Nachwuchs für die Grund­versorgung im Kanton Bern

Lehre
Édition
2022/09
DOI:
https://doi.org/10.4414/phc-d.2022.10517
Prim Hosp Care Allg Inn Med. 2022;22(09):281-283

Publié le 07.09.2022

Die Praxisassistenz ist ein entscheidender Schritt in der Weiterbildung zur Fachärztin oder zum Facharzt in der Grundversorgerpraxis. Es ist die einzige Möglichkeit, im zukünftigen Arbeitsumfeld tätig zu sein, entsprechende Kompetenzen zu erlernen und Einsicht in Praxisalltag und -führung zu gewinnen – dies für Hausärztinnen und Hausärzte wie auch für Praxispädiaterinnen und Praxispädiater. 

Zweite Langzeitevaluation des Programms« Kantonale Praxisassistenz» Bern 2008–2020
Um in der Weiterbildung Praxisassistenzen zu fördern, existiert im Kanton Bern seit 2008 das Programm «Kantonale Praxisassistenz». Was als Modellversuch begann, wurde in ein festes Programm überführt, welches nun alle vier Jahre vom Kanton Bern finanziert wird. Seit 2019 wurde das Programm sogar von 21 auf 35 Praxisassistenzen und damit zum grössten Programm der Schweiz ausgebaut. Die Finanzierung deckt einen Teil der Lohnkosten (den anderen Teil übernehmen die Lehrpraktizierenden) und die sogenannte ­Koordinationsstelle. Letztere erlaubt es, die Gesuche rasch und unkompliziert zu behandeln, auf eine aus­gewogene geographische Verteilung zu achten und ein Mentoring durch Fachärztinnen und -ärzte für Allgemeine Innere Medizin durchzuführen.
Um die Auswirkungen der Praxisassistenz zu beschreiben, führt das BIHAM Langzeitevaluationen durch, zuletzt im Jahr 2018. Nun wurden zum ersten Mal alle ehemaligen Absolventinnen und Absolventen vom Start 2008 bis 2020 befragt. Von den 268 Ehemaligen, nahmen 94% an der Befragung teil.
Das Programm «Kantonale Praxisassistenz» ist ein Erfolg: 81% der ehemaligen Teilnehmenden sind heute in der Praxis tätig oder auf dem Weg dorthin. Bei diesem Entscheid war für 78% die Praxisassistenz wichtig und für 63% spielte der Einfluss der Lehrpraktikerin oder des Lehrpraktikers eine wichtige Rolle. Eine Praxisassistenz ist daher für zukünftige Hausärztinnen und Hausärzte wie auch Praxispädiaterinnen und Praxis­pädiater unumgänglich, um den Entscheid in die Praxis zu gehen, fällen zu können und eine Einsicht in das zukünftige Arbeitsfeld ausserhalb des Spitals zu erhalten. Zusätzliche 11% sind noch unentschieden und daher potenziell noch für die Praxis zu gewinnen.
Die ehemaligen Teilnehmenden sind mit 67% überwiegend weiblich. Der Anteil der Frauen erhöht sich sogar bei den bereits niedergelassenen Kolleginnen und Kollegen auf 69%. Bei den 50%, die bereits niedergelassen sind, arbeiten die meisten in einem Teilzeitpensum. Im Mittel arbeiten Ärztinnen in der Praxis in einem Pensum von 62%, ihre männlichen Kollegen im Mittel 75%. Nur 6% aller ehemaligen Teilnehmenden arbeiten 100%. Dies widerspiegelt wohl auch den Trend in der Gesellschaft zur Gleichstellung der Geschlechter sowohl im Berufs- als auch im Familienleben.
Dieser Trend setzt sich fort in der Praxisform. Die Praxisassistenzen fanden zu gut einem Drittel in Einzelpraxen statt. Eingestiegen sind jedoch nur 24% in Einzelpraxen oder kleinen Gruppenpraxen mit weniger als drei Ärztinnen und Ärzten. 76% arbeiten in Gruppenpraxen mit drei oder mehr Ärztinnen und Ärzten, trotzdem sind 41% (Mit-)Inhaber der Praxis, wo sie arbeiten. Die Einzelpraxis scheint für die neue Generation weniger attraktiv.
Aus gesundheitspolitischer Sicht spielt der Durchführungsort der Praxisassistenz eine wichtige Rolle, denn fast jede und jeder Zweite der ehemaligen Praxisassistenzärztinnen und -ärzte stieg am Ort der Praxisassistenz in die Praxis ein. Regionen mit einem Mangel in der Grundversorgung können durch eine lokale Praxis­assistenz daher profitieren. Für Hausärztinnen und Hausärzte sowie Praxispädiaterinnen und -pädiater ist eine Praxisassistenz eine Möglichkeit, junge Nachfolgende zu motivieren, in die Praxis einzusteigen. Im Rahmen einer Praxisassistenz ist es nicht nur möglich spezifische Inhalte für die Tätigkeit in der Grundversorgung zu vermitteln, sondern auch auf­zuzeigen, wie eine Praxis funktioniert, wie man den Beruf attraktiv gestalten kann und welche Zukunftsaussichten man hat. Nicht zuletzt kann auch die Begeisterung für eine Region in einer Praxisassistenz überspringen. Es besteht die Möglichkeit, dass die junge Ärzteschaft von der lokalen Vernetzung profitiert und dies den Einstieg vor Ort attraktiver macht. Die Lehrpraktizierenden in Regionen mit einem Grundversorgermangel sind wichtig und können mit der Durchführung von Praxisassistenzen gegen den Mangel vorgehen. Um die Karriere in der Grundversorgerpraxis attraktiv zu machen, ist künftig bei Trends wie Gruppenpraxis oder Teilzeitarbeit Offenheit für neue Modelle in der Praxis gefragt.
In der Grafik des Kantons nach Verwaltungskreisen zeigt sich, dass Niederlassungen gemessen an den ­Einwohnerzahlen vermehrt in ländlichen Regionen erfolgen und sich nicht auf den Verwaltungskreis Bern Mittelland konzentrieren: z.B. im Verwaltungskreis Frutigen-Niedersimmental oder auch Emmental gibt es mehr Niederlassungen pro 100 000 Einwohner. Es ist daher wichtig, dass in ländlichen Regionen eine gute medizinische Versorgung gewährleistet wird. Gleichzeitig braucht es auch eine gute Grundversorgung in Ballungsgebieten, damit zum Beispiel unnötige Notfall- oder Spezialisten-Besuche vermieden werden können.
Gemäss unseren Daten zeichnet sich ein langsamer Generationenwechsel ab. 71% der Teilnehmenden haben sich in den letzten fünf Jahren niedergelassen. Weitere 11 (4%) der Teilnehmenden planen bis 2023 ihre Niederlassung in der Grundversorgerpraxis. Durch die höhere Anzahl Stellen im kantonalen Programm ist zu erwarten, dass diese Niederlassungswelle weiter anhält, solange das Programm weiter bestehen bleibt.
Die Grundversorgenden haben bei der Betreuung nicht hospitalisierter Patientinnen und Patienten und bei der Impfkampagne einen wichtigen Beitrag zur Bewältigung der Pandemie geleistet. Auch nach der Pandemie ist es wichtig, die Grundversorgung zu stärken, denn nur eine gesunde Bevölkerung mit gutem Zugang zu medizinischer Versorgung kann einer Pandemie standhalten. Um dies zu gewährleisten, braucht es auch genügend Nachwuchs in der Grundversorgung.
Der Kanton Bern stemmt das schweizweit grösste Praxisassistenzprogramm und dieses ist erfolgreich bei der Rekrutierung des Nachwuchses für die Grundversorgung, auch auf dem Land. Mit einer Erfolgsquote von 81% zeigt sich hier ein Vorteil im Vergleich zu entsprechenden Programmen in anderen Kantonen [1]. Diesen Erfolg führen wir neben den positiven Erlebnissen in der Praxisassistenz unter der Betreuung der Lehrpraktizierenden, besonders auf die Arbeit der ­Koordinationsstelle am Berner Institut für Hausarzt­medizin zurück: So hat unser Team alleine 2020 knapp 180 Mentoring-Gespräche durchgeführt. Das Interesse am Programm ist gross. Die Anzahl Mentoring-­Gespräche hat in den letzten Jahren substantiell zu­genommen. Auch nach Erhöhung der Anzahl mitfinanzierter Stellen müssen jedes Jahr Bewerbungen abgewiesen werden, weil das Budget ausgeschöpft ist.
Das Rezept gegen den Mangel in der Grundversorgung im Kanton Bern [2] und in der Schweiz [3] heisst Praxis­assistenz: Dank einfachem Zugang, einer Koordinationsstelle und einem Mentoring-Programm lassen sich >80% in der Grundversorgung, in fast 50% am Ort der Praxisassistenz, nieder. Seit im Tessin auch ein Praxis­assistenzprogramm entstand [4], bietet die Schweiz in allen Regionen ein Programm, um den Mangel in der Grundversorgung zu bekämpfen.
Abbildung 1:
Praxisassistenzprogramm Kanton Bern 2008–2020 in Zahlen.
Für den hohen Rücklauf möchten wir dem Team der Nachwuchsförderung Hausarztmedizin am Berner Institut für Hausarztmedizin für die Mithilfe bei der Kontaktaufnahme mit allen Teilnehmenden danken. Hier gilt besonderer Dank Frau Liselotte Aeschimann.
Die Autoren haben keine finanziellen oder persönlichen Verbindungen
im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert.
Dr. med. Zsofia Rozsnyai
Teamleiterin Nachwuchs­förderung Hausarztmedizin
Berner Institut für ­Hausarztmedizin (BIHAM),
Universität Bern
Mittelstrasse 43
CH-3012 Bern
zsofia.rozsnyai[at]biham.unibe.ch
1. . Optional part-time and longer GP training modules in GP practices associated with more trainees becoming GPs - a cohort study in Switzerland. BMC Fam Pract. 2018 Jan;19(1):5. http://dx.doi.org/10.1186/s12875-017-0706-1 PubMed
2.  Primary Care Physician Workforce 2020 to 2025 - a cross-sectional study for the Canton of Bern. Swiss Med Wkly. 2021 Sep;151:w30024. PubMed
3 Resultate der 4. Workforce Studie. Prim Hosp Care. 2020;20(11):325–8. http://dx.doi.org/ http://dx.doi.org/10.4414/phc- d.2020.10311 . 2297-7163 http://dx.doi.org/10.4414/phc-d.2020.10311