. cDNA cloning of the human monocarboxylate transporter 1 and chromosomal localization of the SLC16A1 locus to 1p13.2-p12. Genomics. 1994;23:500–3. doi:10.1006/geno.1994.1532.

18.    Koen E. Krankheitskonzepte und Krankheitsverhalten in der Türkei und bei Migrantinnen in Deutschland: ein Vergleich. Curare. 1986;9:129–36.

19.    Koch E, Pfeiffer WM. Migration und transkulturelle Psychiatrie. Curare. 2000;23:133–9.

20.    FitzGerald C, Hurst S. Implicit bias in healthcare professionals: a systematic review. BMC Med Ethics. 2017;18:19. doi:10.1186/s12910-017-0179-8.

21.    Heuß D. et al. Diagnostik und Differenzialdiagnose bei Myalgien,: S1-Leitlinie, 2020 2020.

Disclosure statement

Die Autoren haben keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.

 

Bildnachweis

© Snowingg | Dreamstime.com

 

 

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Lena Gerber

Medbase St. Gallen Am Vadianplatz, St. Gallen

Caio Victor Sousa

Bouve College of Health Sciences, Northeastern University, Boston, USA

Beat Knechtle

Medbase St. Gallen Am Vadianplatz, St. Gallen; Institut für Hausarztmedizin, Universität Zürich, Zürich

 

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