Déprescrire en établissement ­médico-social

Forschung
Édition
2022/09
DOI:
https://doi.org/10.4414/phc-f.2022.10521
Prim Hosp Care Med Int Gen. 2022;22(09):273-275

Publié le 07.09.2022

Nous avons tous été confrontés à des patients âgés dont le plan de traitement donne le tournis. Dix, quinze, parfois vingt médicaments, sous diverses formes et à des heures différentes. Cette polypharmacie est monnaie courante chez les seniors: en Suisse, un quart des patients de plus de 65 ans, et un tiers de plus de 85 ans, reçoivent cinq médicaments ou plus chaque jour.

Projekt 6 des Nationalen Forschungsprogramms 74 «Smarter Health Care»: Zusammenarbeit zur ­Reduktion unangemessener Medikation

Einführung

Wir alle sind schon mit älteren Patientinnen und Patienten konfrontiert worden, deren Medikationsplan verwirrend ist – mit zehn, fünfzehn, manchmal zwanzig Medikamenten in verschiedenen Formen und mit unterschiedlichen Einnahme­zeiten. Diese Polypharmazie ist bei älteren Menschen weit verbreitet: In der Schweiz erhält ein Viertel der Patientinnen und Patienten über 65 und ein Drittel über 85 Jahre fünf oder mehr Medikamente pro Tag [1]. Noch ausgeprägter ist dieser Trend bei der Bewohnerschaft von Pflegeheimen, die durchschnittlich neun Behandlungen pro Tag erhalten [2]. Viele dieser Behandlungen sind potenziell problematisch: Im Jahr 2016 erhielten 79% der Bewohnerschaft von Pflege­heimen mindestens eine potenziell inadäquate Medikation (PIM), davon 50% während einer längeren Dauer [2].
Das «Deprescribing», ein Konzept, das in den frühen 2000er Jahren entstanden ist, hat sich im letzten Jahrzehnt zu einem fruchtbaren Feld für die Forschung und ­klinische Praxis weiterentwickelt; dies vor allem in der Geriatrie. Die Reduktion der Polypharmazie und des Einsatzes von PIM durch Deprescribing wirkt sich positiv auf die Mortalität oder das Risiko einer Hospitalisierung aus, und zwar sowohl für ­Bewohnerinnen und Bewohner von ­Pflegeheimen als auch für ambulante Pa­tientinnen und Patienten [3, 4].
Das 2016 im Rahmen des NFP74 gestartete Projekt OLD-NH (Opportunities and Limits to Deprescribing in Nursing Homes) zielte zunächst darauf ab, die Bedenken von Pflegeheimbewohnerinnen und -bewohnern, ihren Angehörigen sowie den dort praktizierenden Gesundheitsfachkräften gegenüber dem Konzept des Deprescribing besser zu verstehen. Basierend auf diesen Erkenntnissen testete das Projekt zwei aufeinanderfolgende Deprescribing-Interventionen, zuerst auf Ebene der Pflegeheime und anschliessend auf Ebene der einzelnen Bewohnerinnen und Bewohner.

Perspektive von Bewohnerschaft, Angehörigen und Fachpersonen

Die Perspektive von Bewohnerschaft, Angehörigen und Fachkräften wurde mit qualitativen Methoden erforscht: Apothekerinnen bzw. Apotheker und Pflegende, die in Pflegeheimen arbeiten, nahmen an zwei Fokusgruppen teil, während die Ärzteschaft und Bewohnerschaft, teilweise in Begleitung ihrer Angehörigen, an Einzelinterviews teilnahm. Diese qualitative Studie fand in Pflegeheimen in den Kantonen Waadt und Freiburg statt, wo die interprofessionelle Zusammenarbeit seit langem eine strukturierte pharmazeutische Expertise beinhaltet; die Ergebnisse sind veröffentlicht worden [5, 6].1
Die drei involvierten Berufsgruppen stellten fest, dass organisatorische Rahmenbedingungen in den Pflegeheimen die Umsetzung von Deprescribing erschwerten: das beschränkte Zeitbudget für die Bewohnerschaft und ihre Angehörigen, der Mangel an geschultem Personal und damit verbunden Hürden beim Einsatz nicht medikamentöser Therapien sowie die grosse Zahl der Akteure in einem Pflegeheim. Diese Aspekte sind aus ihrer Sicht mehrheitlich auf die finanziellen Rahmenbedingungen und insbesondere auf das Fehlen einer spezifischen Vergütung für Tätigkeiten wie z.B. Medikationsüberprüfungen zurückzuführen, unabhängig davon, ob sie vom Arzt, der Apothekerin oder als Team durchgeführt werden.
Fachpersonen nehmen die Bewohnerinnen und Bewohner als zurückhaltend wahr, wenn es um die Überprüfung ihrer Medikation geht; sei es wegen des wahrgenommenen Nutzens der Medikamente wie Schlaftabletten oder Abführmittel, wegen einer physischen oder psychischen Abhängigkeit, wegen der vermeintlichen Verpflichtung gegenüber derjenigen Personen, die die Therapie ursprünglich verschrieben hatten, oder einfach aufgrund einer altersbedingt verminderten Fähigkeit zur Veränderung. Die Angehörigen der Bewohnerinnen und Bewohner wurden als ambivalent wahrgenommen, da sie zwar die Kontrolle des Medikamentenkonsums einforderten, aber gleichzeitig bestimmte Massnahmen zur Reduktion ablehnten, insbesondere wenn sie selber kognitiv beeinträchtigt sind.
Diese Ambivalenz spiegelt sich in den Reaktionen der Bewohnerschaft und ihrer Angehörigen wider. Sie äusserten ein hohes Mass an Medikamentenmüdigkeit und würden gerne so weit wie möglich auf Medikamente verzichten; gleichzeitig äusserten sie ein grosses Vertrauen in die Behandlung und nehmen sie als nützlich wahr. Keine der befragten Personen scheint sich Sorgen über Wechselwirkungen der Medikamente oder Langzeitnebenwirkungen zu machen; vielmehr brachten sie mögliche negative Symptome eher mit dem Alter oder dem Fortschreiten der Krankheit als mit der Medikation in Verbindung.
Ärzteschaft, Pflegende und Apothekerinnen bzw. Apotheker befürchteten, dass der Vorschlag, eine Medikation zu reduzieren oder zu beenden, als «therapeutisches Desinteresse» wahrgenommen werden könnte. Diese Bedenken liessen sich jedoch nicht anhand der Interviews mit der Bewohnerschaft oder ihren Angehörigen erhärten; vielmehr äusserten diese grosses Vertrauen in die Entscheide der Fachpersonen. Sie wünschten sich jedoch mehr Kommunikation mit den Fachpersonen über Änderungen in der Behandlung.
Die Ergebnisse dieser Interviews zeigen, dass die verschiedenen Interessengruppen bereit wären, ein Deprescribing bei Heimbewohnerinnen und -bewohnern durchzuführen, wenn die organisatorischen Barrieren überwunden werden könnten.

Deprescribing in der Praxis

Die Literatur zeigt, dass Deprescribing-Interventionen vom Typ «medication review» den grössten Nutzen bringen [3, 4]. Allerdings sind entsprechende Medikationsüberprüfungen kostspielig, da sie spezialisierte Ressourcen beispielsweise von einer klinischen Pharmazeutin oder einem Geriater viel Zeit erfordern. In den Pflegeheimen der Kantone Waadt und Freiburg sind interprofessionelle Qualitätszirkel seit vielen Jahren aktiv und haben einen signifikanten Nutzen auf den Medikamentenverbrauch gezeigt [7, 8].
Die erste klinische Studie, die im Rahmen von OLD-NH durchgeführt wurde, testete daher, ob eine Intervention vom Typ Qualitätszirkel, die zwischen einer Medikamentenüberprüfung und einer pädagogischen Intervention angesiedelt ist, den Einsatz von PIM reduziert.
In dieser randomisierten Studie, die in 56 waadtländischen und freiburgischen Pflegeheimen durchgeführt wurde, setzten die der Interventionsgruppe zugewiesenen Pflegeheime eine interne Erklärung zum Verschreibungsverzicht um. Diese Erklärung, die in einer Qualitätszirkelsitzung mit Beteiligung von Ärzteschaft und Pflegenden und unter Leitung eines Apothekers formuliert wurde, betraf mehrere, vom Apotheker vorgeschlagene therapeutische Klassen (z.B. Protonenpumpen-Hemmer (PPIs), Antihypertensiva, Harnwege-spasmolytika). Die Erklärung wurde dann gemäss den in der Sitzung festgelegten Modalitäten umgesetzt.
Bei den 26 EMS in der Interventionsgruppe ging die Verwendung einiger PIM signifikant zurück, insbesondere die mit Langzeitrisiken, wie z.B. PPIs [9]. Der Effekt war jedoch nicht signifikant für PIM, die akute Probleme darstellen, wie Benzodiazepine. Die Intervention hatte keine Auswirkung auf die Anzahl der Stürze oder den Einsatz von körperlichen Fixierungen. Statistische Analysen der Mortalität und der Krankenhausaufenthalte waren inkonsistent, was die klinische Interpretation erschwerte. Der gemessene Effekt variierte je nach Einsatz, was schlussfolgern lässt, dass psychogeriatrische Pflegeheime gegebenenfalls anders angegangen werden sollten als geriatrische Pflegeheime. 
Die zweite klinische Studie fand in sieben Pflegeheimen statt, die einen Deprescribing-Konsensus implementiert hatten [10]. Ziel der Studie war es, festzustellen, ob die zusätzliche Durchführung von individuellen Medikamentenüberprüfungen in diesem Setting angemessen ist. Zweiund­sechzig Bewohnerinnen und Bewohner nahmen teil; bei den 30 zufällig der ­Interventionsgruppe zugewiesenen Bewohnerinnen und Bewohnern führte der Apotheker des Pflegeheims eine Medikationsprüfung durch und besprach die Ergebnisse anschliessend mit dem ärztlichen Fachpersonal und Pflegepersonal. Die drei Berufsgruppen entwickelten im Anschluss einen Plan zur Änderung der Behandlung und setzten ihn um. In der Folge wurden die Beteiligten während vier Monaten beobachtet.
Diese zweite Intervention hatte keinen ­signifikanten Effekt auf die Anzahl der von den Beteiligten eingesetzten PIM, ver­ringerte aber signifikant die Höhe der Dosierung (Incidence Rate Ratio 0,76, Konfidenzintervall 0,59–0,98), insbesondere für chronisch gebrauchte PIM (IRR 0,72, CI 0,55–0,94). Die Intervention hatte aber keinen Einfluss auf Outcomes wie Stürze, Krankenhausaufenthalte oder Mortalität.

Fazit

In Alters- und Pflegeheimen, in denen die interprofessionelle Zusammenarbeit gut etabliert ist, konnten beiden Ansätze, die im OLD-NH-Projekt getestet wurden, umgesetzt werden. Obwohl sie keine gemessenen Auswirkungen auf die Mortalität oder die Hospitalisierung hatten, zeigten sie Aus­wirkungen auf die Dosis der verwendeten ­Medikamente sowie auf die Verwendung bestimmter PIM-Klassen. Die geplante Verbreitung im Kanton Waadt, bei der die therapeutischen Klassen und die Methode zur Auswahl der Bewohnerschaft für eine Medikamentenüberprüfung angepasst werden, wird eine bessere Untersuchung ihrer klinischen Auswirkungen ermöglichen, die derzeit noch nicht bewiesen sind.

Interprofessionelle Zusammenarbeit kann den Einsatz von ungeeigneten Medikamenten verringern

Welchen Beitrag leistet dieses Projekt zur Verbesserung der Gesundheitsversorgung?
Dieses Projekt zeigt, dass die interprofessionelle Zusammenarbeit den Einsatz von ungeeigneten Medikamenten reduzieren kann. Es bleibt abzuwarten, ob diese Reduktion zu einer klinische Verbesserung für die Heimbewohnerinnen und -bewohner führt.
Wie wird das getestet?
Die getesteten Interventionen werden ab 2022 in allen Pflegeheimen im Kanton Waadt implementiert; so können wir sehen, ob sich die Reduktion des ­Einsatzes von PIM bestätigt und ob sich daraus ein Nutzen für die Bewohnerinnen und Bewohner, z.B. eine Reduktion der Stürze, und für das Gesundheitssystem im Allgemeinen ergibt. Es ist auch wichtig zu wissen, wie dieser Ansatz auf andere Kantone mit einer anderen Organisation übertragen werden kann. Die parallel durchgeführte Implementierungsstudie, deren Ergebnisse derzeit ausgewertet werden, wird diese Antworten liefern.
Reihe: Projekte des Nationalen Forschungsprogramms NFP 74 «Smarter Health Care»
Der vorliegende Text fasst die wichtigsten Ergebnisse des Projekts Nr. 6 «Optimierung der Medikation in Alters- und Pflegeheimen» von Dr. Anne Niquille, stellvertretende Chefapothekerin Unisanté – Centre universitaire de médecine générale et santé publique Lausanne, zusammen. Dieses Projekt ist eines von insgesamt 34 geförderten Projekten des NFP 74 des Schweizer Nationalfonds. Ziel des NFP 74 ist es, wissenschaftliche Grundlagen für eine gute, nachhaltig gesicherte und «smarte» Gesundheitsversorgung in der Schweiz bereitzustellen.
Informationen: nfp74.ch
Für das Projekt:
Dre Anne Niquille
Pharmacienne cheffe adjointe
Unisanté – Centre universitaire de médecine générale et santé publique
Rue du Bugnon 44
CH-1011 Lausanne
Für das Programm:
Heini Lüthy
Verantwortlicher Medienarbeit des NFP 74
www.nfp74.ch
Tössfeldstrasse 23
CH-8400 Winterthur
hl[at]hluethy.ch
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