Die verwehrte Reise in den privaten, imaginären Orient

Plötzlicher Tod einer stillen Heldin

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Édition
2016/14
DOI:
https://doi.org/10.4414/phc-f.2016.01331
Prim Hosp Care (fr). 2016;16(14):269-270

Affiliations
Redaktor Primary and Hospital Care

Publié le 27.07.2016

Ihr plötzlicher Abgang hat die ganze Praxis getroffen wie ein Blitzschlag; wir sind jetzt daran, unsere Unterlassungen aufzuarbeiten. Was helfen alle präventiven Massnahmen, wenn wir sie doch nicht regelmässig und akribisch durchführen? Weit über zehn Jahre hat sie unserer Praxis gedient und uns mit ihren unverkennbaren Geräuschen und Aromen Momente der Ruhe und Entspannung verschafft – und dies mit einer Zurückhaltung und Bescheidenheit, die ihres­gleichen sucht!
Nun hat sie offensichtlich einen Infarkt erlitten. ­Irgendwo in den Leitungen hat sich zu viel Kalk angesetzt. Als ich sie heute um 9:30 Uhr – mein Sensorium meldet meinen Bedarf immer auf die Minute genau – einschalten wollte, meldete ein digitaler Kürzel den Supergau: Unsere Kaffeemaschine war tot! Alle unsere dilettantischen Reanimationsversuche schlugen fehl. Ich sass da wie ein begossener ­Pudel. Wenn ich gelegentlich die Studenten fragte, welcher Apparat wohl in meiner Praxis der wichtigste sei, kamen sie nie drauf. Für mich gab es immer nur eine Antwort: Es ist die Kaffeemaschine, meine Lieben!
Wo bleiben jetzt diese entscheidenden fünf Minuten des Morgens, da man die Software des Cerebrums herunterfährt und eine olfaktorische und gustatorische Reise in seinen privaten, imaginären Orient antritt. Wo einen ein Tässchen brauner Extrakt (vielleicht mit ­einem Riegel Schokolade) mehr tröstet als alles andere auf dieser Welt. Es liegt so viel Symbolkraft in der Kaffeepause. Du gibst den ganzen Morgen deine Quanten weg. Deine Seele hält sich stundenlang bei anderen auf, und du fragst dich manchmal, wo du selbst eigentlich bleibst, wenn ein Patient nach dem anderen sich in deinem Vorgarten breitmacht. Dann steigt dir der Kaffeegeruch in die Nase. Jetzt! … Endlich etwas für dich, du armes, strapaziertes Wesen. Durchatmen und kurz alles baumeln lassen. Der leichte Spannungskopfschmerz verzieht sich, die drohende Hypoglykämie wird durch ein halbes Gipfelchen oder ein Kuchen­stückchen korrigiert. Der Kaffeegenuss ist eindeutig eine pharmakologische Angelegenheit, mitsamt Entzugserscheinungen bei Auslassversuchen. Adeliges Aroma, herrschaft­liches Getränk, verheissungsvolle Brühe.
Vor 35 Jahren sind mein Freund Sepp G. und ich zusammen mit ­Padre René drei Tage in die peruanische Selva hineingewandert, um mit den Leuten zu beten (der Pfarrer) und ihnen die Zähne zu ziehen (wir zwei). Es gab nur Yamswurzeln, Kochbananen und dergleichen. Abgesehen vom unendlich grossen Respekt, den ich vor den Siedlern, ihrer Armut, ihrem kleinen Glück und ihren Risiken für immer haben werde, ist mir in Erinnerung geblieben, dass wir «ganz unten» (man steigt vom Altiplano in die Selva hinunter), also am Wendepunkt unseres Trails, eine Tasse Nescafé® als besonderen Luxus dargeboten bekamen. Die Armen geben ja – das weiss jeder, der einmal mit ihnen lebte – viel mehr als die Reichen. Wir tranken diesen braunen Aufguss, den der verwöhnte Schweizer Kaffeetrinker nur mit Verachtung quittiert, wie drei verirrte Inka­könige. Ich weiss nicht, ob ich je wieder einen so «guten» Kaffee trinken werde ... Die Träumerei hilft nichts, denn soeben hat uns das Schicksal unsere heiss geliebte «Madame Café» in ihrem klassischen, silberschwarzen Deuxpièces entrissen.
Wer trägt die Schuld? Leider muss diesmal unser Lehrling, ein MP’rich (wir bilden nämlich einen jungen Mann aus!), den Kopf hinhalten. Ich hatte ihn schon ­einige Wochen auf dem Radar, da ich immer wieder das «Calc’n Clean» aufleuchten sah. Jetzt hat doch dieser junge Mensch während der Lehrabschlussprüfung die Entkalkung komplett vergessen, und es ist niemandem von uns in den Sinn gekommen, ihm unter die Arme zu greifen. Es war ein Vertrauensbeweis: Pro­phylaxe bei der Kaffeemaschine, ein Akt von höchster Priori­tät! Risikofaktor Mensch also eindeutig identifiziert. Beim kalkhaltigen Ziefner Wasser war die vaskuläre Katastrophe nur eine Frage der Zeit. Thrombolyse mangels Kenntnissen nicht möglich. Über­weisung in die «Coffee-machine-stroke-unit» und Abwarten der Offerte für die Reparatur unabdingbar. Unterdessen fliegen wir wohl eine dieser kleinen Kapselmaschinchen ein, bei denen ich immer an den armen George Clooney denken muss, der sein Geld sauer damit verdient, dass er sexy über den Rand des Kaffeetässchens schaut. Ich nehme mir vor, aus der Not eine Tugend zu machen und die Gelegenheit zu nutzen, den coolen George’presso-Blick zu üben. Aber dies hilft nur bedingt über den grossen Verlust hinweg. Ich freue mich auf jeden Fall auf den Tag, da die stille Heldin – mit neuen Kranzgefässen versehen – aus der Rehabilitationsklinik zurückkommt und mich mit dem leisen Knarren der Kaffeemühle in die Pause ruft.
Dr. med. Edy Riesen
Hauptstrasse 100
CH-4417 Ziefen
edy.riesen[at]hin.ch